Die Todesliste. Irene Dorfner

Die Todesliste - Irene Dorfner


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werden. Natürlich war John klar, dass sein Bruder kein eiskalter Killer war, aber das war ihm egal. An wen hätte er sich sonst wenden sollen? Er war Wissenschaftler und hatte von Verbrechen an sich keine Ahnung. Darüber, wie Carter das Problem lösen würde, machte er sich keine Gedanken. Er wollte nur Rache – und die mit aller Konsequenz.

      John war nicht überrascht darüber, dass sich Carter sofort bereiterklärte, den Job, oder besser gesagt, die Jobs, zu übernehmen. Er ließ seinem Bruder durch den Trottel von Anwalt, der ständig in Geldnot zu sein schien, eine größere Summe zukommen. Aber viel wichtiger war die Liste der Namen, an denen sich Carter in seinem Namen rächen sollte. Die Anweisung an seinen Bruder war klar und deutlich: Keiner der Schuldigen durfte am Leben bleiben!

      Carter Waves war tatsächlich kein Mörder, trotzdem fühlte er sich dazu verpflichtet, Johns Bitte nachzukommen und die Schuldigen zu töten. Der Plan schien ganz einfach: Einen Namen nach dem anderen auf seiner Liste musste er für immer auslöschen. Es standen zwei Briten und drei Deutsche auf dieser Todesliste. Die Briten wollte er sich für später aufheben. Die beiden Männer, der britische Polizist Kevin Sparks und der pensionierte, ehemalige Geheimdienstchef Oliver Barnes, standen auch nach all den Wochen immer noch im Fokus des öffentlichen Interesses. Es gab kaum einen Tag, an dem man deren Gesichter nicht im Fernsehen oder in einer der vielen Zeitungen erblickte. An die beiden heranzukommen war in der jetzigen Situation viel zu gefährlich, wenn nicht sogar unmöglich. Sobald sich das Interesse gelegt hatte, konnte er sich die beiden vornehmen. Die Deutschen waren zuerst dran, auf die musste er sich jetzt konzentrieren. Das waren Leo Schwartz und Hans Hiebler, beides Polizisten im bayerischen Mühldorf am Inn, wo immer das auch sein mochte. Neben den beiden musste er sich um eine Christine Künstle kümmern, eine Rentnerin aus Ulm. Diesen Ort hatte er bereits irgendwann mal gehört, wusste aber auch nicht, wo sich der befand, was aber momentan nicht wichtig war. Die beiden Polizisten waren der schwierigere Part, die waren zuerst dran. Danach war die Alte an der Reihe, das würde ein Kinderspiel werden. Dass sie es war, die ihren Bruder schwer verletzt hatte, wusste Carter nicht, das wusste niemand - außer John Waves. Christine hatte gebeten, ihren Namen aus der ganzen Sache herauszuhalten, was Dank der Hilfe von Oliver Barnes hervorragend geklappt hatte. Die Vierundsechzigjährige pensionierte Pathologin hasste es, in der Öffentlichkeit zu stehen, das überließ sie lieber anderen. Auch wenn ihr Name nirgends auftauchte - John Waves würde ihn niemals vergessen!

      Carter Waves bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge, die aus dem Flugzeug drängte. Allen ging es nicht schnell genug, auch ihm nicht. Dass er äußerst rüpelhaft vorging, ärgerte einige, aber das war Waves egal. Er hatte kein Gepäck dabei, ihm reichte eine Sporttasche für das Nötigste, denn er hatte nicht vor, lange in Deutschland zu bleiben. Der Anwalt Bloomberg hatte ihm Informationen über das fremde Land zukommen lassen, die ihn allesamt nicht interessierten. Nur der Hinweis auf den Rechtsverkehr war für ihn interessant. Er war ein guter Fahrer und die Umstellung würde ihm keine großen Probleme bereiten. Da Carter Waves noch niemals zuvor Großbritannien verlassen hatte, wusste er nichts von anderen Ländern und den dort herrschenden Lebensumständen, die ihm völlig gleichgültig waren. Für ihn gab es nur das Leben in seiner Heimat, andere Länder waren ihm egal.

      Mit einem Leihwagen fuhr Carter zuerst in die Münchner Innenstadt. Dort wartete ein Kontaktmann auf ihn, von dem er eine Waffe kaufen konnte. Dieser Kontakt wurde ihm von Bloomberg vermittelt, der sich offenbar in diesem Metier gut auszukennen schien. Während der Fahrt in die Münchner Innenstadt dachte Waves über den Anwalt seines Bruders nach. Der dicke, schwammige Kerl hatte etwas an sich, was er nicht mochte. Vor allem die stechenden, kleinen Augen und der Tick, sich immer wieder durchs pomadige Haar zu streifen, waren ihm zuwider. Warum hatte sein Bruder gerade ihn zum Anwalt gewählt?

      Der Rechtsverkehr war für Waves tatsächlich kein Problem. Nur ein einziges Mal war er versucht, die linke Spur zu nehmen, erkannte seinen Fehler aber noch rechtzeitig. Warum wollte sich der Kontakt mit ihm mitten in der Innenstadt treffen? War das nicht viel zu gefährlich? Der Treffpunkt in der Nähe vom Karlstor am Stachus war ungewöhnlich, aber daran konnte Carter nichts ändern, der Unbekannte bestand darauf.

      Die Verhandlungen mit dem zwielichtigen Mann in der belebten Fußgängerzone waren schwer, denn sie hatten keine gemeinsame Sprache. Trotzdem waren sie sich irgendwann handelseinig und Carter kaufte gleich beide angebotenen Pistolen mit der dazugehörigen Munition. Dass der Typ ihn mit dem Preis über den Tisch zog, war ihm klar. Aber was hätte er machen sollen? Er brauchte die Waffen dringend und war froh, dass er jetzt bewaffnet war. Am liebsten hätte er beide erst ausprobiert, aber das war nicht möglich. Das Geschäft war getätigt, als er das Geld übergab. Der Ort war ihm suspekt, denn inmitten der vielen Menschen war ein Waffenkauf zwar keine schlechte Idee, trotzdem war die Gefahr, entdeckt zu werden, sehr groß. Aber alles war glattgelaufen. Niemand achtete auf die beiden, alle schienen mit sich selbst beschäftigt zu sein. Carter gefiel es nicht, dass der Mann, der schnell in der Menschenmenge untergetaucht war, sein Gesicht kannte. Außerdem wusste er nicht, wo die beiden Waffen herstammten und wo sie bereits zum Einsatz gekommen waren. Das musste er hinnehmen, daran konnte er nichts mehr ändern.

      Er wühlte sich durch die Menschenmengen und bahnte sich auch hier den Weg durch rücksichtslose, meist schlecht gelaunte Passanten, zu denen er auch gehörte. Dabei achtete er weder auf das schöne Karlstor, noch auf den berühmten Stachus, schließlich war er kein Tourist und die Sehenswürdigkeiten waren ihm scheißegal. Endlich war er wieder an seinem Wagen, an dem ein Strafzettel hing. Der interessierte ihn herzlich wenig. Er zerknüllte ihn und warf ihn achtlos weg. Der dichte Verkehr machte ihm nichts aus, da war er mit dem Londoner Verkehr andere Maßstäbe gewöhnt. Der Waffenkauf ging ihm lange nicht mehr aus dem Kopf. Nur ein einziger hätte das sehen und sofort die Polizei rufen können. Was für ein irres Risiko!

      Erst, als er seinen Wagen Richtung Mühldorf am Inn lenkte und die Umgebung immer ländlicher wurde, beruhigte er sich langsam. Der Deal war abgehakt und er durfte jetzt keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Jetzt galt es, sich auf die nächste Aufgabe zu konzentrieren. Leo Schwartz und Hans Hiebler waren die ersten auf seiner Liste.

      Die beiden Polizisten hatten nicht mehr lange zu leben.

      2.

      „Sie beide fahren nach Neuötting in das Fitnessstudio. Und Sie, Grössert, kommen in mein Büro“, bestimmte der Leiter der Mühldorfer Kriminalpolizei Rudolf Krohmer. Seine Laune war heute nicht die beste, denn das, was er bezüglich seines Mitarbeiters Werner Grössert über Umwege erfahren musste, ärgerte ihn maßlos.

      Leo Schwartz und die Kollegin und Vorgesetzte Tatjana Struck standen auf. Es gab eine anonyme Anzeige gegen das Fitnessstudio wegen illegalem Handel mit Anabolika und niemanden wirklich schockierte.

      „Wann warst du zum letzten Mal in einem Fitnessstudio?“, wollte Leo von Tatjana wissen. Die beiden waren nicht oft gemeinsam unterwegs. Normalerweise arbeitete Leo sonst mit Hans Hiebler zusammen, der aber war mit seiner Freundin im Urlaub auf Mauritius und plantschte vermutlich gerade im indischen Ozean.

      „Ich gehe doch in kein Fitnessstudio! Gott bewahre! Machst du dich lustig über mich?“

      „Natürlich nicht! Ich habe schon seit Jahren keinen Sport mehr gemacht, was sich langsam rächt. Je älter ich werde, desto mehr schmerzen meine alten Knochen.“ Leo lachte, obwohl ihn das Thema schon länger beschäftigte. Ja, er hatte einige Kilos zugenommen, was ihn nicht weiter störte. Was ihm Sorgen bereitete war, dass er jede Bewegung spürte. Manchmal hatte er Schmerzen an Stellen, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie hatte. Ob er mit seinen vierundfünfzig Jahren nun auch langsam zum alten Eisen gehörte?

      Tatjana machte sich darüber keine Gedanken. Sie war noch nie die sportlichste gewesen und hatte schon immer Übergewicht – beides störte sie nicht. Viel wichtiger war für sie die Gesundheit, mit der sie seit einer Schussverletzung sowohl physisch, als auch psychisch immer noch zu kämpfen hatte. Es wurde zwar leichter, trotzdem wurde sie fast täglich daran erinnert und das störte sie gewaltig.

      Tatjana zündete sich eine Zigarette an, was Leo gegen den Strich ging. Er hielt ihr einen Vortrag über die schädlichen Auswirkungen des Rauchens und Passivrauchens, obwohl er früher


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