2117. Andreas Loos Hermann
Und Clara hatte tatsächlich zugesagt. Erst danach war ihr gedämmert, auf was sie sich da eingelassen hatte. Doch es war zu spät, sie wollte ihr einmal gegebenes Versprechen an Michele nicht brechen, denn sie war neugierig, wie Michele in der Realität sein würde.
Aber ihr Vater würde ihr den Trip in die City niemals erlauben, „viel zu riskant“, würde er sagen, das wusste Clara. So beichtete sie Peter, dem Chauffeur der Familie, dass sie beabsichtige, morgen die Schule zu schwänzen, um sich mit ihrer amerikanischen Freundin einen schönen Tag in der City zu machen, er müsse sie nur hinbringen, so dass Vater nichts davon erfährt.
Doch Peter konnte sie nicht unterstützen, da er Montag anderwärtig gebraucht würde und er sie nicht heimlich in die City und wieder zurückbringen könne. Sie solle sich den Trip aus dem Kopf schlagen, viel zu gefährlich, waren seine Kommentare zu ihrer Idee.
„Dann nehme ich eben die U-Bahn“, hatte sie trotzig behauptet. Peter war Farbiger, aber nach dieser Meldung sah er sehr blass aus. „Das melde ich Ihrem Vater!“, stieß er hervor. „Dann sorge ich dafür, dass du entlassen wirst, denn glaubst du, ich weiß nicht, dass du heimlich Botendienste für andere Leute erledigst. Wenn das bekannt wird, dann fliegst du hier raus.“
Sie einigten sich auf einen Kompromiss. Er würde sie in der Früh zur U-Bahn bringen und in der Schule melden, dass sie krank sei. Und sie solle ja gut auf sich aufpassen, schärfte er ihr ein. Wohl war ihm nicht dabei, aber gegen ihre Argumente kam er nicht an, und sein Job war ihm wichtig, denn viele solche gutbezahlten Jobs gab es ja nicht mehr, seit der letzte Ölkrieg zu Ende gegangen war.
Nun sitzt Clara in der U-Bahn. Es ist die Piccadilly Line und sie ist ganz aufgeregt, sie ist noch nie in ihrem Leben mit der U-Bahn gefahren. Sie soll Hyde Park Corner aussteigen, da kann nichts passieren, hatte ihr der Chauffeur eingeschärft.
Der U-Bahnwagen war uralt, aber sauber. Er ratterte und schepperte über einen anscheinend ebenso alten Gleiskörper mit einer für Clara viel zu hohen Geschwindigkeit. Verwundert bemerkt sie, dass der Zug an den meisten Stationen nicht hält. Die Stationen, durch die sie fuhren, sahen irgendwie düster und verwahrlost aus. Die Stationen, wo der Zug hielt, machten einen sauberen und gepflegten Eindruck.
Der vergilbte Plan an der Wagendecke hatte aber alle Stationen verzeichnet und nicht nur die, wo sie tatsächlich stehen blieben. So war Clara bald verwirrt, da sie die Stationen nicht hatte zählen können, die sie schon passiert hatten. Ihr war nicht mehr klar, wo sie sich gerade befand. Wann würde Hyde Park Corner kommen? Sie musste jemanden fragen. Aber wen, der Wagen war sehr spärlich besetzt. Nur einige ältere, ärmlich gekleidete Leute saßen darin.
Clara fühlt sich ein wenig ängstlich. Das Gefühl der Angst kennt sie nicht. Sie will ihr HYCO checken, das hat auf alles eine Antwort, das wird ihr gleich sagen, wo sie ist. Aber das Gerät zeigt nur, „Keine Verbindung möglich“. Das kennt Clara gar nicht, eine leichte Panik beginnt in ihr hochzusteigen. Ein Funknetz gibt es doch überall, das weiß sie ganz genau, wo ist sie hier hineingeraten, und wie kommt sie hier wieder heraus.
Sie gibt sich einen Ruck, unterdrückt die Panik, steht auf und spricht die ältere, in einen zerschlissenen braunen Mantel gehüllte Frau an, die drei Reihen vor ihr sitzt.
Diese mustert ausgiebig ihre blitzsaubere Jean und ihre weiße Bluse, die sie unter ihrem Blazer trägt und meint schließlich mitleidig, „aber Kindchen, wenn so eine, wie du U-Bahn fährt, dann sollte sie auch wissen, dass Hyde Park Corner schon seit dem Brand vor fünf Jahren gesperrt ist, und du in Green Park aussteigen musst, wenn du zum Hyde Park Corner willst“.
Der Zug stand gerade in einer Station und setzt sich eben in Bewegung, als Clara aus dem Fenster blickt und das Schild „Green Park“ erkennen kann. Nun rattert er bereits wieder durch den dunklen Tunnel. Sie war über Hyde Park Corner hinausgefahren. Was soll sie jetzt tun? Die ältere Frau will von ihr wissen, wieso sie überhaupt in der U-Bahn sitzt. Clara druckst herum und verschweigt die Wahrheit. Die Frau erzählt, dass sie Putzfrau sei, und nun von der Arbeit nach Hause fährt. Ihr Job in der City besteht aus Nachtarbeit mit geringem Einkommen. Sie gibt ihr den einfachen Rat, bis zur Endstation im Zug zu bleiben, und dann bis Green Park zurückzufahren. Clara widerspricht heftig, denn das würde mehr als eine Stunde dauern, da es noch sechzehn Stationen bis zum Endbahnhof wären.
Doch die Frau warnt sie, sie kämen jetzt durch die dunkle Zone, da könne man nicht aussteigen, sie solle bei ihr bleiben, sie fahre auch bis zum Endbahnhof.
Das kam Clara nun doch sehr verdächtig vor. Wer war die Frau wirklich und was wollte sie von ihr? Und was ist eine „dunkle Zone“?
Aber der Zug hielt nirgends und ratterte durch alle Stationen durch. Doch nach einiger Zeit wurde der Zug plötzlich langsamer, rollte in eine Station ein und hielt. Clara springt von ihrem Sitz hoch und rennt zur Tür. Die alte Frau rief ihr noch nach, „Bleib, da, du bist verloren da draußen.“ Die Tür aber ließ sich leicht öffnen und Clara macht den Schritt auf den Bahnsteig. Endlich aus der U-Bahn heraußen. Wer weiß, wo der Zug wirklich hinfährt und warum die Frau sie hatte überreden wollen, bis zur Endstation mitzufahren.
Die Tür des Wagons glitt hinter ihr zu und Clara hörte die Frau drinnen noch rufen, „Komm´ zurück, das ist keine reguläre Station.“ Clara sah sich um und sah, dass die Station völlig verfallen war. Ein Schild mit der Aufschrift Highbury & Islington hing an nur mehr einer Schraube schräg von der Wand herunter. Das Wasser tropfte von der Decke. Clara begann zu begreifen und rannte auf die Tür zu. Doch diese war bereits verriegelt und der Zug setzte sich eben wieder in Bewegung. Sie trommelte gegen die Tür, konnte sie aber nicht mehr öffnen. Der Zug nahm Fahrt auf und wurde immer schneller. Bald war er im Tunnel verschwunden und Clara konnte nur mehr sehen, wie die rote Heckleuchte immer schwächer wurde und schließlich hinter einer Tunnelbiegung ganz verschwand. Das erste Mal in ihrem Leben bekam sie wirklich Angst, denn als sie die Station genauer ansah, erkannte sie, dass hier normalerweise keine Züge hielten.
Der Bahnsteig war von Unrat und Abfällen übersäht. Wenige vergilbte Lampen gaben ein gespenstisches Dämmerlicht und es schien, wie wenn die am Boden liegenden Pappkartons als Schlafplätze von Menschen genützt würden. Clara schauerte.
Zur selben Zeit hatte Peter, der Chauffeur, Gewissensbisse und rief über sein HYCO Clara an. Seine Gewissensbisse steigerten sich, als sie nicht antwortete. Peter wusste, dass in der Londoner City ein guter Netzempfang war. Was er nicht wusste, dass Clara in East End festsaß, wo es überhaupt kein Mobilnetz mehr gab.
Peter, der nicht wusste, was er tun sollte, beschloss zur vereinbarten Zeit beim U-Bahnhof auf Clara zu warten und zu beten, dass er sie lebendig wiedersehen würde.
Kapitel 5
Am selben Montagmorgen fuhr Professor Reisinger seinen Elektro- BMW durch den Morgenverkehr von Köln. Beim Uni Institut wusste er, dass er nicht in die Tiefgarage konnte, weil sein persönlicher Chip eine Störung hatte. Das Piepsen der Karte hatte zwar aufgehört, aber die Karte zeigte eindeutig eine Fehlfunktion an. So parkte er direkt bei der Einfahrt und versuchte, sie möglichst nicht zu verstellen, damit die nachfolgenden Wagen einfahren konnten. Er löste damit eine Schimpforgie des hinter ihm Fahrenden aus, da sich dieser mit seinem Wagen, einem dicken Mercedes Geländewagen, mit Millimeterabstand an seinem E-BMW vorbeizwängen musste.
Der Security Mann deutete Reisinger auch gleich durch sein Kabinenfenster, in die Security Kabine hereinzukommen.
Reisinger wollte eben seine Lage erklären, als ihn der Security Mann mit den Worten, „Schon wieder einer, der seinen Chip ruiniert hat“, unterbrach. „Woher wissen Sie, .. ?“, war Reisinger verblüfft. „Sie sind heute nicht der erste, sondern schon der Dritte vom Institut, dem das passiert ist und alle waren sie gestern am Sonntag hier herinnen. Sie sollten nicht so viel arbeiten“, merkte der Security Mann mit einem süffisanten Grinsen an.
„Ich wüsste nicht, was sie das angeht,“ erwiderte Reisinger etwas gereizt, „ich brauche eine manuelle Identifikation von Ihnen und einen OP Termin in der Klinik für einen neuen Chip, und das Ganze bitte dringend, ich habe nicht den ganzen