Ströme meines Ozeans. Ole R. Börgdahl

Ströme meines Ozeans - Ole R. Börgdahl


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      Paris, 15. März 1893

      Mehr als einen Monat war Ruhe und Victor schien auch wieder Freude an seiner Arbeit gefunden zu haben. Dann ist aber doch wieder etwas vorgefallen. Victor hat mir sofort davon erzählt, aber er kann nichts unternehmen, es ist eine Sache zwischen ihm und diesem Leverne. Gestern wurde Victor zu Leverne gerufen. Leverne hielt einen Brief in den Händen, einen alten Brief. Die Geschichte ist ganz einfach erzählt. Victor kam nach dem Tod seiner Mutter als Säugling in die Familie einer Freundin seiner Mutter. Sein Vater hat ihn nämlich erst zu sich geholt, als Victor schon fünf war. Die Freundin seiner Mutter war Jüdin, verheiratet mit einem Rabbiner. Victor hat es dort sehr gut gehabt, er kann sich sogar noch an die Leute erinnern, sie hatten selbst zwei oder drei Kinder. Nach dem zweiten Schicksalsschlag, als Victors Vater im Krieg gefallen ist, haben die Behörden ihn zunächst in ein Waisenhaus gegeben. Es war aber nur für ein paar Wochen, dann hat ihn ein Freund seines Vaters, Monsieur Gransagne, zu sich genommen und ihn später auf ein Internat in Paris geschickt. Victor hat mir schon oft von Monsieur Gransagne erzählt, dem einzigen Menschen, den Victor nach dem Tod seines Vaters noch hatte. Aber da gab es ja noch die Freundin seiner Mutter, und während Victor für kurze Zeit im Waisenhaus war, hat sich deren Ehemann gemeldet. Der Rabbiner hat an das Waisenhaus geschrieben und angeboten, Victor wieder zu sich in die Familie zu nehmen. Soweit ist es dann aber nicht gekommen, zuvor wurde Victor nämlich schon von Monsieur Gransagne abgeholt. Der Brief existiert allerdings bis heute und das hat Victor gestern erfahren, und zwar von keinem anderen als diesem Leverne, der irgendwie an den Brief gekommen ist und ihn Victor gestern präsentiert hat. Leverne wollte von Victor wissen, ob er Jude sei und wenn ja, warum er sich als Christ ausgibt. Genau das soll der Wortlaut gewesen sein. Victor weiß nichts davon, dass seine Mutter Jüdin war. Victor versteht es nicht, er versteht auch nicht, was dies heute für eine Rolle spielt. Ich habe Victor geraten, sich zu beschweren. Es geht diesen Leverne doch überhaupt nichts an. Was macht es aus, ob Victor Jude ist oder nicht. Außerdem ist diese Frage schon längst beantwortet, denn Victor wurde als Christ getauft, wurde als Christ erzogen und hat mich in einer christlichen Kirche vor einem christlichen Pfarrer geheiratet.

      Paris, 22. März 1893

      Leverne hat seit einer Woche nichts mehr zu dem Thema gesagt. Victor war die ersten Tage, nachdem ihm der Brief und die Anschuldigungen vorgetragen wurden recht angespannt. Wir haben eben nicht verstanden, was das alles sollte. Niemand außer diesem Leverne macht Victor deswegen Vorwürfe, es ist nichts Unrechtes, es ist gar nichts, es sind nur Vermutungen und böse Behauptungen. Und wenn Victor Jude ist und wenn wir alle Juden sind, was macht es. Vielleicht wollte dieser Leverne Victor auch nur einschüchtern. Ich habe Victor gesagt, er solle es das nächste Mal melden, falls Leverne wieder anfängt. Victor schüttelt immer nur den Kopf, er kann Leverne nicht melden, nicht wegen dieser Sache.

      Paris, 12. April 1893

      Gestern waren Pierre und Jacques auf der Durchreise in Paris. Sie waren zum Abendessen bei uns und haben dann den Nachtzug nach Le Havre genommen. In einer Woche geht ihr Schiff von Southampton Richtung New York. Ich habe mich gewundert, dass sie so wenig Gepäck dabeihatten. Von Mutter weiß ich, dass sie noch viel weniger Geld haben. An Onkel Joseph liegt es nicht, aber Pierre und Jacques wollten das Geld ihres Vaters nicht mitnehmen und sie wollen es sich auch nur im größten Notfall schicken lassen. Ich verstehe das nicht ganz, sie könnten mit etwas mehr Geld doch einen besseren Start in Amerika haben. Zumindest waren die beiden guter Dinge als wir sie am Gare du Nord in den Zug gesetzt haben.

      Paris, 4. Mai 1893

      Jeanette hat das Gästezimmer hergerichtet. Ich freue mich schon, Mutter wird heute Abend in Paris eintreffen und sie bleibt ganze drei Wochen. Vater hat wie immer seine Arbeit und kann nicht mitkommen. Wir hoffen noch, dass er es zu Pfingsten schafft. Ich hätte sie nämlich gerne beide hier.

      Paris, 10. Mai 1893

      Ich war seit Wochen nicht mehr im Samaritaine. Mutter hatte eine lange Liste, man glaubt fast, in Liverpool gäbe es keine Geschäfte. Wir sind ganze drei Stunden gebummelt. Der Droschkenkutscher musste uns später die Sachen ins Haus tragen. Ich weiß nicht, wie Mutter dies alles mit nach Gayton nehmen will, am Ende braucht sie sogar noch einen neuen Koffer.

      Paris, 17. Mai 1893

      Wir haben für Pfingsten eingekauft. Mutter hat sich nur kurz auf unserem Markt umgesehen, dann stand fest, dass wir zum Großmarkt fahren. Hinterher waren es doch nur ganz wenige Einkäufe und das Fleisch für den Sonntagsbraten kann Jeanette auch erst am Samstag besorgen. Mutter hat sich dafür aber den Koffer gekauft, den sie für ihre Rückreise unbedingt benötigt.

      Paris, 20. Mai 1893

      Vater hat ein Telegramm geschickt. Wir haben doch fest mit ihm gerechnet. Am Sonntag läuft endlich der Frachter ein, auf den er schon gewartet hat. Er bleibt daher die Feiertage über allein in Gayton. Miss Hutchinson kann ihn nicht versorgen, denn sie hat das lange Wochenende freibekommen. Vater sollte ja schließlich in Paris sein. Mutter macht sich aber wenig Sorgen. Es gibt eine Schankwirtschaft im Dorf und Vater wird wissen, wie er dort etwas zu Essen bekommt. Ich bin doppelt traurig, denn Mutter wollte zusammen mit Vater noch eine Woche länger in Paris bleiben. So aber wird sie schon am Dienstag wieder abreisen.

      Paris, 28. Mai 1893

      Jetzt ist es wieder still im Haus. Victor leistet den verdammten Wochenenddienst. Die Zeit, die Mutter hier war, konnte ich es besser ertragen. Dann stehen in den nächsten Wochen auch noch Reisen an. Victor muss nach Calais und nach Le Havre. Dieser Leverne sorgt dafür, dass er es nicht einfach hat.

      Paris, 10. Juni 1893

      Den Urlaub konnte Leverne nicht verweigern, er hat es aber versucht, wie Victor berichtet wurde. Die Schikane ist auch schon anderen aufgefallen. Der ganze Stab ist in der nächsten Woche auf Urlaub, sie konnten Victor schließlich nicht davon ausnehmen. Leverne wollte Victor aber trotzdem für das Wochenende in den Dienst nehmen, da war der Urlaubsschein aber schon unterschrieben. Ich freue mich so sehr, wir fahren weg und wollen diesen Leverne für eine ganze Woche vergessen.

      Sanchey, 15. Juni 1893

      Victor hatte mir schon letztes Jahr von Belfort vorgeschwärmt und immer gesagt, wenn er dort nicht arbeiten müsse, würde er mit mir in den Vogesen einen Urlaub verbringen. Wir sind am 11. Juni mit dem Zug gefahren und am späten Nachmittag in Belfort eingetroffen. Es ist eine nette kleine Stadt, von Bergen und Kämmen umgeben. Unsere Pension war recht gemütlich. Victor hat mir die Kommandantur gezeigt, aber nur von außen, er hat sich unterstanden, hineinzugehen und etwa mit den Diensthabenden zu sprechen. Wir sind schließlich im Urlaub. Wir haben uns nur einen Tag für Belfort genommen und sind dann mit dem Zug nach Epinal und von dort mit der Kutsche nach Sanchey gefahren, und haben uns in einem Landgasthaus ein Zimmer genommen. Die Landschaft ist so schön. Wir haben uns den Stausee des nahen Bouzy angesehen. Es gibt dort eine mächtige Staumauer. Ich erinnere mich nicht, so etwas schon einmal gesehen zu haben. Es ist eine Unmenge Wasser, die da zurückgehalten wird. Der See erstreckt sich zu beiden Seiten und ist ganz breit und hat so viele Arme, die weit ins Hinterland hineinreichen. Wir sind vorgestern am Ufer entlanggewandert und haben die schmale Landzunge in Sichtweite des Wehres fast umrundet. Gestern sind wir dann von der Staumauer Richtung Canal de l'Est gegangen und dem Verlauf des Kanals in nord-östlicher Richtung für ein paar Kilometer gefolgt. Heute habe ich mich aber ausruhen können, denn wir sind nicht gewandert, sondern haben uns ein Boot genommen. Victor war der Kapitän und musste auch rudern. Ich habe mich im Bug ausgestreckt und die Wolken am blauen Himmel gezählt. Einmal hat Victor sich zu mir gesetzt und wir haben uns einfach nur treiben lassen. Es gibt keine starken Winde, keinen Sturm und kein offenes Meer, auf das wir hätten hinaustreiben können. Am sehnlichsten werde ich mich der herrlichen Luft erinnern und der Ruhe. Ich möchte fast, dass mich Victor öfter zu solchen Orten mitnimmt. Wenn er auch arbeiten muss, so bleibt doch immer


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