SILBER UND STAHL. Nicole Seidel

SILBER UND STAHL - Nicole Seidel


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Pupillen aufblitzen. Ähnliche Augen wie seine. Tieraugen. Die Augen eines grauen Wolfes – erinnerte sich der Hexer.

      „Hallo Geralt von Riva!“ sprach ihn der graue haarige Schatten an.

      „Hallo Ulf Varen!“ erwiderte Geralt – ein junger Hexenkrieger von kaum achtzehn Jahren, den eine blutige Spur zu dieser alten Eiche geführt hatte.

      Der junge Geralt tastete nach seinen Schwertern, aber er trug keinerlei Waffen – nur einfache Bauernkleidung: eine Hose und ein Hemd aus braunem Leinen und dazu Wildlederstiefel. So war das damals aber nicht gewesen, dachte er.

      Etwas wurde von oben auf ihn geworfen. Instinktiv wich er dem länglichen Gegenstand aus. Es war ein nackter abgerissener Arm eines bedauerlichen Mädchens. Er hörte ein kurzes Lachen, aber als er hinauf sah, war der graue Schatten, mit Namen Ulf Varen, verschwunden. Nur ein blutiger Fetzen Kleides hin über dem dicken Ast, auf dem er vor wenigen Lidschlägen noch gesessen hatte.

      Er war damals an diesen Ort geschickt worden, um seinen allerersten Auftrag zu erfüllen. Ihm kam es einer Prüfung gleich, eine Umsetzung seiner gelernten Kampfkunst und Instinkte, seiner Bestimmung und seines Hexerkönnen.

      Nach seiner Ausbildung und der Umwandlung zum Hexer wurde er allein in die Welt hinausgeschickt, mit der Aufgabe Ungeheuer zu töten. Mit siebzehn machte er sich auf seinen langen Weg, ausgestattet mit einem Pferd, einem Silber- und einem Stahlschwert, einer Schatulle mit wertvollen Elixieren und seinem immensen Hexerwissen. Einem Wissen um Magie, Zauber¬zeichen, Zaubersprüchen und elementares Wissen um jedes Lebewesen dieser Welt ...und wie es zu töten war.

      Seine Wanderschaft währte nur kurz, als er auf ein Dorf traf, das ein Werwolfproblem hatte. Im nördlichen Wald trieb ein Teufelswolf sein schändliches Unwesen, indem er unschuldige Mädchen zu sich lockte und sie dann auffraß. Bereits drei Mädchen seien in den letzten Wochen verschwunden und erst heute Morgen – so gestand der Dorfälteste – wurde ein viertes Mädchen vermisst. Man hatte Angst, sie sei ebenfalls in den Wald gelaufen und würde nun von diesem Wolf aufgefressen. Wenn er dieses Untier tötete – und das Mädchen finden sollte – stehe ihm natürlich eine Belohnung aus. Und so war der junge Geralt von Riva in den nördlichen Wald gegangen und einer unübersehbaren Spur junger Mädchenfüße bis zu der Lichtung mit der Eiche gefolgt.

      Doch was er dort vorgefunden hatte, hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. Um den Baum verteilt lagen die angenagten Überreste eines jungen Mädchens – noch recht frisch, es handelte wohl um das vierte vermisste Mädchen. Dort lag ein Arm. Anderswo ein angenagtes Bein. Wieder woanders eine abgerissene Hand. Die Bestie hatte das junge Ding – vielleicht nur zwei Jahre jünger als Geralt selbst – in ein Dutzend Stücke zerrissen.

      Dem jungen Kämpfer hatte man die Angst abtrainiert und eigentlich hätte es ihm auch nicht übel werden sollen bei diesem grausigen Fund, aber der junge Hexer hatte mit all dem arg zu kämpfen.

      Geralt erinnerte sich, wie er vorsichtig den Baum umrundet hatte und seine aufkommende Angst mit der Sicherheit seines Silberschwertes niederkämpfte. Er suchte nach dem Werwolf, der vorerst verschwunden blieb...

      Ein Hexer durfte keine Angst spüren! Ein Hexer konnte sich jedem Monster stellen, dazu war er erschaffen worden! Ein Hexer war selbst ein Ungeheuer – ein verwandelter, gestählter, zauberkundiger Mutant mit überirdischen Fähigkeiten! Geralts Nackenhärchen stellten sich auf. Warum war er an diesem Ort? Unbewaffnet? Er kickte den Arm zur Seite und blickte sich um: keine weiteren Leichenteile. Sein erster Auftrag! Ein Mädchen fressende Werwolf mit äußerst unappetitlichen Essmanieren. Aber er hatte ihn getötet, erinnerte sich Geralt, vor vielen Jahrzehnten!

      „Ulf!“ brüllte der Hexer in die Nacht hinein. „Varen!“

      Stille. - „Ulf Varen!“ rief er erneut.

      Hinter ihm knackte ein Ästlein entzwei. Geralt drehte sich um und ein junger Vagabund trat auf die mondhelle Lichtung und blieb vor ihm Angesicht zu Angesicht stehen.

      Der etwas ungepflegte Kerl hatte ein Allerwelts-Gesicht, höchstens drei Jahre älter als Geralt selbst und trug das lange grauschwarze Haar am Oberkopf zusammen gebunden. Er war sehr schlank, fast ausgezerrt und auch seine bunt zusammengewürfelte Kleidung hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die hohen Stiefel starrten vor Schlamm und das zweifarbige Wanst in rot und gelb, war mit blauen Flicken gestopft worden. Hose und Mantel waren aus unscheinbaren Leder und über dem Rücken war eine achtseitige Harfe geschnallt.

      Dieses Instrument holte der Vagabund hervor und spielte eine fröhliche Weise. Geralt in sich erstarrt, musste ihm zuhören und alles geschehen lassen. Zwar die Hauptperson in dieser Unwirklichkeit, aber doch dazu verdammt nur Beobachter zu sein.

      Der Musiker spielte sehr gut, er entlockte der kleinen Harfe eine Kaskade von scharfen, klaren Klängen. Und aus einer fröhlichen Weise wurde ein Grablied, während er ein paar Mal um den jungen Hexer herumtanzte. Dieser folgte ihm mit hasssprühenden Blicken.

      Schließlich blieb Ulf Varen stehen und schleuderte die Harfe weit von sich. „Erinnerst du dich an mich, Hexer?“ Der Vagabund stand ihm direkt gegenüber und seine rechte Hand wanderte in den Ausschnitt seines Hemdes. „Was für ein hübscher, kräftiger Kerl du bist! Makellos und gesund!“

      Geralt spürte die liebkosende Hand auf seiner nackten Brust, aber er selbst konnte seine Arme nicht heben, um diese Hand fortzustoßen. Stattdessen begann ihn diese Berührung zu erregen.

      „Ich hatte noch mein ganzes Leben vor mir. Und dann kamst du daher", sprach Ulf mit rauchiger Stimme seinen Monolog weiter. Seine grollend-raue Stimme passte zu dem wilden Tier in seinem Innern. „Muss nicht jedes Wesen essen um zu leben?“

      Ulfs Hand ruhte inzwischen an Geralts Hals und drückte mit dem Daumen sein Kinn in die Höhe. Weit beugte sich der Vagabund zu dem Hexer herüber und schaute ihm tief in die Augen. „Hast du dazu nichts zu sagen?“

      „Ich diskutiere nicht mit jemanden, der seit Jahren tot ist“, gestand ihm Geralt von Riva.

      „So, tust du nicht. Sehr anmaßend, mein junger Freund.“ Ulf lachte knurrend auf. „Mich verurteilst du und setzt mich ohne Gnade und Wahl dem Tod aus – und selbst? Wer richtet über dich, Mutant?“ Seine Finger fuhren sanft um die Augen des Hexers – die schwarzen Pupillen bedeckten fast total die gelbfahle Iris. „Die Menschen werden alle alten Wesen von dieser Welt tilgen und sich als Herrenwesen aufspielen. Sie sind machtgierig, degeneriert und gnadenlos. Sie sind Ungeheuer, wie du und ich. Du solltest beginnen, auch sie abzuschlachten, Hexer. Und wenn du alle Ungeheuer von dieser Welt getilgt hast dann bist du selbst dran! Dann bist du das letzte Monster auf dieser Welt, das vernichtet werden muss! Habe ich nicht recht?“

      Ulf Varen trat von Geralt einen Schritt zurück. Der blieb gelassen und schwieg.

      „Hab ich nicht recht, Hexer?“ brüllte ihm der Vagabund entgegen.

      Geralt lächelte nur etwas und schüttelte seinen Kopf.

      Da fuhr Ulfs Hand erneut gegen Geralt, doch diesmal mit einer brutaleren Botschaft. Aus der Hand eines Mannes war die behaarte, klauenbesetzte Hand eines Untiers geworden. Mit nur einer scharfen Klaue – die seines Zeigefingers – fuhr Ulf Varen über Geralts Gesicht und fetzte es auf. Von der Stirn bis fast hinab zum Mund klaffte eine tiefe Wunde – es war die linke Seite, die noch heute sein Gesicht verunstaltete.

      Geralt taumelte zurück und hielt sich das blutende Gesicht. Mehr Gegenwehr war ihm nicht erlaubt. Er war in diesem Alptraum völlig der Spielfigur Ulf Varen ausgeliefert. Der hatte sich in einen aufrechtgehenden Werwolf verwandelt und drosch nun wütend auf ihn ein. Jeder Hieb mit den Pranken fand auf Geralts ungedeckten Körper ein Ziel. In sich gefangen, konnte er nur zusehen, wie der Werwolf ihn zerfetzte.

      Schließlich fiel er in schwarze Dunkelheit.

      „Geralt!“

      Der Hexer hörte eine ihm sehr bekannte Stimme und schlug die Augen auf. Er lag auf dem Boden unter der großen alten Eiche inmitten der Lichtung. Neben ihm kniete eine wunderschöne Frau mit prächtiger schwarzer Lockenmähne, die fürsorglich sein


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