SILBER UND STAHL. Nicole Seidel
in der Sonne, eine sanfte Brise brachte die unzähligen schwarz-weißen Fahnen zum wehen - weiße Lilien auf schwarzem Grund. Zwei Stunden dauerte der lockere Ritt - denn Iorweth hatte es nicht eilig - als er an eine Brücke kam, die am schmäler werdenden Teil, wo der See in einen Flussarm abzweigte, auf die östliche Bucht unterhalb Wyzimas führte. In diesem fruchtbaren Teil des Umlands lag ein weitläufiges Dorf, wo Landwirtschaft und Fischfang betrieben wurde.
Von dieser Seite führten zwei Brücken auf die Insel, die die Hauptstadt einnahmen. Doch Iorweth betrat sie nicht, er lenkte sein Reittier ein Stück am Ufer entlang und band es dann dort abseits an einem Baum fest. Ihm waren die sechs in Formation reitenden Soldaten in blaugestreiften Lederrüstungen aufgefallen, die über die Brücke am Maliborer Tor auf die Siedlung zugeritten kamen. Zielsicher hielten sie auf ein Lagerhaus zu, um das fünf weitere Hütten am Ufer standen. Ein kräftiger Kerl mit ein paar Fettpolstern zu viel stellte sich ihnen entgegen. Iorweth, der sich bis an den Steg beim Lagerhaus, bis unter ein an Land gezogenes Boot hatte auf Hörweite heranschleichen können, erkannte den Hauptmann Vernon Roche an seiner Stimme wieder. Und den vollschlanken Kerl hatte er einige Male bei Coinneachs Zusammenkünften gesehen: er hieß Haren Brogg - und war wohl der Händler, der auch mit den Scoia’tael Geschäfte machte.
"Lass uns ins Haus gehen und wir besprechen die heiklen Geschäfte bei einem kühlen Bier", erwiderte der Hauptmann und betrat mit Haren Brogg das Lagerhaus.
Iorweth krabbelte unter dem Boot hervor und hastete in dem Moment zur Lagerhausseite, als einer der Soldaten, die draußen warteten, ihm den Rücken gekehrt hatte. Lautlos sprang er auf ein Fass und hangelte sich aufs Dach. Er robbte sich vorsichtig bis ans Fenster und lauschte.
"Wenn du gegen Coinneach Dá Reo aussagst, übersehe ich, dass du bis zu diesem Zeitpunkt mit den Scoia’tael Handel getrieben hast. Wenn wir diesen Elf festsetzen können, bleibst du unbehelligt. Natürlich musst du als Zeichen guten Willens deine Geschäfte einstellen. Viel lieber wäre mir, du nutzest deine Beziehungen, um uns einige Eichhörnchen auszuliefern. Und dann kann darüber verhandelt werden, ob dir eine Belohnung ansteht."
"Ihr habt mir eine Belohnung für Coinneach versprochen." Haren Broggs Stimme zitterte, er hatte Angst.
"Du rettest deine Haut, Brogg! Das muss fürs erste genügen. Je mehr du mir entgegenkommst, umso eher springt auch was für dich dabei heraus. Ich lass nicht mit mir handeln." Einige Minuten tauchten sich in Schweigen.
"Ich will jeden Namen der dir einfällt, der mit diesem Banditenelf kooperiert. Wer gehört zu seinem engsten Kreis? Hast du einen handfesten Beweis, der Dá Reo belastet? Nenn mir seine Verstecke. Jede kleinste Detail!"
Nach einer kurzen Weile begann der Händler Haren Brogg zu erzählen, er nannte einige Namen an die er sich erinnerte; verriet zwei Verstecke, von denen er wusste. Vernon Roche hörte aufmerksam zu und notierte sich etliches. Auch Iorweths Namen wurde so nebenbei erwähnt.
Der Hauptmann Roche verließ allein das Lagerhaus und befahl seinen Männern aufzusitzen. Es war der Name eines Barons von Knappensteinberg gefallen, einer der unzähligen Adligen, die sich am Königshof Foltest bewegen konnte. Der Hauptmann der Spezialeinheit würde nicht wagen dem Edelmann zu drohen, vermutlich würde er ihn mit gesetzten rechtlichen Argumenten zu überzeugen versuchen und an seine Königstreue appellieren.
Iorweth musste Coinneach warnen. Die Schlinge um ihn schien sich zuzuziehen. Der Elf wusste nicht, wie viel Verräter und Beweise der Hauptmann schon gegen den Elf der Unterwelt in der Hand hatte, aber er ahnte, dass es schon ausreichen würde. Er schwang sich vom Dach und rannte unbemerkt zu seinem Falben.
Von den Blauen Streifen war nichts mehr zu sehen, als Iorweth die Brücke zum Maliborer Tor betrat. Konnte er es noch riskieren und offen durch die Straßen Wyzimas reiten? Im Schritt lenkte er sein Pferd zwischen die Handvoll Reisender und kam unbehelligt durch.
Er eilte zum Wohnversteck Coinneach und erfuhr, dass der vom abendlichen Besuch seiner Baronesse Iphingenia noch nicht zurück gekehrt sei. Er konnte nicht ohne weiteres zum Herrenhaus der von Knappensteinbergs reiten, sie würden ihn niemals einlassen. Aber daneben wohnte Iphingenias Freundin die Comtesse Ludamille - ein paarmal hatte er das sexhungrige Mädchen besucht - sie konnte er bitten, Coinneach bei der Baronesse aufzusuchen.
Zu Fuß huschte er durch die Straßen der Oberstadt und betrat durch den Seiteneingang der Diener das Stadthaus des Herzogs von Richthoffer-Bergen. Unbemerkt gelangte er zu den Gemächern der Comtesse Ludamille. Die Sonne stand noch nicht im Zenit und das blonde Mädchen lag noch in ihrem Bett, wie Iorweth vermutet hatte.
Freudig sah sie dem Elf entgegen und klopfte auf die Bettdecken. Ihr spärliches Nachthemdchen bedeckte kaum ihre Rundungen.
"Ich bin nicht deshalb hier", keuchte Iorweth, ein wenig außer Atem. "Du musst mir einen Gefallen tun. Jetzt sofort, es ist dringend. Bitte, es geht um Leben und Tod!"
Sie erhob sich aus dem Bett, ging zu ihm hin und kraulte ihm das Kinn. "Um Leben und Tod geht es? Ich werde erst mal ein ausgiebiges Frühstück zu mir nehmen, bevor ich vor Hunger noch sterbe." Sie lächelte und fasste den Elf in den Schritt. "Und du wirst mein Nachtisch."
Iorweth streifte etwas grob ihre Hand fort. "Du musst deine Freundin die Baronesse Iphingenia aufsuchen - jetzt gleich, sofort. Und wenn Coinneach bei ihr ist, ihm eine Nachricht von mir geben. Ich muss ihn unverzüglich sehen. Bitte!"
"Ich muss gar nichts", maulte Ludamille erzürnt. "Was ist nur los mit dir? Außerdem stinkst du nach Pferd."
In diesem Moment betraten ein Diener mit einem Tablett und zwei hinter ihm laufende Männer das Gemach der Blondine. Ludamille erfasste als erste die Situation, ließ sich aufs Bett fallen und schrie den drei hereintretenden Männern entgegen: "Zu Hilfe, mein Liebster. Helft mir Bruder. Dieser Elf wollte mich vergewaltigen! Er dachte wohl, jede gelangweilte Adlige verzerrt sich nach seiner elfischen Schönheit."
Der fettbackige Verlobte stürmte verunsichert auf den Elf zu, blickte bestürzt auf seine fast nackte Verlobte und zurück zu Iorweth
"Du spitzohriger Hund", brüllte der Bruder der Comtesse und griff nach der Flasche Tafelwasser auf dem Tablett des Dieners und stieß ihn zur Seite. Ohne zu zögern zog er dem Elf die Flasche über den Kopf, dass sie zerbarst.
Iorweth taumelte zurück, fasste sich an den Kopf, wo Wasser und Blut über sein rechtes Auge lief. Ihm schwindelte, doch instinktiv griff er nach seinem Sihil im Gürtel. Aber er konnte die Waffe nicht ziehen, denn der Bruder der Comtesse schlug mit dem kantigen Rest der Flasche, die er noch in der Hand hielt zu. Das scharfe Glas zerschnitt ihm das Gesicht, weiteres Blut quoll aus tiefen Schnitten über Stirn und Auge und nahm dem Elf die Sicht. Der scharfzackige Flaschenrest wurde ihm in die Backe gerammt, blind wehrte Iorweth den Angreifer ab und stürzte zu Boden, wo ihn die beiden Männer mit Tritten traktierten.
Da erklang ein weiblicher Kampfschrei, jemand stürmte ins Gemach. Ludamille kreischte auf, Schwertklingen surrten durch die Luft. Dann schrien der Bruder und der Verlobte auf und jemand packte den schwer blutenden Iorweth am Wams und zog ihn mit sich.
Iorweths rechte Hand hielt das zerfetzte Gesicht, zwischen den Finger quoll weiterhin Blut, viel Blut. Durch das Blut hindurch erkannte er seinen Freund Riordain. Iorweth kämpfte sich auf die Beine, vom Freund gestützt eilten sie aus dem Gemach. Eine weitere Elfe mit zwei Elfensihilen in der Hand deckte ihnen den Rückzug. Sie kamen über den Seitenausgang bis auf die Straße. Keiner der Anwohner wollte sich den klingenschwingenden Elfen in den Weg stellen, aber einige riefen nach der Miliz. Sie mussten es in die unterirdischen Kloaken schaffen, bevor sich ihnen Soldaten entgegenstellten. Mit Iorweths Hilfe, der trotz Schmerzen und Blutverlust nicht ohnmächtig wurde, fanden sie einen Eingang in die Kloaken.
Die Soldaten, die wenige Minuten später am Herrenhaus des Herzogs ankamen, mussten nur einer Blutspur folgen, die der Elf hinterlassen hatte, um die Verfolgung aufzunehmen.
"Lass ihn zurück, wir müssen fliehen", sagte die fremde Elfe, "er hat unterwegs so viel Blut verloren, dass die Soldaten jeden Moment hier sein werden. Er wird es eh nicht überleben und wir mit ihm sterben."
"Ich lass ihn nicht zurück, Toruviel. Hilf