Zwischen meinen Inseln. Ole R. Börgdahl
5. Oktober 1913
Ich hatte schon etwas Angst vor dem Zähneziehen und es war auch nicht so schön. Jetzt sind die beiden unteren Weisheitszähne heraus. Ich will immer mit der Zunge an den Stellen fühlen, aber ich muss mich beherrschen, sonst heilen die Wunden nicht. Für die oberen beiden werde ich mir noch etwas Zeit lassen, erst wenn unten alles verheilt ist. Vielleicht warte ich auch noch bis nächstes Jahr.
Brisbane, 31. Oktober 1913
Es hat lange gedauert, bis ich endlich eine Ausbildung beginnen kann. Es lag aber auch daran, dass ich noch so viel lernen musste, um die Aufnahmeprüfungen für das College zu bestehen. Mit Polynesischen Zeugnissen komme ich in Australien nicht sehr weit. Ich war aber fleißig und habe gezeigt, dass ich jetzt auch die englische Orthografie recht gut beherrsche. Dann wurde noch das Allgemeinwissen abgefragt, Geschichte des Landes, australische Geografie, was mir leichtgefallen ist, weil ich Vater auf seinen Reisen immer schon in meinem Atlas gefolgt bin und so die meisten Städte, Regionen und Bundesstaaten gut kenne. Natürlich wollten sie mit dem Test nur die Zahl der Bewerber verringern, denn es haben sich mehr Schüler angemeldet, als im kommenden Semester unterrichtet werden können. Auf jeden Fall habe ich bestanden und sie werden mich in der Schule aufnehmen. Wenn ich demnächst gefragt werde, kann ich sagen, dass ich an der Kelvin Grove studiere. Ich werde wohl mit der Elektrischen-Bahn fahren müssen, um von New Farm täglich dorthin zu kommen. Zum Glück ist der Unterricht nur am Vormittag, sodass ich nachmittags Zeit für Tom haben werde. Da Vater auch nicht immer zu Hause ist, haben wir uns nun doch wieder für ein Kindermädchen entschieden. Mildreds Fortgang war nun doch recht schmerzlich und ist gar nicht mehr zu ertragen, wenn ich bald auf die Schule gehe. Vater wollte erst eine Annonce aufgeben, dann wurde ihm aber jemand empfohlen. Ich bin gespannt, wer es ist. Ich fürchte, ich bin sehr kritisch, wenn es darum geht, wer statt meiner oder Vater auf Tom aufpasst und außerdem werde ich diejenige, die kommt, immer mit Mildred vergleichen.
Brisbane, 4. November 1913
Mrs. Lovegrove ist schon siebenundfünfzig. Sie ist wie eine Großmutter zu Tom. Sie hat eine Rente und sieht die Arbeit als Kindermädchen nur zum Zeitvertreib und um jung zu bleiben, wie sie selbst sagt. Sie ist ideal, gefällt mir und sie ist nicht zu teuer. Ich wollte ja immer jemanden haben, der in meinem Alter ist, wegen des Respekts. Jetzt weiß ich aber, dass wohl beides geht, entweder so jung wie ich oder ganz alt. Ja ich denke, ich habe für Tom kein Kindermädchen, sondern eine Großmutter bekommen. Ich werde Mrs. Lovegrove nicht zu sehr anstrengen und sie nur vormittags auf Tom aufpassen lassen. Dafür kommt sie auch fünf Tage die Woche, sodass ich mich auf die Schule konzentrieren kann. So wie ich sie kennengelernt habe, wird sie sich auch ein wenig ums Haus kümmern, ich werde es mir gefallen lassen.
Brisbane, 30. November 1913
Es ist so schnell gegangen und ich habe nicht alles immer aufgeschrieben, weil es einem gar nicht so wichtig erscheint. Tom ist jetzt ein Mensch wie Vater und ich. Er nimmt nicht einfach nur, was wir ihm geben, er verlangt danach. Er sagt es, wenn er Durst hat, er verlangt nach einem Brot und wir müssen ihm seine Spielsachen bringen, wenn er uns dazu auffordert. Tom erinnert Vater beim Zubettgehen auch, dass er eine Geschichte hören will, oder er fordert mich auf, etwas für ihn zu singen. Ich singe tatsächlich, obwohl ich es eigentlich gar nicht kann. Tom findet es aber wunderschön, obwohl er über meinen Gesang einschläft. Für eine Opernsängerin mag dies kein Kompliment sein, für mich schon.
Brisbane, 15. Dezember 1913
Ich frage mich, wann ich Vater den Rougon-Macquart-Zyklus geschenkt habe. War es im letzten oder im vorletzten Jahr. Egal, wir haben am dritten Advent wenigstens auch mit dem dritten Band begonnen, »Der Bauch von Paris«. Über Weihnachten wollen wir es ganz durchlesen. Es bleiben dann noch siebzehn Bände. Ich habe es überschlagen, fast sechstausend Seiten, sechstausend. Vielleicht inseriere ich auch und biete den Zola zum Verkauf an, dann sind wir nicht mehr in der Not. Dies ist natürlich nicht mein Ernst, denn Vater hat mir versprochen, dass wir es noch schaffen werden, alles zu lesen. Der zweite Roman, den wir eben zu Ende gelesen haben, spielt nicht mehr in der Provinz, sondern in Paris, was mich natürlich anfangs sehr interessiert hat. Es wurde allerdings nicht viel über Paris berichtet, nur über das Abreißen ganzer Straßenzüge, über die Zerstörung des alten Paris. Vater wusste, dass Paris unter Napoleon III. ein neues Gesicht bekommen hat, dass es eine neue Ordnung der Arrondissements gab, eine Ordnung, die noch heute Bestand hat. Es nützt mir nichts, ich kenne Paris nicht, ich kann nicht vergleichen. Vater allerdings auch nicht, aber er weiß wenigstens, wie dieses neue Paris aussieht. Was gibt es sonst noch über das Buch zu sagen. Ach ja, Vater und ich haben uns gefragt, was dieses Tahiti-Kostüm sein sollte, ein Baströckchen? Das ist doch nur Zolas Fantasie. Die Missionare haben die Frauen auf Tahiti doch längst in höchstsittliche Kleider verpackt. Der zweite Zola ist auch wieder eine Liebesgeschichte, nicht so rein und unschuldig wie zwischen Miette und Silvère, aber es ist eine Liebesgeschichte, bei der diesmal nur die weibliche Heldin stirbt. Ihr Tod ist zwar nicht so dramatisch wie der Miettes, aber in den letzten Zeilen des Romans wird dem Leser ihr Tod mitgeteilt. Überhaupt sterben bei Zola immer die Frauen, die Ehefrauen und die Geliebten. Durch den Tod aber, bleiben oder werden diese Frauen erst unschuldig, so sehe ich es. Ich fand den zweiten Zola nicht so gut wie den Ersten. Diese ganzen Intrigen, das Jonglieren mit Geld, die Dekadenz der Neureichen, der Emporkömmlinge und der Günstlinge des Zweiten Kaiserreichs, haben mich vielleicht interessiert, aber nicht begeistert. Ich trauere eben immer noch um Miette und Silvère, über die ich gerne weitergelesen hätte.
1914
Brisbane, 8. Januar 1914
Wir haben Tom heute untersuchen lassen. Der Arzt ist sehr zufrieden mit ihm. Tom hatte anfangs gar keine Angst. Er hat den Doktor dann auch selbst mit dem Stethoskop abgehört und ihm mit dem Holzspatel nach den Mandeln gesehen. Einen schwachen Moment gab es dann aber doch noch. Tom musste gegen ein Fieber geimpft werden. Die Spritze hat ihm überhaupt nicht gefallen und ich glaube auch, dass der Doktor vorerst Toms Sympathien verspielt hat. Wir werden erst in einem halben Jahr wieder in die Praxis müssen, ich hoffe Tom hat die Spritze bis dahin vergessen. Es wird aber auch nicht seine Letzte gewesen sein.
Brisbane, 3. Februar 1914
Auf dem College werden in der Regel drei Sprachen studiert und noch zusätzlich die Muttersprache. Für Australier ist dies Englisch, für mich Französisch und so habe ich entschieden, neben Spanisch, Portugiesisch und Holländisch auch noch Französisch als Fremdsprache zu wählen. Ich mache es, um später auch in Französisch einen Prüfungsabschluss vorweisen zu können, obwohl ja meine Staatszugehörigkeit Qualifikation genug wäre.
Brisbane, 13. Februar 1914
Gestern gab es nur eine kurze Kaffeetafel zu Vaters Geburtstag. Wir mussten beide arbeiten. Vater hat seine Manuskripte durchgesehen und ich musste noch lernen. Ich bin plötzlich so ehrgeizig. Die Schule bedeutet mir wirklich viel. Ich denke, wenn ich gleich sofort ganz ernsthaft beginne, gewöhne ich mich auch an die Arbeit und das tägliche Pensum und es fällt mir später leichter, wenn es einmal wirklich viel zu tun gibt und der Stoff schwieriger wird.
Brisbane, 17. März 1914
Tom hat etwas für mich gebastelt, es sind zwei Bücherstützen für mein Regal. Vater hat ihm natürlich geholfen, er hat gesägt und gehämmert und Tom durfte die Bücherstützen anmalen. Es ist das erste Mal, dass mir mein Sohn etwas zum Geburtstag geschenkt hat. Ich denke, dies gehört auch zum Menschwerden dazu.
Brisbane, 13. April 1914
Tante Maggie und Onkel Louis haben gestern Abend eingeladen, sie sind seit zehn Jahren verheiratet. Ich habe hier in Brisbane noch nie so viele Franzosen an einem Ort gleichzeitig gesehen. Es gab einige Dialekte, die ich noch nie gehört habe, Elsässer, Katalanen und Korsen. Die Korsen sind wohl besonders