Lang lebe die Lüge!. Liliana Dahlberg
sie sah, wie sich Ihre Mutter ans Herz griff und zusammenbrach, konnte dieser nach seinem Eintreffen nur noch ihren Tod feststellen. Obwohl ich Sie und Ihre Mutter nie in der Kirche oder auf dem Friedhof gesehen habe, bedauere ich es sehr, dass der Grund unseres Aufeinandertreffens nun dieser ist. Bitte verstehen Sie Ihr Fehlen bei den Gottesdiensten nicht als Vorwurf. Ich erwähne es nur, weil wir uns bisher nur sporadisch beim Bäcker oder im kleinen Lebensmittelgeschäft im Ort begegnet sind.«
Die Frau neben ihm hatte daraufhin das Wort ergriffen. Sie druckste erst ein wenig herum und holte mehrmals tief Luft, ehe sie zum Reden ansetzte. »Wir Leute hier im Ort kennen Ihre Mutter zwar nur mit Nadel und Faden in der Hand. Dennoch nehmen wir alle Anteil an ihrem Schicksal.« Sie lächelte Violett etwas gezwungen, aber doch freundlich zu.
Der Pfarrer räusperte sich kurz. »Wir wollen Ihnen aber auch nicht vorenthalten – selbst wenn es zunächst etwas pietätlos und obsolet erscheint –, dass es Probleme beim Ausstellen des Totenscheins Ihrer Mutter gab. Ihre Mutter hatte keine Papiere bei sich. Nun wird nach ihrer Geburtsurkunde geforscht. Dann erst kann dieser Schritt vollzogen werden. Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn Sie in den nächsten Monaten und natürlich auch darüber hinaus Hilfe benötigen sollten.«
Die Frau fragte sichtlich interessiert und zugleich peinlich berührt: »Ich will nicht neugierig erscheinen, aber Ihre Mutter hat nie von sich erzählt. Wo ist sie denn zur Welt gekommen?«
Violett fühlte sich mit einem Mal vollkommen leer. Sie empfand eine nie gekannte Erschöpfung. Bei dieser Frage spürte sie Hammerschläge in ihrem Kopf. Nicht einmal Tränen kamen, dafür saß der Schock zu tief. Sie nahm eine für sie untypische abwesende Haltung ein, bevor sie schließlich mit einer Stimme, die zu brechen drohte, mühsam hervorbrachte: »Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie eine Hausgeburt war und in Liverpool zur Welt gekommen ist.« Das war eine Lüge, aber was hätte sie sonst machen sollen? Violett hatte London ganz bewusst nicht erwähnt. Ihren eigentlichen Verdacht. Ihre Lippen öffneten sich erneut, um Worte zu formen, die jedoch einfach nicht herauskamen.
Danach herrschte für ein paar Sekunden ein betroffenes Schweigen. Nicht einmal der Pfarrer schien in dem Moment zu wissen, was er Violett am besten sagen sollte, um den Schmerz zu mindern, den er ihr trotz ihrer starren Haltung natürlich deutlich ansehen konnte. Zu dem Schmerz, den Violett bei der Gewissheit empfand, dass sie ihre Mutter nie wieder durch die Wohnungstür treten sehen würde, hatte sich zum ersten Mal ein Gefühl gesellt, das sie innerlich zu zerreißen drohte: das der größten Verzweiflung ihres Lebens. In dem Moment traten aus ihren Augenwinkeln die ersten Tränen, die langsam über ihre Wangen zu fließen begannen.
Violett war in diesem Augenblick klar geworden, dass sich bestätigen würde, was sie zeitlebens befürchtet hatte: Sie hatte ihre eigene Mutter nicht gekannt. Laura war leider über all die Jahre so gesprächig geblieben wie eine Holzpuppe. Violett wusste rein gar nichts. Sie kannte nur den vermeintlichen Vornamen ihres verstorbenen Vaters. Bei Tisch oder vor dem Zubettgehen waren immer nur ihre eigenen Bedürfnisse diskutiert worden. Wie furchtbar! Ein Armutszeugnis!
Sie hatte doch bei ihrem letzten Streitgespräch alles erfahren wollen. Erfolglos. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie weit sie den Pfarrer über ihre missliche Lage ins Vertrauen ziehen sollte, schließlich kannten sie sich kaum. Was hätte er ihr gesagt? Dass sie eine schlechte Tochter gewesen war, weil sie es nicht geschafft hatte, ihre Mutter dazu zu bewegen, über all das zu reden, was tief in ihr verborgen gewesen war? Sie aus der Reserve und ihrem Schneckenhaus zu locken, das viele als undurchdringlichen Panzer angesehen hatten? Und nun? Nun würde sie vielleicht einiges über Laura auf eine für sie unangenehme Art und Weise erfahren müssen. Durch Leute, die sie gekannt hatten und vielleicht ihre Traueranzeige in der Londoner »Times« entdecken würden. Dritte. Doch dann war Violett eingefallen – und sie hätte sich vor lauter Dummheit am liebsten selbst auf die Stirn geschlagen –, dass dies auch eine große Chance bedeuten konnte. Es könnte Licht in das Dunkel ihrer Familiengeschichte bringen. Aber ob sich wirklich Bekannte melden würden? Laura hatte sie schließlich ihr ganzes Leben lang erfolgreich ignoriert. Wenn doch nur ihre Familienmitglieder ein Zeichen von sich geben würden. Sie mussten einfach noch am Leben sein. Da war Violett sich sicher. Mit großer Wahrscheinlichkeit in London. Sie würde endlich erfahren, woher sie kam. Bei diesem Gedanken hatte Violett die erste positive Emotion verspürt, die sie angesichts von Lauras Tods in der Lage war, zu empfinden.
Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter fähig gewesen war, London so zu umgehen wie die Katze einen Hund. Ihre Heimat musste also London sein. Violett dachte an einen Schulausflug, der sie in die Hauptstadt geführt hatte. Sie war von der Mutter einer Freundin abgeholt worden, da Laura angeblich schon am Morgen, noch bevor der Schulbus aufgebrochen war, von so schrecklichen Kopfschmerzen gequält worden war, dass sie sich ihrer Aussage nach in keinen Zug oder Bus hatte setzen können. Beschwerden, über die sie zuvor nie geklagt hatte.
Violett fühlte ein großes Loch in ihrem Magen, das nicht vom Hunger herrührte, denn sie hatte vor Beendigung ihrer Schicht auf Rechnung des Cafés noch ein paar Brötchen essen dürfen.
Violetts Blick heftete sich auf etwas, das weder der Pfarrer noch die Frau sehen konnten. Es waren die kleinen weißen zerkratzten Türen des Wandschranks. Darin verborgen lag der Tee, den sie immer in Lauras Beisein genossen hatte: der gute Earl Grey. Violett schluchzte wie ein kleines Kind und fühlte sich einem Gefühlsausbruch nahe. Den Pfarrer und die Frau nahm sie kaum noch wahr. Vor ihren Augen verschwamm alles.
Der Ausbruch ihrer Emotionen war nur schwer zu unterdrücken, sodass Violett an den Pfarrer und die Frau gerichtet lediglich herausbrachte: »Bitte gehen Sie jetzt. Danke für Ihr Kommen, aber ich muss jetzt alleine sein.«
Dieser Aufforderung folgten die beiden mit einem kurzen verständnisvollen Nicken. Kaum waren die Tür ins Schloss gefallen und die Überbringer der Hiobsbotschaft im Treppenhaus verschwunden, hatte Violett angefangen zu weinen, zu schluchzen und zu stöhnen. Das Gefühlsgemisch in ihrem Bauch brach wie ein Damm, dessen Schleusen sich wohl nicht so schnell wieder schließen würden. Mehrere Schuldgefühle schienen gleichzeitig an Violetts Tür zu klopfen. Sie hatte laut herausgeschrien, was ihr durch den Kopf schoss. Ihre Gedanken waren wie Gewehrschüsse.
»Was bin ich für eine Tochter? Ein Mensch, den ich geliebt habe, ist gegangen, ohne dass ich ihn gekannt habe! Ich habe versagt! Ich bin einfach eine furchtbare Kreatur!«
Doch dann hatte sie tief Luft geholt und hinzugefügt: »Aber ich habe aus allem gelernt.«
Sie gab sich gefühlt für Stunden ihren Emotionen hin. Die Nachbarn nebenan erlebten wohl ein besonderes Geräuschkonzert. Doch das kümmerte Violett nicht. Warum auch? Sie war der Meinung, dass sie jeden Grund hatte, sich verzweifelt und am Boden zerstört zu fühlen.
Doch als irgendwann keine Schluchzer und keine Tränen mehr kamen, bewegte sie sich beinahe taumelnd, als hätte sie sich in einer Bar zu viele Pints gegönnt, zunächst auf das alte Fenster zu und schloss die spärlichen Vorhänge und wankte dann hin zu der alten Couch. Auf eigenartige Weise hatte sie das Gefühl, auf diesem alten Möbelstück ihrer Mutter noch einmal nahe sein und ihre Gegenwart spüren zu können. Die Couch hatte wie gewöhnlich geknarrt, als sie sich auf sie sinken ließ. Eigentlich hatte sie schlafen wollen, doch kaum lag sie auf der Couch, konfrontierte sie ihre Mutter in Gedanken noch einmal mit all den Fragen, die sie ihr hätte stellen müssen, noch bevor sie für immer gegangen war. Am Ende war es ihre eigene Stimme, die Violett in den Schlaf driften ließ. Dann war sie von einem Gefühl der Ohnmacht übermannt worden und eingeschlafen.
Kapitel 2
Violett landete mit ihren Gedanken wieder in der Gegenwart. Nach diesem Bad in Erinnerungen hatte sie erst recht Mühe, sich von der Couch zu erheben. Sie glaubte, ihren Oberkörper nicht mit ihren Armen hochstemmen und abstützen zu können. Vorerst hätte sie im Grunde auch liegen bleiben und darauf warten können, dass das alte Telefon klingelte und irgendjemand anrief, um ihr sein Beileid auszusprechen. Doch sie wusste, dass sie sich ihrem neuen Leben stellen musste. Es gab keine Ausreden mehr. Weiter zu grübeln war auch keine Lösung.
Violett starrte kurz auf das Telefon, als erwarte sie von ihm eine Regung. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sich außer