Lang lebe die Lüge!. Liliana Dahlberg

Lang lebe die Lüge! - Liliana Dahlberg


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Kunden hatte sie lediglich die Nummer ihres Anschlusses in der Schneiderei überlassen. Im Grunde konnten sich nur Beileidskarten in ihren Briefkasten verirren, den Laura aus reinen Vernunftgründen nicht entfernt hatte. Gleichzeitig flammte in Violett erneut die Hoffnung auf, dass sie eine Nachricht von Lauras Familie erhalten würde. Da dies jedoch mehr als unwahrscheinlich war, beschloss sie, sich diesem Wunschtraum nicht länger hinzugeben.

      Über die Anteilnahme der Dorfbewohner würde Violett sich in der Tat freuen, obwohl sie vermutete, dass hinter den Karten nicht allzu viel aufrechtes Beileid stecken würde. Was sollten Lauras Kunden auch schreiben? »Wir werden Ihre Mutter vermissen, sie hat immer hervorragende Arbeit geleistet, endlich sitzen die Knöpfe meines Sakkos wieder perfekt.« Oder: »Schade, dass sie nicht mehr da ist. Sie hat meine Abendkleider perfekt gekürzt, jetzt kann ich meine langen Beine besser zur Schau stellen.« Am Ende kam Violett zu dem Schluss, dass geheucheltes Beileid immer noch besser war als gar keines. Außerdem war zumindest sie im Ort sehr beliebt. Mochte Großbritannien auch eine Insel sein, Violett war keine.

      Ihre Kontaktfreude hatte ihr unbewusst schon immer als wichtiger Gegenpol zu ihrer Mutter gedient. Allein dieser Charakterzug hatte es ihr schließlich ermöglicht, zu einem ausgeglichenen Menschen heranzuwachsen. Denn wer wollte schon von der eigenen Mutter über alle Maßen verehrt werden, ohne in Kontakt zu den restlichen Erdbewohnern zu treten? Violett blickte, nachdem sie all ihre Kräfte mobilisiert und sich beinahe kriechend von der Couch erhoben hatte, an sich herunter. Sie trug noch immer das Outfit ihres Brötchengebers. Die Uniform einer einfachen Bedienung: eine lange schwarze Hose und eine blütenweiße Bluse mit drei Knöpfen. Am liebsten wollte sich Violett der Bluse sofort entledigen, sie sich gar vom Leib reißen. Denn die Farbe Weiß symbolisierte ja bekanntlich Unschuld. Unschuldig fühlte sie sich aber nicht. Überhaupt nicht. Immerhin war doch sie die Schuldige, wenn sie als Tochter einer Mutter, die gestern an einem Herzinfarkt gestorben war, ebenso ahnungslos durch die Gegend lief wie alle übrigen Dorfbewohner, was das so gut gehütete Geheimnis ihrer Mutter anbelangte. Diese Schuldgefühle quälten sie weiterhin, auch wenn sie eine Chance sah, zumindest einen Großteil ihrer Familiengeschichte nachzuholen. Sie dachte erneut über die möglichen Umstände des Todes ihrer Mutter nach. Wie war es überhaupt zu dem Herzinfarkt gekommen? All die Fragen, die sie schon gestern nur schwer wieder losgelassen hatten, geisterten von Neuem durch ihren hübschen Kopf.

      Was war der Auslöser für den Herzstillstand gewesen? Der Schmerz, den Laura in einer Vergangenheit erlebt, der sie über all die Jahre verfolgt und den sie bis zu ihrem Tod geleugnet hatte? Oder der Verlust von Violetts Vater, den sie nie verwunden hatte?

      Resigniert stellte Violett fest, dass sich ihre Mutter ihres Wissens nie auf die Suche nach seinem Grab begeben hatte. Warum? Wusste sie nicht, wo es lag? Sie hatte ihn doch so sehr geliebt.

      Die Tatsache, dass es das Herz gewesen war, das im Körper ihrer Mutter nicht mehr schlagen konnte oder wollte, bereitete Violett Magenkrämpfe. Sie merkte, dass sie sich erneut in einer Art Gedankenstarre befand, aus der sie sich lösen musste.

      Ein Tee würde ihren Magen sicher beruhigen. Gleichzeitig wollte sie unbedingt etwas mit einem hohen Koffeingehalt trinken, um den Tag überhaupt in Angriff nehmen geschweige denn überstehen zu können. Ehe Violett sich auf den Wandschrank zubewegte, in dem der Kaffee stand, trat sie entschieden auf das Fenster zu und riss die alten Vorhänge zur Seite. Sofort lag der Raum in blendendem Licht und wurde bis in den letzten Winkel mit Sonne geflutet. Violetts Augen schlossen sich kurz und öffneten sich dann langsam wieder, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Violett schritt dann bestimmt auf den Wandschrank zu, aus dem sie den Kaffee holte, den sie am liebsten so hochdosiert in die Kaffeemaschine geben wollte, sodass sie den Rest des Tages in einer Art Wachzustand verbringen würde. Sie musste vieles erledigen und durfte deshalb keine Schwäche zeigen. Zumindest heute nicht. Sie hatte nämlich nicht vor, zusammenzubrechen, wenn sie die Urnenbeisetzung mit Mr. Wilder besprach, den sie am Nachmittag aufsuchen wollte. Ihm gehörte das einzige Bestattungsunternehmen in der Nähe. Violett fand, dass er für seinen Beruf eigentlich ein viel zu fröhlicher Mensch war. Er war klein, kugelrund und stets bester Laune. Wenn man ihn auf der Straße traf, bekam man glatt das Gefühl, als würde ihm sein Beruf ein fortwährendes Lächeln ins Gesicht zaubern. Denn ein Familienleben hatte er nicht. Im Geschäft setzte er zwar oft eine Trauermiene auf, doch man hatte dabei stets den Eindruck, dass es ihm schwerfiel, sein für ihn typisches seliges Lächeln zu unterdrücken.

      Nun setzte Violett die Kaffeemaschine in Gang. Ein neues Modell. Brian hatte sie – für Laura völlig unerwartet – bei seinem ersten Besuch mitgebracht. Dieses Geschenk hatte Laura schon aus reiner Höflichkeit kaum ablehnen können, auch wenn sie Brian die Maschine wohl nur allzu gerne um die Ohren gehauen hätte. Brian hatte Violetts Nöte in der prähistorischen Welt ihrer vier Wände lindern wollen. Denn Violett hatte ihm natürlich vom morbiden Charakter der Wohnung erzählt.

      Nachdem Violett die Kaffeepads eingesetzt und den dafür vorgesehenen Behälter der Maschine mit Wasser gefüllt hatte, setzte sie sich auf einen der drei Stühle am Tisch, der das Zentrum ihres Wohnzimmers bildete. Sie trommelte gerade mit den Fingerspitzen auf der Tischoberfläche herum, als sie die Kaffeemaschine durch einen Piepton wissen ließ, dass sie das Wunder der Kaffeezubereitung vollbracht hatte. Violett wäre es fast lieber gewesen, es hätte ein bisschen länger gedauert. So musste sie sich schon wieder erheben. Sie schlurfte zur Maschine hinüber, wo sie, nun doch sehr dankbar, die gefüllte Tasse entgegennahm. Sie trank ihren Kaffee sonst zwar nicht schwarz, aber heute wollte sie eine Ausnahme machen. Dass er noch recht heiß war, störte sie ebenso wenig. Mit solchen kleinen Details wollte sie sich heute nicht aufhalten. Die Welt drehte sich für sie jetzt sowieso in eine andere Richtung. Sie hatte keine andere Wahl, als sich mitzudrehen. Sie lief in ihr kleines Zimmer, in dem ein Schrank stand, der all ihre Kleider beherbergte. Sie zog die schwarze Hose aus und legte sie fein säuberlich auf einen Stapel im Schrank. Da sie nicht ihr Eigentum war, wollte sie keine Falten riskieren, auch wenn dies im Moment eigentlich vollkommen zweitrangig war. Sie entschied sich für eine graue Hose und eine dunkelblaue Bluse, deren Farbe sie ein wenig an das Blau des von ihr so geliebten Meeres erinnerte. Ein kleiner Trost. Schließlich kam sie zu dem Entschluss, nichts weiter zu frühstücken.

      Sie schloss kurz die Augen und sah vor ihrem inneren Auge das Meer mit seinen majestätischen Schaumkronen. Nur zu gerne wollte sie die Brise spüren, die von Jodsalz geprägt war und bei günstiger Windrichtung an Land getragen wurde. Sie überlegte kurz, an die Küste zu fahren. Es gab einen Bus, der in ihrer unmittelbaren Nähe hielt. Dann aber befand sie, dass sie das Meer erst aufsuchen sollte, nachdem sie einen Teil ihrer Aufgaben erledigt hatte, da sie sich nicht sicher war, ob sie sich überhaupt wieder von ihm würde losreißen können, sobald sie es erst einmal gesehen hatte.

      Sie blickte auf die Uhr. Es war kurz vor elf.

      Das bedeutete, dass der Pfarrer noch nicht in der Mittagspause war, die er nicht gerade vorbildlich in einer kleinen Bar am Rande der Stadt zu verbringen pflegte. Er mochte Wasser predigen, dem Wein war er trotzdem sehr zugetan. Aber wer sollte es ihm verübeln? Denn auch ein Diener des Herrn, wie er sich selbst nannte, wollte die Seele von Zeit zu Zeit baumeln lassen. Seine Gottesdienste waren deswegen so beliebt, weil er es verstand, sowohl Anglikaner als auch Katholiken gleichermaßen anzusprechen. Violett glaubte, ihn schon allein deswegen bald aufsuchen zu müssen, weil er ihr gestern seine Hilfe angeboten hatte und sie ihn nicht kränken wollte. Außerdem brauchte sie tatsächlich ein offenes Ohr. Brian steckte schließlich auf Erkundungsreise und hatte sie schon vor Antritt seines Fluges nach Rom wissen lassen, dass er sein Handy ausschalten würde. Er wusste, dass Professor Conners, bei dem er seinen Abschluss machen würde, ein Mann der alten Schule war. Handyklingeltöne hatten seiner Meinung nach in einer so ehrwürdigen und geschichtsträchtigen Stätte wie Rom nichts zu suchen.

      Violett fand, dass ihre Bluse und ihre Hose züchtig genug waren, um ein Gotteshaus zu betreten. Außer zur Mittagszeit und nachts traf man den Pfarrer immer in der Kirche an, wie ihr die Leute in der Cafeteria berichtet hatten. Direkt neben dem alten Backsteingebäude stand laut den Erzählungen ein kleines Häuschen, das sich der Pfarrer sehr gemütlich eingerichtet hatte. Das ewige Glockengebimmel nebenan nahm er dafür angeblich billigend in Kauf.

      Violett warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Sie


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