Lang lebe die Lüge!. Liliana Dahlberg
Vor allem John und Jason wurden eine ausgeprägte unternehmerische Weitsicht und ein überaus großes Geschick nachgesagt, mit deren Hilfe sie ihre Biermarke, die von den Briten nur »Silver« genannt wurde, auch auf neuen Märkten erfolgreich platzieren konnten.
Nun ging es um die Aufteilung eines Erbes von geschätzt gut hundert Millionen britischen Pfund – Vermögenswerte, auf die außer Michael und Lydia Evans selbst bisher kein Familienmitglied hatte zugreifen können. Die Brauerei war aufgrund ihres sich täglich verändernden Wertes nicht in der Erbmasse enthalten, würde jedoch sicher in den Händen der Familie bleiben, die in Zukunft allenfalls einzelne Unternehmensteile outsourcen würde, um die Kosten zu senken. Das hatte der »große Evans« bisher weniger aus den unternehmerischen als aus den ethischen Grundsätzen seiner Firmenpolitik nicht zugelassen und kategorisch abgelehnt. Diese Maxime mussten sowohl Sadie und Sam als auch seine Enkelkinder bisher beherzigen. Die meisten Kenner der Familie und der Großteil der Journalisten gingen davon aus, dass Sadie Evans zugunsten ihrer Kinder, die die Geschicke der Brauerei bereits lenkten, auf das Erbe verzichten werde. Der Nachrichtensprecher sagte im selben Atemzug, es sei bereits der dritte große Schicksalsschlag, den die Evansʼ zu verkraften hätten. Als läge über dieser Familie, deren Mitglieder doch stets ein skandalfreies und vorbildliches Leben geführt hatten, ein Fluch. Ihre Tochter Laura war im Alter von vierundzwanzig Jahren völlig unerwartet an Nierenversagen gestorben, und Sadies Ehemann Sam war von einer Bergtour im Himalaja vor gut vier Jahren nicht wieder zurückgekehrt. Nun mussten die krisenerschütterte und -erprobte Sadie und ihre Kinder erneut große Stärke beweisen und in dieser schwierigen Zeit als Familie eng zusammenstehen.
Violett hatte bei dem Namen Laura kurz aufgehorcht. Doch dann war sie zu der Überzeugung gekommen, dass ihr lediglich ihre Fantasie einen üblen Streich spielte. Ihre Mutter würde doch wohl kaum dieser überaus wohlhabenden Familie entstammen. Zumal die Tochter der Evansʼ ja bereits mit vierundzwanzig Jahren verstorben war. Violett dachte, dass sie auf dem Boden der Tatsachen bleiben müsse und dass dieser sie wohl kaum zu den Evansʼ führen würde. Diese hätten sicherlich nicht jahrzehntelang die Existenz ihrer eigenen Tochter verleugnet, nur weil sie sich in einen mittellosen Mann verliebt hatte und von ihm schwanger geworden war. Das ergäbe überhaupt keinen Sinn. Man lebte schließlich im einundzwanzigsten Jahrhundert. Also schlug sich Violett diesen Gedanken wieder aus dem Kopf. Ich muss schon sehr erschöpft sein, um auf so einen Mist zu kommen, dachte sie.
Kurz darauf wurden ihre Augenlider immer schwerer, und sie fiel in einen tiefen Schlaf, der den Anstrengungen der vergangenen Stunden Respekt zollte.
Nach nur wenigen Stunden schreckte Violett aus ihren Träumen hoch, weil das Telefon klingelte. Wer rief sie da nur an? Hatte Brian geschwindelt, als er gesagt hatte, er würde sich an das von seinem Professor verordnete Handyverbot halten? Sie blieb für einen Moment so regungslos wie eine Porzellanpuppe. Sie traute ihren Ohren nicht. Aber das Telefon gab tatsächlich Laute von sich. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen. Sicherlich war es Brian. In dieser festen Annahme nahm sie ab und drückte sich den Hörer ans Ohr.
»Hallo, bist du’s, Brian?«
»Nein, so wollte mich meine Mutter zwar ursprünglich mal nennen, aber seit nunmehr sechzig Jahren höre ich auf den Namen Daniel. Hier ist Pfarrer O’Connell.«
»Woher haben Sie meine Nummer?«
»Vom lieben Gott zugegebenermaßen nicht. Hat mich zwei Gespräche gekostet. Eins nach Schottland und eins nach Italien.«
»Wie bitte?«
»Ich wusste, dass Sie mit Brian McCallister liiert sind. Ich habe Sie beide schon einmal zusammen im Ort gesehen. Er ist genau wie seine Familie hierzulande natürlich sehr bekannt. Dass niemand außer ihm Ihre Telefonnummer kennen kann, war mir ebenfalls schnell klar. Also rief ich zuerst in seiner Universität an, und die teilte mir mit, dass er auf Studienreise in Rom ist. Dann gab man mir die Hotelnummer seines Professors, dessen Vater ich übrigens schon als kleinen Jungen gekannt habe. Nun musste Mr. McCallister nur noch ans Telefon der Hotelrezeption geholt werden und … Ich wäre auch persönlich noch einmal bei Ihnen vorbeigekommen, aber der Bus von Sunderfield nach Westshire fährt nicht so oft, weshalb ich noch dort feststecke. Mein geliebtes Auto befindet sich nämlich gerade in der Werkstatt.«
»Was machen Sie denn in Sunderfield?«
»Etwas, was die jungen Leute ›surfen‹ nennen, ohne Wellen, versteht sich. Ich war bis vor Kurzem im Internetcafé.«
»Haben Sie etwa …?«
»Genau das habe ich.«
Violett war für einen Moment völlig sprachlos.
»Sie wollen sicher erfahren, was ich herausbekommen habe. Da Sie dem Schweigen am anderen Ende der Leitung zufolge gerade einen Schock erlitten haben, teile ich Ihnen die gute Nachricht mit: Ihr Vater ist im World Wide Web zu finden. Und: Er lebt!«
In diesem Moment fiel Violett der Hörer aus der Hand. Sie fasste sich an ihr Herz, das nun nicht mehr normal schlug, sondern regelrecht trommelte. Das konnte doch nicht wahr sein! Ihr Vater lebte! Laura hatte sie … Für einen kurzen Moment hatte Violett das Gefühl, alles im Raum würde anfangen, sich zu drehen. Sie schien zunächst völlig unfähig, den Hörer erneut in die Hand zu nehmen, doch dann griffen ihre Hände wie von selbst danach. Sie musste jetzt einfach die Wahrheit erfahren, auch wenn diese einen emotionalen Graben zwischen Laura und ihr aufwerfen könnte.
Als der Hörer wieder in ihren zitternden Händen lag, fragte sie: »Mr. O’Connell, sind Sie noch dran?«
»Ich habe extra gewartet, bis Sie wieder bei mir sind und sich gesammelt haben. Ihr Vater ist ein angesehener Juraprofessor geworden, aber schon mit gut dreiundzwanzig Jahren in die Vereinigten Staaten immigriert, noch als Student wohlgemerkt. Dort hat er schnell Karriere gemacht und bekleidet heute einen Lehrstuhl an der Columbia University.«
Violett war von dem Gehörten völlig überwältigt. Sie rief in den Hörer: »Danke, danke, Pfarrer O’Connell. Danke für alles.« Dann legte sie auf.
Die Wut über ihre Mutter gewann in ihrem Kopf vorerst nicht die Oberhand, sondern die reine Freude! Ihr Vater lebte! Und wie! Das musste gefeiert werden! Violett tanzte durch ihre Wohnung, ergriffen von einer bisher nicht gekannten Euphorie. Sie taumelte geradezu vor Glück. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie hatte einen Vater in Amerika! Sie überlegte, ob sie nicht sofort in das kleine Lebensmittelgeschäft von Mrs. Jackson laufen und sich eine Flasche Sekt kaufen sollte. Den konnte sie sich auf jeden Fall leisten, denn der Sekt, den Mrs. Jackson anbot, gehörte sowieso nicht gerade eben zur Spitzenklasse. Dennoch waren die wenigen Flaschen, die sich in ihren Regalen fanden, zu Violetts Verwunderung oft ausverkauft. Dann dachte sie, welchen Eindruck es erwecken mochte, wenn sie einen Tag nach Lauras Tod Sekt einkaufen würde, als hätte sie Grund zum Feiern. Dass sie im Gegensatz zu früher mit der Gewissheit lebte, einen Vater zu haben, konnte sie den Leuten schließlich schlecht erzählen. Dennoch war es natürlich wundervoll, quasi über Nacht einen Vater bekommen zu haben, und sie hätte es, wäre die Situation anders gewesen, an die große Glocke oder gar an »Big Ben« gehängt. So kam ihr nach kurzem Nachdenken die Idee, das Spirituosengeschäft von Mr. Cunningham aufzusuchen und den Lieblingswein ihrer Mutter, einen Sauvignon blanc, zu kaufen, wenngleich sie sich bezüglich ihrer Gefühle für Laura momentan recht unschlüssig war. Sie wollte aber nicht zulassen, dass die Wut über Lauras Lüge die Oberhand gewann, da zum einen die innere Freude und die Erleichterung überwogen und sie zum anderen zu dem Schluss kam, dass sie sich in einer ruhigen Minute noch einmal ihre ganz eigenen Gedanken über das Lügenkonstrukt ihrer Mutter machen konnte. Der Kauf des Lieblingsweins ihrer Mutter würde die Leute sicher nicht zu weiteren Tuscheleien hinreißen. Sie würden vielmehr denken, dass Violett auf diese Art und Weise ihrer gedenken wollte. Das traf zwar irgendwie durchaus zu, aber eigentlich wollte Violett verstärkt ihren Vater ins Zentrum ihrer Gedanken rücken und die an ihre Mutter zumindest vorerst verdrängen. Lauras Lügenhaus stand auf einem sehr wackeligen Fundament und begann endlich langsam einzustürzen, wenngleich sie es sicher aus einer Not heraus errichtet hatte und nicht, um ihre Tochter zu verletzen.
Violett nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen in den Vereinigten Staaten anzurufen. Es war doch sicher möglich,