Lang lebe die Lüge!. Liliana Dahlberg

Lang lebe die Lüge! - Liliana Dahlberg


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und natürlich einen eigenen Anschluss. Sie versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen. Als kleines Kind war ihr das immer nur sehr schlecht gelungen, aber ihre Vorfreude nährte ihre Fantasie in besonderem Maße. So stellte sie sich ihren Vater in einem imposanten Büro hinter einem nicht weniger beeindruckenden Schreibtisch vor. Dabei produzierte ihre Fantasie das Bild eines Mannes, das der Wirklichkeit zwar nicht entsprechen konnte, sich aber unglaublich selig anfühlte. Violett sah ihn vor ihrem inneren Auge und bediente dabei die Vorstellung des Edelmannes, den Laura ihr als Kind angedeutet hatte. Sie sah einen sichtlich ergrauten älteren Mann vor sich. Er trug einen edlen und vornehmen Nadelstreifenanzug, war in seinen Wesenszügen aber ganz natürlich. Cedric verkörperte mit seiner fast schon aristokratischen Erscheinung zwar eine besondere Eleganz, aber gleichzeitig auch eine bedeutende Bodenständigkeit. So wie Violett selbst. Sie formte in ihrem Kopf weiter die Vorstellung eines Mannes, der trotz seines Alters noch sehr fit war und lediglich einen kleinen Wohlstandsbauch angesetzt hatte. Sie stellte sich ihren Vater, Professor Maycen, mit einer kleinen schwarzen Brille vor, die relativ weit vorne auf seiner Nase saß und durch die er die Welt mit äußerst aufgeweckten Augen betrachtete, woraus die gleiche Neugier sprach, die Violett auszeichnete. Violett gab ihrem Fantasievater noch eine Pfeife in die Hand, an der er zog, wenn ihn die Studenten mal wieder zu viele Nerven gekostet hatten. Einen Schnurrbart verlieh sie ihm nicht, da sie das sehr altbacken fand. Die Zeiten von Tom Selleck waren schließlich vorbei. Außerdem war sie sich sicher, dass er um die Augen herum ein paar Lachfältchen hatte. Violett schmunzelte bei dieser Vorstellung.

      Nun war sie mit dem Bild ihres Vaters überaus zufrieden und beschloss, sich sofort auf den Weg zu Mr. Cunningham, dem Spirituosenhändler in Westshire, zu machen. Er verfügte über ein für den kleinen Ort außerordentliches Sortiment an erlesenen Weinen, sodass sein Geschäft, das etwas abseits des Geschehens in einem Wohnviertel des Dorfes lag, schon längst kein Geheimtipp mehr war. Auch aus anderen Städten der Region stammende Weinkenner und Liebhaber eines guten Tropfens fanden sich bei ihm ein und überließen ihm mit bestem Gewissen ihr Geld. Ein guter Wein war ja schließlich nicht mit Gold zu bezahlen, auch wenn viele Briten natürlich bevorzugt lieber zu einem Bier als zu einem edlen Rebensaft griffen. Mr. Cunningham freute sich natürlich darüber, dass sein Geschäft so florierte. Sein einst sehr düsteres Gesicht zeigte nun stets ein Strahlen, egal, wer über die Ladenschwelle trat; nur Jugendlichen wies er die Tür. Selbst abtrünnige Biertrinker waren ihm herzlich willkommen. Seine Sorgenfalten schienen sich zusehends zu glätten. Das Preisfeilschen mit den Händlern und Weinbauern hatte sich gelohnt, der Schuldenbetrag bei seiner Bank schrumpfte zusehends, sodass er sich seine schweißgebadete Stirn nicht mehr so oft wie früher mit seinem alten Taschentuch abwischen musste. Sein geblümtes Taschentuch zückte er für gewöhnlich, wenn er im Stress war. Sein ganz persönliches Markenzeichen. Die Leute im Ort scherzten, es habe wahrscheinlich schon in seiner Wiege gelegen.

      Violett raste mit der Geschwindigkeit eines Schnellzugs durch die Straßen zum Weinladen. Die Leute um sie herum nahm sie kaum wahr. Sie wollte nichts mehr erklären, sondern feiern. Mr. Cunningham war über ihr Erscheinen augenscheinlich leicht überrascht. Auf seine Mitleidsbekundung reagierte Violett gar nicht richtig. Er holte sein geblümtes Taschentuch hervor, tupfte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn und dachte bei sich: Jeder trauert anders. Er würde beim Verlust seiner Mutter vermutlich tagelang nichts essen können, was ihm angesichts seiner überflüssigen Pfunde allerdings auch nicht schaden würde. Die Welt seiner Bordeauxʼ und Rosés wäre jedoch nicht mehr die gleiche, er würde im Kontakt mit seinen Lieferanten und Händlern am Telefon wahrscheinlich ständig in Tränen ausbrechen und, um sie zu trocknen, nicht nur sein geliebtes Taschentuch, sondern seine ganze Tischdecke benötigen.

      Mr. Cunningham behielt seine Gedanken aber natürlich für sich. Violett befand sich währenddessen schon längst wieder in ihrem Wohnzimmer. Sie griff zu dem alten Korkenzieher, der wie gewohnt in der Schublade der antiquierten Kommode lag, und zog in Windeseile den Korken aus der Flasche, der gar keine andere Chance hatte, als sich Violetts Kraft, die sie aus ihren Armen und Fingern schöpfte, zu ergeben. Nun holte sie sich ein Glas aus der verstaubten Vitrine, allerdings nicht das, das Laura immer benutzt hatte, sondern vielmehr das, das für Gäste bereitgehalten worden war, obwohl es die in ihrem Haus nie gegeben hatte. In der Folge hatten die angestaubten Gläser bisher lediglich ein Dasein als Dekoration gefristet. Nachdem sie sich ein Glas des in Italien angebauten Weißweins eingeschenkt hatte, hob sie es mit den Worten zum Himmel: »Auf dich, Paps, ich freue mich auf dich.«

      Nicht nur der Alkohol ließ Violett in dieser Nacht ruhig schlafen, sondern auch eine innere Sicherheit, die sie bisher nie so deutlich gespürt hatte und die sie in einen erholsamen Schlaf wiegte.

      Als Violett am nächsten Morgen wieder zu sich kam, fiel ihr Blick auf den Kalender, und sie fuhr erschreckt empor. Sie hatte gestern vor lauter Freude ihre Schicht im Café vergessen! Ihr Arbeitsplatz war damit wohl Geschichte, zumal sie am Vortag um die Zeit, zu der sie eigentlich Tabletts und Gläser hätte jonglieren müssen, mit einer Weinflasche gesichtet worden war. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Sie war doch wirklich dämlich! Nicht, dass sie ihren Arbeitsplatz sonderlich vermissen würde, ihr Gehalt dafür aber umso mehr. Also lief sie eilig zum Telefon und wählte mit zittrigen Händen die Nummer des Cafés »Lorraine«. Ihr erster Anruf des Tages hatte eigentlich kein Orts-, sondern ein Ferngespräch in die Vereinigten Staaten sein sollen. Schöne Bescherung!

      Violett überlegte, welche Ausrede sie ihrem Chef präsentieren sollte, damit er sie nicht auf die Straße setzte. Doch bevor sie genauer darüber nachdenken konnte, meldete er sich bereits am anderen Ende der Leitung. Violett machte sich den Vorwurf, zuvor nicht noch einmal in sich gegangen zu sein, um sich im Kopf ein paar geeignete Ausreden zurechtzulegen. Aber vielleicht waren ja die, die direkt aus dem Bauch kamen, ohnehin die besten.

      »Dawson hier, Café Lorraine«, meldete sich die meist missgelaunte Stimme ihres Chefs. Er war mit einer Italienerin verheiratet und hatte seinem Café als Zeugnis seiner Liebe zu ihr eigentlich einen italienischen weiblichen Vornamen geben wollen. Dass er in die falsche Sprachkiste gegriffen hatte und über dem Eingang zum Café nun stattdessen in großen Lettern der Name einer Französin prangte, hatte ihm seine Frau offenbar noch nicht mitgeteilt. Wahrscheinlich wiederum ein Zeugnis ihrer Liebe. Man sollte seinen Angetrauten schließlich ehren, und wenn dazu gehörte, dass man ihm einen Fehler verschwieg, war das wohl ein Zeichen dafür, dass man sich die Worte des Pfarrers bei der Trauung sehr zu Herzen genommen hatte. Auch wenn der Fehler natürlich für jeden, der auch nur geringe Sprachkenntnisse hatte, deutlich sichtbar war.

      »Hier ist Violett«, begann sie schüchtern.

      »Ich habe dich gestern schon vermisst. Deine Kollegin, die gerade Feierabend machen wollte, hat sich natürlich gefreut, dass sie deine Schicht völlig überraschend auch noch übernehmen durfte. Das Lächeln steht ihr immer noch ins Gesicht geschrieben.«

      »Nun«, versuchte Violett zu erklären, die mit der Ausdrucksweise ihres Chefs oft Probleme hatte, denn er verstand es, Vorwürfe besonders ironisch zu verpacken.

      »Ich war gestern …«, fuhr sie fort, beschloss dann aber, gleich zum eigentlichen Punkt überzugehen: »Sitze ich jetzt auf der Straße?«

      »Was fragst du mich das? Du musst doch wissen, wo du dich gerade aufhältst«, scherzte Violetts Chef und ließ sie damit wissen, dass sie ihre Stelle nicht verloren hatte.

      »Danke«, entfuhr es Violett.

      »Kein Problem. Ich entlasse ungern so eine nette Bedienung wie dich. Ich glaube sogar, dass allein deine Anwesenheit den Umsatz steigert. Bei dir haben die Leute eben nicht das Gefühl, dass du sie am liebsten sofort um die Begleichung der Rechnung bitten willst, noch ehe sie überhaupt bestellt haben. Dann mach es mal gut. Noch einen guten Tipp: Alkohol ist keine Lösung, solange es kein gutes Bier ist. Auf Wiedersehen, Violett.« Ihrem Chef war ihr Gang zu Mr. Cunningham anscheinend nicht verborgen geblieben. Nun war sie also um eine große Weisheit reicher.

      Im Anschluss wählte sie sofort die Nummer der internationalen Auskunft, um mit den Vereinigten Staaten verbunden zu werden. Nachdem sie die Sorge um den möglichen Verlust ihres Arbeitsplatzes nun los war, würde die Neugierde auf ihren Vater sie jeden Augenblick zum Platzen bringen. Schon nach einem kurzen Gespräch mit einer Frau mit einer sehr


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