Lang lebe die Lüge!. Liliana Dahlberg
zu können. Sie war ohnehin davon überzeugt, dass ihr in nächster Zeit ein Lächeln nur schwer über die Lippen kommen würde. Selbst dann nicht, wenn sie ihre Lieblingsfolgen von Mr. Bean anschauen würde, die sie als Kind am Wochenende im Schlafanzug und mit einem Teller Brownies immer genossen hatte. Einen Fernseher und einen Videorekorder hatte ihr Laura glücklicherweise nie abgeschlagen.
Violett verwarf diesen doch sehr nichtig erscheinenden Gedanken und blickte aus dem Fenster. Draußen zeigte sich das Wetter weiterhin von seiner besten Seite. Im Gegensatz zum Vortag schien die Sonne hoch am Himmel, und man glaubte, die weißen Schäfchenwolken am Himmel an einer Hand abzählen zu können. Na schön, dachte sich Violett, vielleicht will mir Petrus ja nur Mut machen. Sie zog ihre High Heels an, denn sie gehörte der überzeugten Sex-and-the-City-Generation an. Ihre alten Halbschuhe hatte sie wenige Tage zuvor genüsslich weggeworfen. Entgegen der Einstellung ihrer Mutter sah sie keinen Grund dafür, in der Steinzeit zu leben. Trotzdem durchfuhr ein Messerstich ihr Herz, als sie die schicken Riemchen um ihre Fußgelenke legte. Musste sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Es war doch kein Verrat, wenn … Mit einem kurzen Kopfschütteln lief sie zum Schlüsselbrett, griff nach dem Haustürschlüssel und marschierte entschlossen aus der Tür. Ein schlechtes Gewissen plagte sie sowieso, doch ihre schönen High Heels sollten nicht darunter leiden.
Violetts Schritte verloren bereits an Sicherheit, als sie die Straße vor ihrer Haustür betrat. Sie fühlte eine starke innere Anspannung. Wie sollte sie sich ihren Mitmenschen zeigen? So, wie sie war? Innerlich von Zweifeln und Vorwürfen zerfressen? Sie spürte in ihren Schuhen plötzlich nicht mehr denselben Halt wie noch einige Tage zuvor, als sie eine Schuhverkäuferin an der Hauptschlagader von Westshire, der Fußgängerzone, glücklich gemacht hatte. Entlang der Fußgängerzone befanden sich einige Geschäfte. Violetts Mund wurde trocken, als sie an die Schneiderei ihrer Mutter dachte, die im Vergleich zu den anderen Geschäften zwar etwas außerhalb lag, aber dennoch gut zu finden war. In einem kleinen Dorf wie Westshire war sowieso alles nur wenige Schritte entfernt. Unvermittelt breitete sich in Violett neben der Trauer, die sie empfand, eine Empfindung aus, die sie schon als Kind ausgezeichnet hatte: Neugier.
Ob der Pfarrer etwas über die Herkunft ihrer Mutter erfahren hatte? Sie wunderte sich, dass in der Handtasche ihrer Mutter, die der Pfarrer sicherlich zur Verwahrung an sich genommen hatte, nicht ihre Ausweispapiere gewesen waren. Laura musste doch ihren Pass bei sich getragen haben. Denn die Papiere befanden sich, zumindest ihrem Wissen nach, auch nicht in der Wohnung. Violetts Schritte wurden wieder schneller. Um diese Uhrzeit herrschte auf den Straßen noch nicht allzu viel Betrieb. Als sie die Fußgängerzone erreichte, liefen ihr lediglich ein paar Leute über den Weg, die sie zwar kannte, mit denen sie über einen Gruß aber nie hinausgekommen war. Sie erkannte Mrs. Bridges, eine Rentnerin, die ihre Zeit am liebsten im Blumengeschäft zubrachte und die Existenz des Lädchens und deren Inhaberin, Mrs. Donaldson, sicherte. Violett überlegte, dass sie all die Blumen sicherlich nicht nur für ihren Garten oder die Verschönerung ihrer Wohnung verwendete. Gewiss schmückte sie mit ihnen auch das Grab ihres Mannes Alexander, der vor zehn Jahren gestorben war. Als sie Violetts Blick traf, lief Mrs. Bridges, so schnell es in ihrem Alter eben möglich war, auf sie zu.
»Oh, Violett!«, rief sie ihr mit einer für sie ungewöhnlich schrillen Stimme entgegen, »ich habe es noch gestern von meiner Nachbarin erfahren. Sie sagte mir, dass Sie Ihre Mutter auf tragische Weise verloren haben.«
Violett hätte es gefreut, wenn sie wenigstens bei ihrer Beileidsbekundung den Vor- oder Nachnamen ihrer Mutter erwähnt hätte. So empfand sie es doch als sehr unpersönlich.
»Ach, Violett, es ist wirklich schrecklich. Sie hatte doch noch so viele Jahre vor sich. Aber Kopf hoch, mein Kind! Ihre Mutter wird vor Gottes Angesicht sicherlich den Frieden gefunden haben, den sie sich gewünscht …« Mrs. Bridges verstummte schuldbewusst.
Violett stand der Mund offen. Wollte Mrs. Bridges etwa gerade andeuten, ihre Mutter hätte sich den Tod herbeigesehnt? Ihre Mutter hatte schließlich nicht an einer schlimmen und kräftezehrenden Krankheit gelitten, die ihr das Leben unerträglich gemacht hätte.
Mrs. Bridges wurde sich ihrer Worte bewusst, als sie Violetts entgeistertes Gesicht sah. »Ach, entschuldigen Sie. Ich bin nur so überwältigt davon, dass sie von uns gegangen ist. Ich dachte nur, dass Ihre Mutter vielleicht an einer schlimmen Herzerkrankung gelitten hätte, die ihr …«
»In gewisser Weise haben Sie recht, Mrs. Bridges«, meinte Violett mit zusammengepressten Zähnen. Dann entfernte sie sich grußlos.
Nun fühlte sie sich wieder um einiges schlechter. Zum Glück traf sie wenig später eine Kundin ihrer Mutter, die sich an den Ehrenkodex einer Mitleidsbekundung hielt. Violett war daraufhin zwar wieder etwas wohler, wenngleich sie sich wünschte, auf dem Weg zur Kirche keiner weiteren Menschenseele zu begegnen, damit sie ihre Gedanken besser sortieren konnte. Sie dachte erneut an den Totenschein, der nicht ausgestellt werden konnte. Ob die Nachforschungen erfolgreich gewesen waren? Laura musste schließlich irgendwo im Land geboren worden sein. Immerhin wurde bei jeder Geburt eine Eintragung in ein Register vorgenommen und ein entsprechendes Dokument erstellt, das Lauras Existenz nicht verschweigen konnte.
Sie erreichte nach zehn Minuten Fußmarsch den leicht erhöht liegenden kleinen Friedhof, in dessen Mitte die Dorfkirche stand. Sie blickte kurz hinauf zur Turmspitze, die wie immer stolz in den Himmel ragte. Mit einem klammen Gefühl betrat sie den gepflasterten Weg zur Kirche, wobei sie glaubte, den Boden unter ihren Füßen nicht mehr zu spüren. Automatisch lenkte sie ihr Körper in das Innere der Kirche. Sie betrat sie zum ersten Mal. Sie war weder religiös erzogen worden noch hatte sie bisher der Hochzeit oder Beerdigung eines Freundes oder Bekannten beigewohnt. Doch als sie das Gotteshaus betrat und ihre Füße sie bis vor zum Altar trugen, gab es in ihr doch einen inneren Widerhall. Den Pfarrer konnte sie zunächst nicht entdecken. War er etwa schon zu seiner Mittagspause aufgebrochen? Doch als sie sich gerade etwas genauer umsehen wollte, hörte sie seine Stimme, die von einem erhöhten Punkt zu ihr herabkam. Sie drehte sich um und sah Mr. O’Connell auf der Kanzel stehen, wo er gerade mit einem alt aussehenden Tuch Staub und Fingerspuren seiner Bibellesungen wegwischte.
»Hallo Ms. Maycen. Ich komme sofort zu Ihnen. Sie müssen entschuldigen. Aber auch der Herr verlangt etwas Ordnung und wünscht sich, dass sein Haus in Schuss bleibt. Sie verstehen?« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, soweit Violett es aus der Entfernung beurteilen konnte.
Er stieg eilig die Treppe zu ihr herunter. Im Gegensatz zu gestern lächelte er die junge Frau freundlich an, was Violett freute und ihr guttat. Denn ihr war es lieber, auf diese Weise getröstet und aufgebaut zu werden. Als er schließlich vor ihr stand, merkte er, dass sich Violett fast ein bisschen scheu in der Kirche umsah.
»Keine Angst«, scherzte er, »das Haus bricht nicht über Ihnen zusammen, nur weil Sie es zum ersten Mal betreten.« Ermunternd sah er ihr in die Augen.
Violett wollte sich eigentlich nicht lange in dem Inventar seiner Wirkungsstätte verlieren, doch sie war sprachlos, als sie die wunderschöne goldene Orgel entdeckte, die sich rechts vom Kirchenschiff befand.
»Wir haben es schön hier, nicht wahr?«, meinte er instinktiv und hatte damit Violetts Gedanken erraten.
»Ich wusste gar nicht, dass es hier so schön ist. Auch das Kirchenfenster ist eindrucksvoll«, entgegnete Violett leicht hypnotisiert.
»In ihm spiegeln sich meiner Ansicht nach die Farben des Lebens wider. Es sind nicht wenige, die sich von ihnen getröstet fühlen«, fuhr der Pfarrer fort, der sich offenbar über Violetts Interesse freute.
Dann hielt Violett inne. Im Grunde wollte sie nicht länger Zeit verlieren. Es gab zu viele Fragen, die auf eine Antwort drängten.
»Mr. O’Connell, Sie haben angeboten, mich in meiner Trauerarbeit zu unterstützen. Ich muss aber erst einmal so einiges selbst verstehen, um damit beginnen zu können. Es ist nämlich so …« Violett stockte.
»Ich glaube, ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich bin meinerseits recht verwundert über eine Begebenheit, von der ich Ihnen berichten muss. Mein Kind, gehen wir doch lieber hinüber in mein Pfarrhaus. Dort ist es gemütlicher, sodass Ihnen das Reden sicherlich leichter fallen wird. Ich halte es auch