Lang lebe die Lüge!. Liliana Dahlberg
Stimme, »ist es nicht möglich, dass ich den Nachnamen meines Vaters trage?«
»Die Behörden haben zunächst natürlich auch in diese Richtung geforscht. Ihre Mutter scheint, wenn überhaupt, nur eine symbolische Ehe eingegangen zu sein, denn es gibt kein Schriftstück, das ein von ihr und einem Mann geschlossenes Bündnis bezeugt.«
»Darf ich Ihnen noch etwas anvertrauen?«
Der Pfarrer lächelte leicht amüsiert, als sei dies eine völlig überflüssige Frage. Sprachen sein Beruf und sein Auftreten ihr gegenüber nicht für sich?
»Reden Sie nur, ich habe Ohren, die viel hören und einiges aushalten können«, meinte er. »Dass ich, egal, welche Information Sie mir auch geben mögen, zum Schweigen verpflichtet bin, ist Ihnen ja bekannt. Schon bevor ich mich der Religion und dem Herrn verschrieben habe, habe ich die Geheimnisse vieler Klassenkameraden mit mir herumgetragen. Die hätte keiner aus mir herausgeholt. Selbst dann nicht, wenn man mich mit Lakritze und Lollis auf dem Schulhof bestochen hätte. Da die Sorgen und Nöte meiner Klassenkameraden bei mir schon immer gut aufgehoben waren, besaß ich wohl bereits früh eine nicht zu verachtende Prädestination für meine Stellung, wobei dieses Wort für mich kaum eine Bedeutung hat. Denn für mich ist sie vielmehr eine Aufgabe und Berufung.«
Violett nahm all ihren Mut zusammen, bevor sie weitersprach: »Meine Mutter war für mich schon früh eine Art Gralshüterin. Nur einmal – ich war gerade fünf Jahre alt – hatte ich die Chance, den vermeintlichen Vornamen meines Vaters zu erfahren. Ich hoffe, dass zumindest dieser kein Fantasieprodukt meiner Mutter war.«
»Das würde ich mir ebenfalls wünschen. Verraten Sie ihn mir?«
»Cedric«, stieß Violett angestrengt hervor.
»Das könnte tatsächlich ein Anhaltspunkt sein«, meinte der Pfarrer und legte seine Stirn in Falten. »Da bisher keine Familienmitglieder zur Identifizierung Ihrer Mutter ausfindig gemacht werden konnten, ist er der Einzige, den wir vorerst haben.«
»Bewahren Sie die Tasche meiner Mutter auf?«, fragte Violett.
»Die Behörden haben sie an sich genommen, obgleich keinerlei Papiere darin waren. Ich denke aber, dass Sie die Tasche in einigen Tagen werden abholen können. Denn schließlich werden die Beamten aller Voraussicht nach keine weiteren Nachforschungen anstellen.«
Violett verließ das Pfarrhaus mit dem Gefühl, eine Spur verfolgen zu können, die sie am Ende vielleicht zu einer Antwort auf all die ungelösten Fragen führen würde. Ihr Herz pochte so heftig, als wäre es durch diesen Lichtblick zu neuem Leben erweckt worden. Eine Reanimation, die eine einfache Nachricht ausgelöst hatte: Sie hatte die Möglichkeit, ihren Vater zu finden. Und selbst wenn er, wie Violett schon als Fünfjährige aus Lauras Erzählung geschlossen hatte, nicht mehr unter den Lebenden weilte, würde die Gewissheit, seinen Namen zu tragen, sein kaltes Grab nicht mehr ganz so trostlos erscheinen lassen. Im Gegenteil. Denn Violett war sich sicher, dass sie es als Verknüpfungspunkt zwischen ihrer eigenen Seele, der von Laura und natürlich der ihres Vaters verstehen würde. Auch wenn sie nur noch im Geiste als Familie vereint wären, weil ihnen die Umstände des Schicksals die Chance auf ein gemeinsames Leben genommen hatten, so glaubte Violett dennoch, dass sie eine innere Einheit spüren würde, nach der sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte. Dass Laura ihr nur so wenig von ihrem Vater erzählt hatte, ließ darauf schließen, dass sein Tod sie unsagbar verletzt hatte.
Der Gedanke, dass Laura ihr den Vater bewusst vorenthalten hatte, als dieser noch lebte, schien ihr unerträglich. Denn hatte sie nicht angedeutet, er hätte nicht das Geld gehabt, sie zu ernähren? Ein Gefühl von Wut brandete in ihr auf. Hatte Laura aus falschem Stolz die Tür zu ihrem alten Leben für immer zugeschlagen? Hatte sie Violetts Vater nicht das Gefühl geben wollen, für sie aufkommen zu müssen? Violett musste diese Gedanken verdrängen, um nicht verrückt zu werden. Nein, Laura hätte ihr das bei all der Geheimniskrämerei sicher nicht angetan. Nicht ihrer geliebten Tochter …
Als sie ihre Wohnung betrat, wurde Violett bewusst, dass ihr dieses Gedankenspiel eine Menge Kraft geraubt hatte, die sie doch gerade jetzt so dringend brauchte.
Sie sah auf die Uhr und registrierte, dass die Mittagszeit schon vorüber war. Aus den Toastscheiben, die noch in ihrem Brotkasten lagen, machte sie sich ein kleines Sandwich, das sie mit all dem, was ihr im Kühlschrank in die Hände fiel, recht wahllos belegte. Gedankenverloren strich sie Butter und Ahornsirup auf die Toastscheiben, bevor sie sie zum Abschluss noch mit ein wenig Käse garnierte. Sie brachte das Sandwich aber nicht nur wegen seiner merkwürdigen Zusammenstellung nur schwer hinunter. Die Freude darüber, unter Umständen ihre wahren Wurzeln zu finden, und die Angst davor, eine Wahrheit zu erfahren, die sie nicht ertragen konnte, hatten in ihr einen großen inneren Widerstreit entfacht, der sich wie ein starkes Feuer anfühlte.
Heute musste sie ihre Schicht im Café zum Glück erst am Abend antreten, obwohl dort Hochbetrieb herrschen dürfte.
Violett beschloss, so bald wie möglich den Bus nach Sunderfield, die nächstgrößere Stadt, zu nehmen, wo es ein Internetcafé gab. Sie selbst besaß nämlich leider keinen Computer mit Internetzugang. Sie hatte die Hoffnung, dass ihr Vater irgendeine Spur im Netz hinterlassen haben könnte. Denn man sagte bekanntlich oft, dass das Internet alles wusste. Aber galt das auch für einen Menschen, der vor gut einundzwanzig Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach noch gelebt hatte, sich jedoch nicht durch eine besondere Leistung hervorgetan hatte? Schließlich kannte sie nicht einmal den Beruf ihres Vaters. Wenn er zum Zeitpunkt von Lauras Schwangerschaft tatsächlich nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung gehabt hatte, konnte er wie sie einer einfachen Tätigkeit nachgegangen sein oder im besten Fall in einem Studium gesteckt haben. In dem Fall wäre ein Erfolg ihrer Suche um einiges wahrscheinlicher. Mit diesen Gedanken setzte sie sich vor ihren alten Fernseher, den viele wohl eher in einem Museum vermuten würden. Violett wusste zwar, dass auf BBC im Moment die Nachrichten liefen, schaltete ihn aber dennoch ein, obwohl sie in ihrer Verfassung eigentlich keine Katastrophenmeldungen gebrauchen konnte.
Eine der ersten Nachrichten, die über den Sender gingen, betraf den Tod eines Mannes und seiner Frau, die ein weltweites Brauereiimperium begründet hatten und zu den bekanntesten Gesichtern Großbritanniens zählten: Michael und Lydia Evans. Beide waren in Frankreich auf der Hauptstraße nach Mandlieu – eine malerische Stadt in der Provence – tödlich verunglückt. Dort verbrachten sie den Meldungen zufolge in einem großen romantischen Feriendomizil ihren alljährlichen Urlaub. Das Anwesen erstreckte sich über mehrere Tausend Hektar und war von zahlreichen Weinbergen umgeben.
Es gehöre aber nicht der Familie, sondern guten Freunden der Evansʼ, hieß es in den Nachrichten weiter.
Aus ihr vollkommen unerklärlichen Gründen überkam Violett ein beklemmendes Gefühl, als sie die Bilder des Ehepaares und ihres verunglückten Wagens sah. Auf merkwürdige Art und Weise fühlte sie eine innere Verbundenheit mit Michael und Lydia Evans. Aber warum? Sie kannte die beiden doch überhaupt nicht. Vielleicht hatte sie in irgendeiner Zeitung schon einmal von ihnen gelesen, aber das konnte doch noch keine emotionale Bindung zu ihnen herstellen. Sie erinnerte sich auch nicht daran, zuvor schon einmal ein Foto von den beiden gesehen zu haben. Violett sank auf ihrer Couch merklich in sich zusammen. Mit einem Mal verfolgte sie den Fernsehbericht wie gebannt. Sie konnte ihre Augen kaum mehr von den schrecklichen Bildern lösen, die das verunglückte Auto sowie Michael und Lydia Evans in ihrer Brauerei oder auf gesellschaftlichen Anlässen zeigten. Die außergewöhnliche Anziehung, die die Evansʼ auf sie ausübten, konnte doch kaum an ihrer wirtschaftlichen Macht und dem damit einhergehenden Prestige liegen.
Es wurde weiter berichtet, dass sich die »großen Evansʼ«, wie sie von ihren Landsleuten liebevoll genannt wurden, schon vor längerer Zeit aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatten. Die Führung des Betriebs hatten sie vor zwei Jahrzehnten an ihre Tochter Sadie und deren Mann, Sam Miller, übergeben. Dieser entstammte einer großen amerikanischen Brauereidynastie, mit der die Evansʼ Anfang der Neunzigerjahre fusioniert und so die weltweite Marktführung übernommen hatten. Ihre Biermarke »Silverline« wurde daraufhin weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Wie ein Prinzenpaar hatten sie die Brauerei sowohl nach innen als auch außen repräsentiert. Gut neunzehn Jahre später hatten sie das Zepter aus persönlichen