Lang lebe die Lüge!. Liliana Dahlberg
wurde, spürte sie einen richtigen Trommelwirbel in ihrem Herzen. Endlich! Sie würde ihrem Vater durch dieses Telefonat ein Lebenszeichen senden, das er durch seine Stimme erwidern würde. Als würden sie sich gegenseitig Morsezeichen durchgeben und eine Botschaft, die nur sie beide verstanden. Wie herrlich, das Warten hat ein Ende, dachte sie glückserfüllt, als sich am anderen Ende der Leitung eine freundliche Frauenstimme meldete.
Violett war jedoch zunächst mit der Sekretärin der Universität, Mrs. Summers, und nicht mit der Bürovorsteherin ihres Vaters verbunden worden.
»Hier ist Mrs. Summers. Die Sekretärin der Hochschule …«
»Könnte ich bitte sofort mit Professor Maycen sprechen?«, schoss Violetts heraus, ehe Mrs. Summers überhaupt weiterreden konnte. Violett hoffte, in wenigen Augenblicken die Stimme ihres Vaters zum ersten Mal hören zu können. Doch was sollte sie ihm eigentlich sagen? Hallo, bitte nicht auflegen! Ich bin deine Tochter. Oder …
Doch dann folgte die Ernüchterung auf dem Fuße, denn Mrs. Summers meinte: »Da haben Sie Pech. Er macht nämlich gerade eine Kreuzfahrt in die Karibik, und da möchte er natürlich nicht gestört werden. Er hat sein Handy und all seine Paragrafen zu Hause gelassen, Sie verstehen? Wie ich der Nummer auf meinem Display entnehmen kann, rufen Sie aus Großbritannien an. Wollen Sie sich für einen Studienplatz hier bewerben? Falls …«
Violett ließ enttäuscht den Hörer sinken. Sie hörte der Sekretärin gar nicht weiter zu, sondern legte resigniert auf. Ihr großer Wunsch, ihren Vater zu sprechen, war nicht in Erfüllung gegangen. So versetzte sie sich in Gedanken ebenfalls in die Karibik und träumte davon, mit ihrem Vater barfuß an einem weißen Sandstrand mit Blick auf ein türkisblaues Meer entlangzuspazieren und ihm all das sagen zu können, was ihr auf der Seele lag, sodass all die Fragen, die sie beschäftigten, wie eine schwere Last von ihr fallen würden. Violett war beinahe wieder in der gleichen Stimmung wie kurz nach Lauras Tod, nur dass es diesmal hauptsächlich Enttäuschung war, die ihr einige Tränen aus den Augen lockte.
Sie fühlte sich erneut vollkommen energielos und schlurfte im Pyjama und mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand zum Briefkasten. Sie dachte, dass die Beileidskarten schließlich auch ein Recht hatten, irgendwann gelesen zu werden. Vielleicht würden sie sie sogar ein bisschen aufbauen. So stakste sie das Treppenhaus hinunter und ging auf ihren roten Briefkasten zu, dessen kaminrote Farbe an die vielen schnuckeligen Telefonhäuschen erinnerte, die man auf der Insel großteils ausgemustert hatte. Wie in Zeitlupe öffnete Violett die Klappe des Briefkastens, als hätte sie Angst davor, diese könnte sie erschlagen. Kaum hatte der Briefkasten seinen Inhalt preisgegeben, fielen Violett an die zwanzig Beileidskarten in die Hände, die recht zerknittert waren. Anscheinend hatte sie der Briefträger aus reiner Not in ihren Briefkasten regelrecht hineingepresst, in der Hoffnung, dieser würde nicht nachgeben. Violett klemmte sich die Beileidskarten unter den Arm und warf noch einen Blick in das Zeitungsrohr, in dem wie an jedem Tag der Tageskurier steckte. Mittlerweile waren es schon zwei.
Als Violett die beiden Exemplare herauszog, bog gerade der Briefträger um die Ecke.
»Hallo, Violett. Tut mir leid, wenn ich deine Briefe vergewaltigt habe. Aber ich habe mir gedacht, dass ich das Recht des Stärkeren anwenden muss, damit du deine Post bekommst.«
»Keine Sorge, Paul«, erwiderte Violett und konnte schon wieder ein wenig lächeln. Sie mochte den Briefträger sehr. Sie beide kannten sich schon, seit sie ihre ersten Brieffreundschaften geschlossen hatte.
»Ich habe hier noch etwas für dich«, meinte der Briefträger, »es ist ein Einschreiben.«
»Will etwa jemand das viele Geld, das ich von meiner Mutter geerbt habe?«, scherzte Violett und gab Paul eine einigermaßen leserliche Unterschrift.
Der Briefträger meinte: »Das Schreiben ist mit einem Siegel versehen und kommt von einem Notar, der offensichtlich den Nachlass irgendeiner Person verwaltet, die nicht mehr …« Er beendete seinen Satz nicht und fügte hinzu: »Tut mir leid, dass ich so neugierig war und den Briefkopf gelesen habe. Aber so ein Siegel ist auch nur schwer zu übersehen. Neugier sollte einem Vertreter meines Berufs eigentlich fremd sein.« Er drückte Violett den Umschlag mit dem roten Siegel in die Hand.
»Ist schon gut, Paul. Machʼs gut und grüß mir deine Frau.«
»Mach ich gern. Bis dann. Auf Wiedersehen. Alles Gute.«
Violett betrachtete die Anschrift näher. Moment mal! Er kam von einem Nachlassverwalter aus London! Wieso London? Es hätte sich doch einer von hier in der Nähe melden müssen, um ihr das Geld zu übertragen, das Laura in ihrem Leben so eisern zusammengespart hatte. Ein Testament hatte Laura zwar nie gemacht, aber ihre Bank hatte sich sicher mit einem Notar in Verbindung gesetzt. Violett interessierte sehr, welche Summe Laura auf ihrem Bankkonto hatte. Doch sie verstand immer noch nicht, warum sie ein Dokument mit Londoner Absender in den Händen hielt. Eine Nachricht von irgendwelchen Verwandten sähe schließlich anders aus.
Sie eilte die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf, wo sie die Karten erst einmal auf ihrer Couch ablegte. Den Umschlag aus der Hauptstadt öffnete sie behelfsweise mit einem Messer. Dann zog sie ganze vier Blätter aus ihm heraus. Na ja, Notare waren noch nie dafür bekannt gewesen, sich kurz fassen zu können. Doch was Violett nun schwarz auf weiß geschrieben sah, verschlug ihr vollkommen die Sprache. Das Schreiben war an eine Violett Evans gerichtet. Hatte sich da jemand einen Witz erlaubt? Es war doch nicht der erste April! Die ganze Aufmachung des Dokuments sprach allerdings nicht für einen dummen Scherz, zumal es von einem Justin Whittlestone mit Doktortitel beglaubigt war. Sie las den Brief noch einmal kopfschüttelnd durch und verspürte dabei den beinahe unwiderstehlichen Drang, die Weinflasche von gestern Abend erneut zu öffnen. Sie zwickte sich, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte, überprüfte ihren Verstand, indem sie das Abc vor sich hersagte. Da ihr dabei anscheinend kein Fehler unterlaufen war, befand sie sich wohl noch immer im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Noch einmal ging sie das Dokument im Stillen durch. Dort stand in schönster Juristensprache geschrieben:
An Erbpartizipantin Violett Evans
Violett Evans, die rechtmäßig erbende Tochter von Laura Evans, gest. am 05.09. d. J., wird zur Verlesung und Eröffnung des Testaments am 20. September um 9 Uhr zur Klärung der Hinterlassenschaften ihres Großvaters Michael Evans, gest. am 06.09. d. J., geladen. Aufgrund der Erbsumme wird um persönliches Erscheinen gebeten und darum, keine im eigenen Auftrag handelnde Person mit Prokura zu bestellen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Justin Whittlestone
Bei Fragen und für weitere Rechtsbelehrung stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, sobald das Testament verlesen wurde.
Unter dieser Nachricht war noch die Adresse von Whittlestones Büros verzeichnet, das allem Anschein nach im Herzen der Hauptstadt lag.
Die übrigen beigelegten Seiten bestanden aus einer Auflistung von Paragrafen und einer Rechtsbelehrung über das allgemeingültige Nachlassverfahren.
Violett wurde ganz schwarz vor Augen. Sie war eine Evans! Lauras Geister der Vergangenheit lebten also in einer stattlichen Villa an der Themse. Diejenigen, die sie zu einem verschlossenen Menschen und ihr das Leben einst zur Hölle gemacht hatten. In Violetts Adern floss also das Blut von Lauras größtem Feind: ihrer eigenen Familie. Violett fiel der Name Sadie Evans ein, den sie in den Nachrichten gehört hatte. Die dort gezeigten Bilder waren aber älteren Datums gewesen. Violett vermutete, dass sie den Achtzigern zuzuordnen waren. Sadie musste Lauras Schicksal damals doch aus nächster Nähe miterlebt haben. Hatte sie ihrer Schwester denn nicht helfen können? Verhindern können, dass der Himmel über ihr einbrach?
Sie musste ihr so schnell wie möglich gegenübertreten. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie überhaupt auch nur einen Penny aus dem Erbe der Evansʼ anrühren sollte. Wäre es in ihren Händen nicht schmutziges Geld? Sie wollte so schnell wie möglich mit Mr. O’Connell Kontakt aufnehmen, zumal sie sich auch darüber wunderte, dass es der Nachlassverwalter geschafft hatte, sie in diesem kleinen Ort ausfindig zu machen. Ein Kunststück, das den Evansʼ bisher nicht geglückt war.
Violett