Flucht von der Hudson Bay. Mario Ziltener

Flucht von der Hudson Bay - Mario Ziltener


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werden Sie sicher verkraften können, so jung und hübsch wie Sie sind!«

      »Sicher schon, aber die zwanzig Pfund Sterling, die ich für die Bahnfahrt ausgegeben habe, die verkrafte ich nicht einfach nur so, weil ich jung und hübsch bin!«

      Leise knurrend hob Eddie seinen Veston auf Brusthö­he ein wenig an und klaubte mit einem sicheren Griff seine Brieftasche hervor, zwängte Zeigefinger und Daumen in das Notenfach, klemmte zwischen seinen Fingern einen Zwanzig-Pfund-Schein fest und zog diese heraus. Noch heute tat es ihm weh, wenn er sich von Banknoten trennen musste. Ein Phänomen, wel­ches ihn seit seiner Kindheit begleitet hatte. Zu Geld an und für sich hatte Eddie mittlerweile keinen Bezug mehr, sein Vermögen hatte sich in den Jahren kon­stant immer und immer wieder vergrössert. Geld aus­geben machte ihm sogar Spass. Lediglich wenn es um Bargeld, vor allem aber Banknoten, ging, dann schmerzte es.

      »Hier sind zwanzig Pfund! Ist schon richtig, dass Sie sich wehren, wenn ich so etwas einmal vergesse. Das kann es in meinem Alter schon mal geben.«

      »Macht nichts, Herr Palmer, Hauptsache ist doch, dass meine Auslagen gedeckt sind. Sonst nichts.«

      »Ja, sonst nichts. Auch keine Gehaltserhöhung zu Weihnachten? Das ist ja schön, so kann ich mir bereits wieder einen Termin streichen!«

      »Das ist sicher ein Scherz!«, schmunzelte Tammy amüsiert und verliess den Raum.

      Hätte Eddie sie von vorne sehen können, hätte er gemerkt, dass sie ein wenig gekränkt war. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben nach dieser kleinen, aber nicht unwichtigen Unterredung. Sie schwor sich aber, keine Miene zu verziehen und niemandem die Möglichkeit zu geben ihre Schmach zu entdecken. Sie fürchtete sich davor, ausgelacht zu werden. Die anderen moch­ten dies sehr, Tammy auszulachen. Sie machten hin und wieder verletzende Sprüche darüber, wie Tammy sich gegenüber ihren Vorgesetzten verhielt. Dazu noch so, dass Tammy sie hören musste: im Fahrstuhl, auf der Toilette. Immer in der richtigen Lautstärke. Manchmal fühlte sich Tammy am falschen Ort, aus­gegrenzt und ohne wirkliche Freunde am Arbeitsplatz. Gerade jetzt überlegte sie sich einmal mehr, ob es nicht sinnvoller wäre, wenn sie sich nach einem neuen Arbeitsplatz umsehen würde. Allerdings wäre dann auch Eddie unerreichbar weit weg. Ein für alle Mal. Es wäre ohnehin besser und nervenschonender. Manch­mal hatte Tammy das Gefühl, dass die anderen sie beneideten, obwohl es dafür keinerlei Anlass gab. Sie war nicht besser als die anderen und auch Eddie hatte kein anderes Verhältnis zu ihr als zu den anderen auch.

      Sie beschloss, die Sache einfach ruhen zu lassen und den Tag abzubrechen, nach Hause zu fahren und sich zu erholen. Morgen würde die Angelegenheit wieder vergessen und die Welt wieder in Ordnung sein. Nur Kaffee würde sie Eddie nicht bringen, auch morgen nicht.

      ***

      Der Aufbruch war kein stiller, traf Tammy beim Auf­zug doch auf Eddie, welcher sich gerade bei ihr ent­schuldigen wollte, doch die Lifttüren liessen ihm kei­ne Zeit dazu. Sie öffneten sich und schliesslich brauchte ja auch nicht jeder zu wissen, was vorgefal­len war. Also wollte er sich erst versichern, wirklich ungestört mit Tammy reden zu können, bevor er zu reden begann.

      »Ich möchte mich entschuldigen, Tammy, und die Sache von vorhin wieder in Ordnung bringen, wenn ich dies irgendwie kann!«

      »Kann ich gut verstehen. So etwas kann einen ganz schön plagen. Aber es ist auch schön zu sehen, dass sogar mein Chef ein schlechtes Gewissen haben kann.«

      »Das habe ich tatsächlich. Wie gesagt, ich möchte es wirklich wieder gut machen, wenn ich nur wüsste wie!«

      »Da gäbe es doch so vieles, an was Frauen wie ich Freude haben könnten. Nur braucht es dafür ein wenig Fantasie.«

      »Fantasie, ja...soll ich mir mal das mit der Gehaltser­höhung noch einmal durch den Kopf gehen lassen?«

      »Das könnte durchaus einen gewissensberuhigenden Effekt haben.«

      »Also, sprechen wir morgen weiter darüber. Ich werde mir schon noch etwas einfallen lassen. So wahr ich Palmer heisse!«

      Der Aufzug hatte das Erdgeschoss erreicht und Eddie stürmte aus der Kabine, murmelte noch etwas wie ,Einen schönen Abend noch‘, dann war er auch schon aus Tammys Blickfeld verschwunden. Aktenkoffer in der einen Hand, die Reisekataloge unter den rechten Arm geklemmt. Eddie war immer in Eile, wenn sein

      Chauffeur auf ihn wartete. Eigentlich wartete der je­den Tag den ganzen Tag auf Eddie, denn dafür war er ja eingestellt worden. Manchmal hatte er auch spezielle Aufgaben. Kurierfahrten etwa. Befohlene Ruhezeit, nannte er es, wenn er den Wagen zu waschen hatte. Nicht weil er dann rumgesessen hätte, sondern weil er den Wagen ausschliesslich in seiner Mittagszeit wusch, denn ausserhalb der Mittagszeit hätte Eddie ja jederzeit sein Fahrzeug brauchen können. Mit einem halbfertig gewaschenen Rolls Royce auf Londons Strassen unterwegs zu sein, wäre beinahe ebenso un­möglich, wie wenn man versuchen würde, sich den Glöckner von Notre Dame ohne einen Buckel vorzu­stellen. So ähnlich mindestens.

      Tammy schlenderte den Fassaden der ultramodern gebauten Geschäftshäuser entlang, welche eine un­sichtbare Hitzewelle abstrahlten und in regelmässigen Abständen die Abluft der Klimaanlagen auf den Bür­gersteig bliesen. Abluft, angereichert mit Papierstaub, Erfolg, Existenztragödien und Schweiss. Ein ekliger Gedanke. Tammy stellte sich vor, wie sie nach dem Passieren eines solchen Abluftauslasses behaftet war, mit den Gerüchen fremder Menschen. Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte und auch nichts im Geringsten mit ihnen zu tun haben wollte. Wenn sie sich aber tiefergehende Gedanken darüber machte, was aus solchen Abluftschächten und Kanälen alles zu erfahren sein müsste, dann wurde es wieder interes­sant.

      Sie näherte sich ihrer U-Bahn-Station, Baker Street, welche allabendlich die Menschenmassen verschluck­te. So sah das wirklich aus: Wenn man auf der gege­nüberliegenden Strassenseite im Schnellimbiss sass und hinüber schaute, dann verschwand der Strom aus in Anzügen steckenden Geschäftsleuten urplötzlich im Boden. Exakt an jener Stelle, an welcher die Rolltrep­pe die gestressten Glieder der Banker, die strapazier­ten Muskeln der Feuerwehrmänner oder die mit Laufmaschen bestückten Sekretärinnen Beine in den Untergrund zog. Wie von Geisterhand. Tammy stellte sich auf die Rolltreppe und liess sich in den Unter­grund fahren, wo sie erstmals einen Blick auf die Ta­belle mit den Abfahrtszeiten warf. Obwohl sie seit rund einem halben Jahr die Strecke mit dieser Unter­grundbahnlinie fuhr, konnte sie sich deren Abfahrts­zeiten nicht merken. Einige glaubte sie jeweils zu wissen, war dann aber doch meist unsicher und kon­trollierte die Abfahrtszeiten sicherheitshalber noch einmal, bevor sie sich aufs Perron stellte. Die Fahrt von Baker Street nach Hornchurch dauerte jeweils rund fünfundvierzig Minuten, viel Zeit um Menschen zu studieren, oder in einem Buch zu lesen. Manchmal war ihr Begleiter auch eine Tageszeitung. Dies nur dann, wenn sie in Hornchurch einem der Zeitungsver­käufer begegnete, welche jeweils früh morgens ihre Zeitungen schreiend unter die Leute brachten, oder aber sie konnte sich eine bereits zerlesene Zeitung in der U-Bahn ergattern.

      Der Zug preschte in die Station, und ein warmer, muf­figer Luftzug ging ihm voraus. Der Kampf um die

      Sitzplätze war wieder einmal eröffnet. Strategie war gefragt. Richtige Position erkämpfen, noch bevor der Zug anhielt, dann noch ein wenig korrigieren, vorsich­tig, aber bestimmt. Mit einem Zischen, verursacht durch die entweichende Druckluft, öffneten sich die Türen und dann schob sich die auf dem Perron war­tende Menschenwand auf die schmalen Türen zu. Erstaunlich zu sehen, wie die Nadelstreifengilde in­nert weniger Sekunden zu brutal kämpfenden Mons­tern wurde, nur deswegen, weil sie einen einzelnen Sitz erkämpfen wollten, was es ohnehin nur ganz ver­einzelt gab. Die Fahrt verlief an diesem Abend absolut unspektakulär und Tammy war müde. Schon nach einigen wenigen Stationen, auf der Höhe von Liver­pool Street Station, schlief sie tief und fest. Kurz vor Hornchurch erwachte sie wieder, so wie immer. Sie hatte dies bereits im Blut, ihr Körper wusste genau, wann Zeit zum Erwachen war. Der erlösende Schritt aus der Untergrundbahn und danach vor allem aus der Station hinaus war ein lang ersehnter Moment. Frische Luft und endlich: Feierabend.

      Überredens Strategie

      Eddie Palmer kannte das


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