Flucht von der Hudson Bay. Mario Ziltener

Flucht von der Hudson Bay - Mario Ziltener


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Angenehm war das. Die so gewonnene Zeit konnte er jeweils dazu nutzen, sich Notizen zu ma­chen, Sitzungen vorzubereiten oder, so wie heute Abend, um nach Überzeugungstheorien zu suchen. Oh­ne Angst haben zu müssen, einen Unfall zu verursa­chen. Shannon, seine Frau, war noch nie sonderlich von Urlaub machen angetan gewesen. Es sei denn, es handelte sich um einen typischen Strandurlaub. Strandurlaube waren allerdings wiederum nicht Ed­dies Sache und so mussten immer wieder gute Über­zeugungsreden vorgebracht oder Kompromisse ge­schlossen werden. Gerade heute würde wieder einer dieser Abende werden, an welchen sich Shannon und Eddie stundenlange gegenseitig zu überzeugen ver­suchten. Keiner war an solchen Abenden richtig glücklich und eine Lösung wurde ohnehin keine ge­funden. Meist endete ein solcher Überzeugungsver­such damit, dass entweder Shannon im Gästezimmer übernachtete oder Eddie verliess das Haus und fuhr ins Pub, unten im Dorf, um sich dort die Nacht um die Ohren zu trinken. Normalerweise traf er an solchen Abenden Freunde wie Trevor oder Paul. Zu dritt führ­ten sie dann, nachdem der Pub geschlossen hatte, die Trinkabende im privaten Kreise weiter, bis in die frü­hen Morgenstunden. Besonders förderlich für das Eheleben waren solche Vorkommnisse natürlich nicht. Aber nach dreiundzwanzig Jahren häuften sich solche Abende. Schleichend. Da aber keiner der beiden nachtragend war, gefährdeten diese Abende das Fort­bestehen der Ehe nicht. Im Gegenteil. Nach solchen emotionalen Ausbrüchen wurde das zweisame Leben wieder viel bewusster erlebt.

      Eddie blickte starr auf die vorbeifliegenden Bäume, Häuser und Menschen am Strassenrand. Craig, sein Chauffeur, hatte dies im Griff: Er befuhr beinahe je­den Abend eine andere Strecke. Diese passten meist auch zu Eddies Stimmung. Eddie wollte es einfach versuchen, mit Shannon einig zu werden und nahm sich zu diesem Zweck auch vor, heute keinesfalls das Haus noch einmal zu verlassen, sollte Shannon wirk­lich nicht einlenken. Eddie attestierte seiner Frau mo­dern, selbstbewusst und reif zu sein, lediglich in dieser einen, im Jahr einmalig auftretenden Frage wollte sie sich nicht von ihrer eigenen Meinung abbringen las­sen. Stur, dickköpfig und arrogant; so hätte Eddie sie in solchen Momenten beschrieben. Glücklicherweise hatte er bis anhin noch keine Gelegenheit dazu gehabt, denn - da war er sich sicher - dann wären ihm hun­dertprozentig die Scheidungspapiere ins Haus geflat­tert. Genau dies wollte er auf jeden Fall vermeiden. Eine Scheidung hätte ihn nicht nur einen Haufen Bar­geld gekosten, von welchem er sich ja bekanntlich nicht gerne trennte, sondern unter gewissen Umstän­den auch seine Firma. Diese konnte man ja nicht in zwei Teile aufteilen, ausser wenn man sie liquidieren würde. Sie hätte in jedem Fall ein Mitbestimmungs­recht erhalten. Also noch einmal: Auf die Zähne beissen, nett, aber bestimmt darauf hinweisen, dass in der momentanen Lage eine Kreuzfahrt das Beste sein würde. Kein Telefon, kein Faxgerät und zwischen dem Ozeandampfer und der Firma nur Wasser. Viele Millionen Kubikmeter Wasser. Vielleicht sogar Ku­bikkilometer, falls es dies gab. Da kam ihm eine Idee: Den Gesundheitsfaktor würde er als Argument her­vorheben müssen. Shannon als Gesundheitsfanatike­rin, Aerobicschülerin der ersten Stunde und Vitamin­bunker würde dann sofort zusagen. Eddie würde gleich am nächsten Tag die Tickets bestellen und be­zahlen. Genau, das war die Lösung und nur so würde es gelingen. Da war er sich ganz sicher. Alles auf eine Karte gesetzt und mit vollem Risiko gespielt, das Ma­ximum an Gewinn herausgeholt.

      Craig bremste brüsk und Eddie stiess sich das Kinn an seinem Whiskyglas.

      »Verdammt, Craig!«, brüll­te Eddie wutentbrannt, »kannst du denn nicht ein we­nig sanfter bremsen?«

      »Entschuldigen Sie, Sir, aber vor uns da fuhr, ent­schuldigen Sie bitte den rüden Ausdruck, ein Arsch­loch. Ein grosses Arschloch sogar. Grundlos hat der mich unerwartet ausgebremst! Das ist mir noch nie passiert!«

      »Nun beruhige dich wieder, Craig! Das kann es doch geben. Vielleicht hatte der Fahrer des Wagens auch nur gesehen, dass hinter ihm ein Rolls Royce fährt. Wenn er also in die Eisen steigen würde und der Fah­rer des Rolls Royce auf seinen Wagen auffahren wür­de, dann bekäme er ein neues Auto bezahlt.«

      »Könnte sein, auch wenn ich diese Art, ein neues Au­to zu kaufen, verabscheue!«

      »Du bist ja auch ein gewissenhafter Mensch, leider sind aber nicht alle so wie du, Craig!«

      »Danke, Sir, vermutlich haben Sie da recht. Ich werde also versuchen die Angelegenheit zu vergessen.«

      »Ja, ich denke das wäre wohl das Beste. Wann werden wir zu Hause sein?“

      »Ich schätze noch rund dreissig Minuten, kommt al­lerdings darauf an, ob es noch weitere solch nette Fahrer auf der Strasse hat, wie der von vorhin.«

      »Vielen Dank, Craig. Wenn es nur noch fünfzehn Minuten dauern würde, wäre ich auch nicht böse. Ich bin müde und hungrig!«

      Kaum hatte Eddie seinen Satz beendet, wurde er in den Sitz gedrückt und ein guter Schluck des Whiskeys schwappte über und auf seinen Anzug. Er wollte aber grosszügig sein und verzichtete deswegen darauf, Craig ein weiteres Mal anzuschnauzen heute Abend. Eigentlich mochte Eddie es überhaupt nicht, wenn er seine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte, dennoch konnte er es nicht immer verhindern. So drehte er seinen Kopf wieder den vorbeirauschenden Parks und Wohnhäusern zu, welche langsam in einem Meer von Dunkelheit versanken.

      »Sir, noch zehn Minuten!«

      »Danke, Craig!«

      Mit einem Mal war Eddie nervös. Noch zehn Minuten also, bis er Shannon begrüssen würde. Noch zwanzig Minuten, bis sie sich nach seinem Tag erkundigen und weitere drei Minuten, bis sie ihm ‘Ich liebe dich, Mäuschen’ sagen würde. Danach würden sie essen und dann, da war sich Eddie sicher, würde entweder Shannon das Gespräch in Richtung Urlaub lenken oder aber er würde den Anfang machen müssen.

      Schneller Atem und Herzklopfen waren die Anzeichen dafür, dass Eddie dies als eine wirkliche Heraus­forderung sah. Er durfte sich keinen Fehler erlauben, denn mit nur dem kleinsten Fehler konnte er alles kaputtmachen. Auf nimmer Wiedersehen, intakte Chance!

      Der Wagen hielt an der Einfahrt, welche durch ein pompöses, verspieltes Schmiedeeisentor verschlossen war. Craig stieg aus dem Wagen, kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel, steckte diesen ins Schloss und drehte ihn nach links. Langsam begann das schwere Tor nach innen zu schwenken. Sobald dieses sich vollständig geöffnet hatte, fuhr Craig die schwere Limousine behutsam auf das Grundstück. Sämtliche Fahrwege waren mit Kieselsteinen bedeckt. Herumfliegende Steine hätten die Lackierung des Wagens beschädigt. Das Knirschen der kleinen, spit­zen Steine unter dem Gummi der Pneus war ein selt­sames Geräusch. Zumal man den Motor, welcher den Rolls Royce bewegte, kaum hören konnte. Je näher das Haus kam, desto nervöser und aufgeregter wurde Eddie. Hastig legte er die Kataloge in seinen Akten­koffer, vergewisserte sich, dass dieser auch wirklich richtig verschlossen war, zog sich die Krawatte zu­recht, räusperte sich und blickte - rein gewohnheits­halber - auf die Uhr. Halb acht. Essenszeit.

      »Danke Craig für die angenehme Fahrt und einen schönen Abend noch. Morgen erst um neun Uhr, ich werde vorher noch ein wenig ausreiten gehen.«

      »Alles klar, Sir. Wünsche wohl zu ruhen.«

      Endlich zu Hause

      Eddie betrat den Windfang und wurde dort bereits erwartet.

      »Guten Abend, Sheena. Darf ich ihnen den Mantel überlassen?«

      »Guten Abend, Sir. Gerne nehme ich ihnen diesen ab. Madam wartet bereits auf sie, im Salon.«

      »Danke, Sheena. Ich werde mich gleich um sie küm­mern. Erst mach ich mich noch ein wenig frisch.«

      »Das werde ich Madam mitteilen, wenn’s recht ist.« »Gerne, ja.«

      Eddie mochte Sheena besonders gut leiden, denn er hatte sich immer eine Tochter gewünscht wie sie. Blond, brav, gute Manieren und loyal. Trotz vielen Versuchen Kinder zu bekommen hatte es bei den Palmers nie eingeschlagen. Schicksal, glaubte Eddie, Shannon glaubte an etwas anderes. Allerdings hatte sie dies Eddie gegenüber nie gesagt. Nur gedacht. Er blickte Sheena nach und begann ein wenig zu träu­men. Er träumte allerdings nur die ersten vier Minuten und brach danach den Traum sofort ab, weil er ihn als ,viel zu gefährlich‘ einstufte. Gefährlich deshalb,


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