Flucht von der Hudson Bay. Mario Ziltener

Flucht von der Hudson Bay - Mario Ziltener


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zulassen, aber einen gewissen Reiz hatte der Gedanke schon.

      Sheena war gerade aus seinem Blickfeld verschwun­den, als die Türe zum Salon geöffnet wurde. Schnells­tens machte Eddie sich aus dem Staub, denn er wollte vermeiden Shannon in seinem momentan abgekämpf­ten und schweissgetränken Zustand zu begegnen. Schliesslich hatte er schon immer Wert auf ein makelloses Erscheinungsbild gelegt. Er huschte die Treppe nach oben, verschwand im Schlafzimmer, warf dort sein Jackett auf das Bett, um nachher nur noch im Hemd bekleidet im Badezimmer zu verschwinden. Eine kurze Katzenwäsche würde ausreichen um das Gröbste an Geruch abzuwaschen. Mit ein wenig Eau de Toilette besprüht und einem frischen Hemd würde er sich wieder wohl fühlen.

      Nur gerade zehn Minuten nach seiner Ankunft zu Hause begab er sich in den Salon, wo Shannon sicher schon ziemlich wütend auf ihn wartete. So nahm er an. Die Türe liess sich ganz leicht öffnen und die Flie­sen aus Marmor am Boden strahlten das ganze Licht der Deckenbeleuchtung ab, welches sich in ihnen spiegelte.

      »Hallo Liebling, ich bin zu Hause!«, machte Eddie auf sich aufmerksam.

      Unnötigerweise, hatte Shannon ihn doch ohnehin bereits gehört und Sheena hatte ihr auch schon von der Ankunft ihres Mannes berichtet.

      »Schön, du bist spät heute.«

      »Ja, ich musste noch einiges erledigen, das nicht war­ten konnte. Du kennst das ja.«

      »Eben leider, kenne ich dies. Ich hatte gedacht, dass wir mal wieder einige Tage in den Urlaub fahren könnten. Abschalten und ausbrechen.«

      Eddie konnte seinen Ohren nicht ganz trauen. Was hatte Shannon da gerade gesagt?

      »Wie bitte? Ich war gerade ein wenig abwesend«, antwortete er, um eine Wiederholung von Shannons Aussage zu bekommen.

      »Ich hatte gesagt, wir könnten wieder einmal in den Urlaub fahren, abschalten und uns erholen.«

      »Ungewohnt, dies von dir zu hören. Aber warum nicht? Bloss, ein Strandurlaub kommt bei mir gar nicht in Frage!«

      Damit hatte Eddie bereits alles riskiert und der Abend konnte damit nun aus dem Ruder laufen. Shannon hingegen tat einfach so, als hätte sie seinen letzten Satz gar nicht gehört. Sie ignorierte ihn zum ersten Mal, seit er sie kannte. Was war nur mit ihr los?

      »Wollen wir nicht zuerst essen und danach darüber sprechen, Honey, ich bin sehr hungrig.«

      Eddie ver­suchte damit, Zeit zu gewinnen, um seine Gedanken zu ordnen. Für ihn war klar, dass Shannons Gedanken in dieselbe Richtung gingen wie die seinen. Nur eben die Sache mit der Kreuzfahrt, das war noch ein mögli­cher Stein des Anstosses.

      Shannon griff zur silbernen Glocke, jene mit dem schön geformten Griff und schüttelte diese, was das Zeug hielt. Kurz darauf öffnete sich die Türe zum Salon und Sheena erschien im Türrahmen.

      »Sie haben mich gerufen?«, fragte sie und blickte er­wartend in die Runde.

      »Ja, Sheena. Servieren sie das Abendessen«, befahl Shannon in einem Ton eines strammen Feldwebels.

      »Sicher, Madam, kommt sofort. Wenn sie sich ins Speisezimmer begeben würden, dort ist bereits alles vorbereitet.«

      »Dann werden wir uns hinüber begeben, komm Shan­non«, sagte Eddie und erhob sich.

      Einsam im Hafen

      Die Sonne senkte sich langsam über den Hafen von Southampton. Mit ihr verschwand auch die angenehm warme Sommerabendluft und machte einer frischen Brise Platz. Tom Barker hatte den ganzen Tag mit Betteln zugebracht. Jetzt erstellte er gerade die Tages­bilanz. Dreizehn Pfund, sechzig Pence hatte ihm der Tag eingebracht. Nicht gerade viel, aber immerhin genug um eine grosse Portion Fish and Chips zu es­sen. Auch für die eine oder andere Dose Bier würde es reichen. Seine Hosen standen vor Dreck und die Schuhe waren eigentlich keine Schuhe mehr, so viele Löcher hatten sie. Er erinnerte sich daran, wie er sie vor sechs Jahren gestohlen hatte. Beinahe wäre er damals erwischt worden, als er seine alten Schuhe wieder ins Regal zurückstellte und mit den neuen den Laden verliess. An seine letzte wirkliche Bleibe konn­te er sich schon gar nicht mehr erinnern. Lediglich eines war noch fest in seinem Gedächtnis verankert: das Haus seiner Eltern. Gerne hätte er ihr Haus über­nommen, damals als sie auf tragische Art und Weise bei einem Autounfall ums Leben kamen. Da seine Schulden aber so hoch waren, musste er das Haus verkaufen, um die ausstehenden Beträge begleichen zu können. Dies hatte sein Herz zerrissen. Nicht nur hatte er mit dem Verlust seiner Eltern zu kämpfen gehabt, sondern er hatte gleichzeitig die letzte Erinne­rung an sie verkauft. Das Haus. Ein Spekulant hatte das stattliche, standesgemässe Haus damals gekauft und sogleich abgerissen, um ein Hotel auf dem Grundstück zu bauen. Zwei Tage nach der Unter­zeichnung des Verkaufsvertrages fuhren die Bagger mit der Abrissbirne auf. Mit einem Schlag und unter grauenhaftem Getöse zerbarsten die Fenster, Dachzie­gel und die Balken, bis schliesslich der Rest des Hau­ses in einer grossen Staubwolke in sich zusammenfiel. Nur fünf Monate danach stand ein Hotelbunker an jener Stelle. Limousinen fuhren vor und wieder weg. Tom hatte alles verloren. Er lebte seither auf der Strasse, bekam kein Bankkonto, weil er keinen festen Wohnsitz hatte. Weil er kein Bankkonto hatte, bekam er auch keine Arbeit, weil die Firmen eine Konto­nummer brauchten um seinen Lohn zu überweisen. Kein Bankkonto, kein Lohn. Eine Wohnung oder gar ein Haus bekam er keines, weil er keinen Lohn nach­weisen konnte. Schuld an alledem waren Spekulanten, aber auch er. Zwar nur ein wenig, aber er gestand es sich ein, dass er früher über seinen Verhältnissen gelebt hatte und heute dafür büssen musste. Darüber beklagt hatte er sich noch nie. Mittlerweile hatte er sich aber daran gewöhnt, auf der Strasse zu leben. Auch daran, Löcher in den Schuhen und schmutzige Kleidung zu haben. Nur andere Menschen um ein Almosen zu bitten, daran hatte er sich trotz all der Jahre noch nicht gewöhnen können. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass er sich jemals daran gewöhnen könnte. Einmal im Jahr besuchten ihn die Theoretiker vom städtischen Wohlfahrtsamt. Ein wunderschöner Name für dieses Amt, welches sich um die Ausgegrenzten kümmerte. Diese Herren tru­gen Anzüge und gaben vor, seine Probleme zu kennen und ihn zu verstehen. So ein Witz. Sie mussten ja keine löchrigen Schuhe tragen. Die Anzugträger rede­ten dann mit ihm über belanglose Dinge, begleiteten ihn, für einen von der Stadt gesponserten Untersuch, zum Arzt, danach war er wieder für ein Jahr verges­sen. Ausgegrenzt eben. Andere Freunde hatte Tom keine mehr. Er hatte sich äusserlich derart verändert, dass ihn seine ehemaligen Freunde gar nicht mehr erkannten. Da er nie mit anderen sprach, konnten sie auch anhand seiner Stimme nicht auf die Identität schliessen. Sie glaubten, er sei verschollen oder gar tot.

      Jeden Tag überlegte sich Tom, was er in Zukunft tun könnte, um aus seinem trostlosen Dasein auszubre­chen. Einen Neuanfang wollte er wagen, nur wo und wie und vor allem womit? Geld besass er keines und in England wollte er auch nicht unbedingt bleiben. Aber wie wegkommen? Immer wieder dachte er nach. Schon oft hatte er gehört, dass einige versucht hatten, als blinde Passagiere mit dem Flugzeug auszureisen. Allerdings war da die Überlebenschance sehr klein, da die Temperaturen so weit über der Erde sehr tief wa­ren. Zweitens war Tom nicht schwindelfrei und drit­tens wusste er auch nicht, wie er den Weg nach Lon­don zurücklegen sollte. Diese Möglichkeit fiel also gleich weg. Per Anhalter mit dem Auto auszureisen war auch nicht möglich, denn es gab ja Grenzkontrol­len und einen Reisepass besass er auch nicht. Zudem konnte er sich nicht vorstellen, von jemandem, der ihn nicht kannte, mitgenommen zu werden. Er selbst hätte auch niemanden mitgenommen, besonders dann nicht, wenn es eine Grenze zu passieren gab und der Mitfah­rer über keinen Reisepass verfügte. So war das Projekt vorerst aufgeschoben.

      Sein täglicher Ablauf blieb also beim Alten, keine Veränderung.

      Schwimmendes Altersheim

      Shannon faltete ihre Serviette und legte diese neben ihren noch halbvollen Teller. Ihr erwartender Blick verriet, dass sie auf eine Fortsetzung des im Salon begonnenen und dann abgebrochenen Gesprächs war­tete. Eddie wusste die Zeit nun gekommen, mit dem Überzeugungsgespräch zu beginnen.

      »Wegen deiner Idee Urlaub zu machen. Ich finde die­se grundsätzlich gut. Auch ich habe mir


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