Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen. Billy Remie
zu einem vertrauten Flüstern: »Das ist nicht das, was du tun willst. Mel, mein Bruder, ich bitte dich, er ist nur ein alter Mann! Das willst du nicht wirklich tun!«
Es dauerte viele stille aneinander gereihte Augenblicke, bis Derricks silberne Augen zu meinem Verstand durchdrangen und ich nicht mehr alles durch den roten Schleier der Wut sah. Manchmal gereichte es auch zum Vorteil, Feinde am Leben zu lassen, und sei es nur, damit sie Gerüchte verbreiten konnten. Der Mann war nur ein Gastwirt, kein Soldat, keine Wache, ihn zu töten hätte mir nur den Ruf eingebracht, ich würde Unschuldige abschlachten.
Ich senkte das Schwert und trat zurück.
»Nun denn«, sagte ich zu dem Gastwirt, »geht, bis wir fort sind.«
Der Mann zögerte, aber ein Blick in meine hassverzerrte Miene ließ ihn eilig aus dem Gasthaus rennen. Ich wollte ihn immer noch töten, während ich ihm nachsah, doch trotz meiner berechtigten Wut tat ich es nicht. Man vergeudet kein Leben, das eventuell noch einen Nutzen haben konnte. Sollte der alte Mann doch verbreiten, dass Rebellen durch das Land zogen, mein Ruf sollte mir vorauseilen, genau das wollte ich.
»Meine Brüder!«, reif ich noch voller Zorn und drehte mich zu ihnen um. »Meine Brüder, wir sind in Feindesland!«
Sie begannen zu grinsen.
»Hier ist alles erlaubt!«, beschloss ich und schon brach das Chaos aus. Sie eilten an mir vorbei wie ein Hunderudel, das einen Hasen gewittert hatte. Unaufhaltsam und von niederen Instinkten getrieben.
Zufrieden steckte ich mein Schwert zurück in die Scheide.
Ich hörte die Frauen schreien, als meine Brüder sie in der Küche überraschten.
»Kostja, bring mir und Derrick Met und etwas zu essen«, trug ich dem jüngsten Mitglied unserer Bruderschaft auf, damit auch er verschwand.
Dann wandte ich mich an Derrick. Wir waren allein und blickten uns ernst an.
»Er wusste es!« Ich war mir ganz sicher. »Menard muss von der Geburt des Erben gewusst haben!«
4
Wer Tod verlangt, wird Tod erhalten.
Vielleicht sieht es so aus, als wäre ich das Monster in dieser Geschichte.
Möglicherweise stimmt das auch.
Aber ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich niemals willkürlich töte. Mein Hass auf meine Feinde ist berechtigt. Und vergessen wir nicht, das Carapuhr das Land der Barbaren ist, hier ging es schon immer ziemlich rau zu. Wir sind wilde Hunde, verzottelt und ungezähmt, und unsere Frauen sind stark und füllig, damit sie sich gegen uns wehren können. Der Stärkere siegt. So einfach ist das.
Ich erwähnte bereits, dass die Elkanasai unser Volk versklavten? Gut! Hierzu möchte ich kurz etwas detaillierter berichten.
In Elkanasai gibt es keine armen Bürger, wie es sie in Carapuhr gab. In Elkanasai wurde die niedere Arbeit von Sklaven verrichtet, Menschensklaven. Es gibt also im Reich der Spitzohren nur Adelige und Soldaten. Um die Nachfrage an Menschensklaven zu decken, unterwirft Elkanasai andere Kontinente. Aber sie schlachten uns nicht willkürlich ab. Nein. Dank König Amon ist jede Stadt, jedes Dorf, jede noch so kleinste Siedlung verpflichtet, einen gewissen Anteil an Kindern abzugeben, die von den Elkanasai versklavt werden.
Ich muss wohl nicht erwähnen, dass über die Hälfte davon zu Lustsklaven alter Männern gemacht wurden.
Alle anderen, die nicht versklavt werden, erhalten einen kleinen Gewinn. Eine Abfindung für den Verlust, sozusagen.
Sie rotteten uns nicht aus, sie benötigten Nachschub, aber sie hielten uns damit klein. Sie stielten uns unsere Kinder, immer und immer wieder, damit wir nicht zu zahlreich wurden, um eine große Rebellion anzuführen.
Ihr denkt, ich sei grausam? Ein Monster? Oh nein, ich bin nur unglaublich wütend. Ihr denkt, ich hätte ohne Derrick einen unschuldigen alten Mann niedergestreckt? Ihn ohne triftigen Grund getötet?
Meint ihr?
Ich fragte den alten Mann, ob er ein Anhänger des Verräterkönigs sei – dem König, der es zuließ, dass man sein Volk versklavte –, und er sagte mehr oder weniger, ja, als er mich als Rebell beschimpfte.
Anhänger der Elkanasai sind jene Bürger, die vom Sklavenhandel profitierten. Dieser alte Mann hatte zugelassen, dass Soldaten seinen Nachbarn die Kinder noch aus den Kindsbetten wegnahmen. Er hatte ja nichts zu befürchten, denn er lebte in keiner Siedlung. Gasthäuser außerhalb, die nur von einer Familie betrieben wurden, wurden verschont, wenn die Anzahl der Kinder nicht fünf überstieg.
Und die Bewohner der Steinstadt Bons? Deren Wachen ich nur zu gerne getötet hätte? Sie gaben ihre Kinder freiwillig ab, weil sie zu feige zum Kämpfen waren.
Ich hatte also gute Gründe, zum Schwert zu greifen. Einen unschuldigen Bauern hätte ich nicht erschlagen. Zumindest nicht aus reinem Vergnügen.
Es ist unnötig zu lügen, jedem ist bewusst, dass ich Freude am Töten habe. Man braucht nur wenige Augenblicke mit mir zu verbringen um das zu wissen. Der Unterschied zwischen mir und einem Sadisten ist, dass ich dieses Vergnügen nur an jenen auslasse, die ich ohnehin opfern muss.
Aber vertraut mir, ich habe Gründe. Gute Gründe. Denn ich wurde einst übel verraten, und ich habe weiß Gott genug mit ansehen müssen.
Oh versteht mich nicht falsch, ich will mich nicht rechtfertigen. Ich bin durch und durch ein Barbar, das liegt in meiner Natur. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass meine Feinde ebenso blutrünstig sind.
Also hört euch meine Geschichte an, hört euch an, was ich zu erzählen habe. Ich bin sicher, am Ende werdet ihr verstehen. Vielleicht hättet ihr anders gehandelt, aber ihr werdet verstehen. Reisen wir weiter und ihr werden erkennen, wer die wirklichen Monster sind.
***
Drei Tage nachdem wir das Gasthaus verlassen hatten, hielt ich mein Pferd auf einem Hügel mit dem Blick auf eine kleine Siedlung an.
Ich hatte meinen Feinden eine Nachricht hinterlassen. Am Scheunentor des letzten Gasthauses standen mit dem Blut einer geschlachteten Ziege – die übrigens köstlich geschmeckt hatte – meine üblichen Worte: »Die Pest auf euer aller Häuser, Verräter!«
Die Kinder und die Frau des alten Mannes hatten wir natürlich am Leben gelassen. Nicht weil ich gütig gewesen wäre, ich wollte nur, dass sie meinen Feinden von mir und meinen Männern berichten konnten.
Derrick saß neben mir auf seinem Pferd und blickte mit düsterer Miene auf die Siedlung hinab. Es begann wieder leicht zu schneien und vereinzelte Schneeflocken verfingen sich in seinem gelockten Haar.
Die Hufe unserer Pferde standen in tiefen Matsch. Jedes Mal, wenn eines der Tiere ein Bein anhob, gab der Boden ein Schmatzen von sich.
Wir befanden uns weit im Westen Carapuhrs, hier war der Boden stets so warm, dass der Schnee nicht lange liegen blieb, daher der viele Schlamm.
Vor uns erstreckte sich eine aufgeweichte Hügellandschaft, die von armen Bauern besiedelt war. Ich konnte den Dunst der Schweine von unserem Aussichtsplatz aus riechen.
Kalt war es auch ohne Schneedecke auf dem Boden, das erkannte ich an den Atemwölkchen, die aus Derricks großen Nasenlöchern und seinen leicht geöffneten Lippen drangen.
Ich starrte ihn an, starrte die rote Nase und die feuchten Lippen an.
Derrick wandte mir sein Gesicht zu und bat mich leise: »Lass uns gehen.«
»Nein«, beschloss ich trocken und wandte meine Augen wieder ab.
Derrick blickte mich befürchtend von der Seite an.
Rauch stieg von der Siedlung auf, ich konnte die verbrannten Gerüste einiger zerstörter Hauser erkennen. Elkanasaisoldaten füllten die Gassen. Ich konnte die Frauen schreien hören, ich konnte zusehen, wie sie die Bewohner der Siedlung