Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen. Billy Remie
Leben nun in Sklaverei. Denn das ist es, was die Elkanasai mit Menschen machten. Sie versklavten uns.
»Carapuhr ist noch nicht verloren«, knurrte ich und lehnte mich zurück.
Mein Blick durchforstete das düstere Innere des Gasthauses. Seit dem frühen Nachmittag besetzte ich mit meiner Truppe aus siebenundsiebzig Mann – Conni eingeschlossen – dieses Gebäude und den angrenzenden Hof. Nur meine engsten Vertrauten hatten das Privileg mit mir im warmen Inneren an Tischen zu sitzen, alle anderen durften bei den Tieren hausen.
»Das sage ich auch gar nicht«, hörte ich Derrick erwidern.
Ich sah ihn an. Sein Antlitz machte mich wütend. Es machte mich oft wütend, ich wusste aber nicht einmal, wieso. Sein Gesicht war mittelmäßig. Markant. Ohne besondere oder abscheuliche Merkmale, die mich stören könnten. Derrick war äußerlich betrachtet durchschnittlich. Weder hässlich noch besonders hübsch. Aber irgendetwas in seinem Gesicht machte mich wütend. Wenn ich ihn ansah, brodelte Zorn in mir. Die Wut bezog sich nicht auf ihn, sondern auf mich selbst. Aber genau das war es, was mich daran störte.
Durchforschend betrachtete ich ihn, auf der Suche nach der Lösung dieses Rätsels, aber ich fand nichts, was mich im Besonderen zornig machte. Alles ärgerte mich gleichermaßen. Seine grauen Augen, die mich an die Silberklinge meines kostbaren Schwerts erinnerten, ebenso die langen, dunklen Wimpern, die sie umrandeten, und die unaufdringliche Nase mit der abgerundeten Spitze, die ein wenig nach oben zeigte und seine Nasenlöcher groß erscheinen ließ, die ebenholzfarbenen, schulterlangen Locken, die Ohren, die weder abstanden noch seltsam eng am Kopf lagen, die Lippen, die weder voll noch schmal waren.
Derrick runzelte die Stirn. »Ist was?«
Ich atmete gereizt ein und aus.
Derrick lehnte sich zurück. Er spürte, dass er der Grund war, wegen dem ich kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren.
»Mein Bruder«, Derrick sprach ruhig, was mich wiederum noch mehr verärgerte, »wir werden schon noch einen Weg finden, die Elkanasai zu vertreiben.«
»In ein paar Jahren bin ich ein alter Mann«, gab ich kopfschüttelnd zurück, »was kann ich dann noch ausrichten, Derrick?«
Derrick wollte wissen: »Was willst du tun?«
Mit dieser Frage hatte er mich wieder besänftigt. Derrick maßte sich nicht an, mir zu sagen, was das Beste wäre oder was ich seiner Meinung nach tun sollte, jedenfalls vermied er es, wenn ich ohnehin mieser Laune war.
Ich zuckte mit den Schultern, nun nervte mich meine eigene Unfähigkeit. Ich wusste es nicht, so schwer es mir fiel, es zuzugeben, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Menard war mein engster Vertrauter, ich würde sogar soweit gehen, ihn als Freund zu bezeichnen. Aber weshalb bremste er mich so aus?
Als hätte er meine Gedanken belauscht, vermutete Derrick: »Vielleicht hat er nur Angst um dich.«
»Angst ist etwas, das wir uns nicht leisten können«, gab ich zurück. Ich hatte mich oft genug in meinem Leben der Angst hingegeben, es war an der Zeit, zurückzuschlagen, egal welche Verluste ich zu erwarten hatte. Angst würde mich nicht aufhalten ... nein, nicht mehr.
»Entweder sterben für die eine Sache, die uns am leben hält ...«, murmelte ich.
»Oder wir opfern alles um zu siegen«, beendete Derrick mein Gemurmel.
Ich nickte mit Blick auf den Tisch. Es war bereits Nacht und wir saßen schon viele Stunden an den Tischen dieses Gasthofes. Wir hätten an diesem Tag eine viel größere Strecke zurücklegen können, doch solange ich noch nicht entschieden hatte, was ich mit Menard anfangen sollte, wollte ich mich nicht beeilen.
Der alte Mann durfte ruhig mal etwas länger auf seine Schriften warten.
»Was hat er damit vor?«, fragte ich und sah über den Tisch hinweg Derrick an.
Mein alter Freund zuckte verwirrt mit den Achseln.
»Mit der Schriftrolle«, half ich ihm auf die Sprünge. »Was will Menard damit?«
»Um was geht es in der Grabinschrift?« Derrick beugte sich über den Tisch.
Ich holte die Papierrolle hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Es war schlecht zu lesen, aber ich konnte mich noch an die Worte erinnern und las sie vor: »Hier ruht Priester Odilo, der zu den Drachen flüstern konnte, er sprach ›Hroar‹, und sie kamen.«
Derrick sah mich mit verständnislosen Augen an. Für einen Augenblick hatte er den blödesten Gesichtsausdruck den ich bis dorthin gesehen hatte. Jedem anderen hätte ich in dieses leere Gesicht geboxt, aber bei Derrick musste ich mir ein Grinsen verkneifen.
»Hroar?«, fragte Derrick verwirrt.
»Das Brüllen eines Tieres«, vermutete ich.
Derrick runzelte skeptisch seine Stirn.
Die Tochter des Wirts lief an unserem Tisch vorbei und brachte fünf volle Krüge mit schäumendem Met zu meinen Männern. Sehnsüchtig blickte Derrick ihr nach.
»Wenn sie dich reizt, dann nimm sie dir doch«, sagte ich zu ihm, mein Blick war weiterhin auf die Inschrift gerichtet.
Was bedeuteten diese Worte? Würde ich Drachen anlocken, wenn ich in den Himmel brüllte? Unsinn! Es hatte seit Jahrzehnten keine Drachen mehr in Carapuhr gegeben. Aber was wollte Menard mit dieser Information? Es musste ein höherer Sinn dahinterstecken. Menard hatte mich gelehrt, das hinter jedem Wort in einer Abschrift eine zweite Bedeutung innewohnen kann. Nichts ist offensichtlich, hatte er gesagt.
Es beunruhigte mich, das ich nicht wusste, was der Schamane vorhatte. Nach allem, was ich erlebt hatte, konnte ich davon ausgehen, dass diejenigen, die mir am nächsten standen, mich hintergehen würden. Und abgesehen von Derrick, stand mir Menard am nächsten. Ich vertraute ihm nicht, weil er Vertrauen verlangte.
»Ich sah dem Met nach, nicht der Frau«, grinste Derrick.
Als die Tochter unseres unfreiwilligen Gastgebers wieder an uns vorbeilief, hielt ich sie auf.
Erschrocken schnappte sie nach Luft, als ich einfach ihr Handgelenk packte und sie grob auf meinen Schoß zog.
»Dann nehme ich sie«, beschloss ich und rollte die Schriftrolle wieder zusammen.
Die schlanke Frau versuchte sich zu wehren, das arme Ding hatte ja keine Ahnung, dass sie damit das Feuer in meinem Blut erst richtig entfachte. Sie versuchte, mich zu beißen und ich begann zu schnurren wie ein Stubentiger.
Doch bevor es schön werden konnte, platze ein großer, dunkelhaariger Hüne aus der Küche und stampfte auf mich zu.
Belustigt grinste ich ihm entgegen, ich stand nicht einmal auf.
»Lass sie los, du Widerling!«, brüllte er mir entgegen.
Auf halben Weg wurde er von Egid Einauge gerammt und zu Boden geworfen.
Ich zog einen unsichtbaren Hut von meinem Haupt und neigte meinen Kopf zum Gruße. »Der Namenlose«, stellte ich mich freundlich vor. »Und der Mann, dem Ihr gleich zu Willen sein werdet, ist mein Bruder Egid Einauge.«
»Ich bring dich um!«, brüllte der überwältigte Hüne, während er niedergedrückt wurde.
Ich konnte aus den Augenwinkeln Derrick schwer schlucken sehen, während er entsetzt dabei zusah, wie Egid mit seiner Beute verschwand.
Ich lächelte wissend. »Nun geh schon!«
Derrick sah mich an.
Ich nickte Egid hinterher. »Lass ihn nicht allein den ganzen Spaß haben.«
Derrick lehnte ab. Er nickte auf die junge Frau mit dem kurzen, roten Haar, die ich mit einem Arm locker festhalten konnte, obwohl sie sich wehrte. »Was ist mit ihr?«
»Immer willst du, was ich habe!«, konterte ich mit gespielter kindlicher Stimme.
Derrick und ich brachen in Gelächter aus.
»Komm