Two in Isolation. Linn Marie Flow
– was der springende Punkt ist – ungeimpft. Und genau hier beginnt das Problem. Ich habe nichts gegen Impfgegner. Ich bin als Säugling selbst im Krankenhaus gelandet, weil ich eine allergische Reaktion auf die 5-fach-Impfung hatte. Ich verstehe deshalb die Ängste der Impfgegner zu einem gewissen Grad. Das Problem ist nur, dass Kinderkrankheiten für meinen Sohn und alle anderen Kinder mit einem schwachen Immunsystem lebensbedrohlich sind. Nicht umsonst darf ich mit the Kid keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen oder in einen vollen Supermarkt gehen. Ein Kinderarzt beschrieb es mir mal knapp und hart: „Betrachten Sie es mal so. Kinderkrankheiten sind für immunsupprimierte Kinder ungefähr so gefährlich, wie Ebola für unsereins.“
Windpocken haben es mir besonders angetan. Als Kind habe ich nämlich eine Superinfektion bekommen und lag tagelang im Delirium. Obwohl ich immunkompetent, also ein ganz normal gesundes Kind war. Die Narben sind heute noch zu sehen, obwohl ich damals gar nicht in der Lage war, zu kratzen. Diese furchtbare Krankheit, die viele zu den harmlosen Kinderkrankheiten zählen, ist so heimtückisch, dass sie, wenn der Wind falsch steht, über viele Meter übertragen werden kann. Ich breche jedes Mal in Schweiß aus, wenn ich mit the Kid an einem Schulhof vorbei muss und gerade Pause ist. Und das schlimmste an der Sache ist, dass ich meinen Sohn eigentlich nicht impfen darf. Ärzte und Experten sind sich einig: Immunsupprimierte Kinder sollten keinen Lebendimpfstoffen ausgesetzt werden. Denn diese enthalten das lebende Virus, wenn auch in abgeschwächter Form. Windpocken, Masern, Mumps und Röteln gibt es aber leider nur als Lebendimpfstoff.
Ich habe meiner Freundin, nennen wir sie Bertha, also erklärt, dass das mit dem Besuch keine so gute Idee sei. Denn sollte in ihrer Schule eine Kinderkrankheit ausbrechen, wären ihre Kinder definitiv Überträger. Und da eine Inkubationszeit, in der man noch nichts von den Symptomen sieht, die Kleinen aber schon ansteckend sein können, mehrere Tage bis Wochen dauern kann, wäre mir so ein Besuch definitiv zu gefährlich für the Kid. Ich würde sie und ihre Kinder zwar gerne mal wiedersehen, aber nicht bei mir und nicht in Anwesenheit von the Kid. Bertha war entrüstet. Sie meinte, man könne es auch übertreiben. Ich solle nicht so hysterisch sein und Prioritäten setzen.
Bertha fühlte sich in ihrer Entscheidung als Impfgegnerin angegriffen. Ich bin auch gegen Impfzwang, trotz unserer Situation. (Obwohl ich gerade ernsthaft in Erwägung ziehe, in ein Land mit strikten Impfgesetzen zu ziehen, um meinem Sohn normale Sozialkontakte zu ermöglichen). Aber ich bin auch verwundert, mit welcher Leichtfertigkeit manche Mütter auf ihre individuelle Freiheit pochen. Bertha führte an, dass andere Mütter von ihr verlangt hätten, ihren Ältesten zu Hause zu behalten, als er die Windpocken hatten: „Stell Dir vor, die haben doch tatsächlich von mir verlangt, dass ich meinen Sohn wie einen Gefangenen im Haus halte. Und das ganze zwei Wochen!“ Das erinnerte mich an eine andere Mutter, die meinte: „Sollen doch die Immunschwachen zu Hause bleiben.“ Ja, das machen wir. Wie Gefangene. Nicht nur für zwei Wochen. Und genau das ist für mich der Punkt. Ist es denn zu viel verlangt, sein Kind, solange es eine ansteckende Krankheit hat, zu Hause zu behalten? Was sind denn, verdammt nochmal, zwei Wochen Rücksichtnahme, wenn man einem anderen Kind dadurch das Leben retten kann? Die Inkubationszeit ist schon heimtückisch genug, wenn man noch nichts von der Erkrankung weiß, aber schon ansteckend ist. Da möchte ich auch niemandem einen Vorwurf machen. Aber ich muss auch kein Risiko eingehen und halte meinen Sohn deshalb von ungeimpften Kindern fern.
Vielleicht hat Bertha ja recht und ich übertreibe. Gestern bin ich innerlich wieder in Panik ausgebrochen, als ich mit the Kid an einem Mädchen mit Pickeln im Gesicht vorbei lief. In meiner Phantasie waren das eindeutig Windpocken. Aber wenn es danach ginge, müsste ein Drittel aller Kinder, denen wir nach unserer Klinikentlassung auf der Straße begegnet sind, die Windpocken gehabt haben. Wohl doch eher unwahrscheinlich. Trotzdem habe ich schon unzählige Male die Straßenseite gewechselt oder auf dem Absatz kehrt gemacht, weil uns ein gepunktetes Kind entgegen kam. Ich mag hysterisch sein und übertreiben, aber ich setze Prioritäten. Und, ja liebe Bertha, ich weiß genau, wo meine Prioritäten liegen. Heute rief mich eine andere Freundin an, die ich in der Klinik kennengelernt habe. Ihr Sohn ist so alt wie the Kid und auch lebertransplantiert. Er hat sich mit einer harmlosen Erkältung angesteckt. Seit gestern liegt er deswegen im Krankenhaus. Noch Fragen?
Keime, Viren und der Postbote
Normalerweise bestelle ich keine Produkte über das Internet. Weder Bücher, noch Babypflege oder Kleidung. Ich finde es politisch nicht korrekt, große Konzerne zu unterstützen, während immer mehr kleine Läden pleite gehen. Aber unsere Isolation hat dazu geführt, dass ich gegen meine Prinzipien verstoße. Beim Einkaufen in vollen Läden könnten uns einfach zu viele Keime begegnen. Nun ja, das Gemüse kaufe ich noch nicht im Internet. Das besorge ich am Dienstagmorgen, wenn kaum jemand einkaufen geht, im Bioladen, gut vorbereitet mit Desinfektionsspray in der Jackentasche und the Kid sicher im Tragesack verpackt, sein Näschen in meiner Jacke versteckt.
Eigentlich ein Wunder, dass mich bisher noch niemand schräg angesprochen hat, wenn ich mir, nachdem ich am Kühlregal war, meine Hände desinfiziere, um meinem Sohn sein Mützchen zurecht zu rücken. Seltsame Blicke habe ich aber schon eine Menge kassiert. Wie damals, als ich mit Erkältung und the Kid im Tragetuch spazieren ging. Natürlich mit Mundschutz, um meinen Kleinen nicht anzustecken. Für solche Zwecke habe ich ein besonders schickes Modell mit Blümchen. Trotzdem blieben die Kinder mit offenem Mund am Straßenrand stehen, bevor ihre Mütter sie schnell zur Seite zogen. Offensichtlich haben auch andere Mütter Angst vor ansteckenden Krankheiten. The Kid stört sich aber zum Glück nicht an meiner seltsamen Aufmachung. Er ist diese seltsamen Masken noch aus dem Krankenhaus gewohnt, wo erkältete Ärzte und Schwestern sie regelmäßig trugen.
Nur in seinem eigenen Gesicht sind sie ihm fremd. Neulich hatten wir einen Termin in der chirurgischen Abteilung. Da gerade die Grippe umging, entschied ich spontan, mal wieder einen Versuch zu starten, the Kid an einen eigenen Mundschutz zu gewöhnen. Das würde einiges vereinfachen. Ich wurde zwar vorgewarnt, dass Kinder in dem Alter noch keinen Mundschutz akzeptieren. Aber mir fiel plötzlich ein, dass die kleine Mai-Lin, die einen Monat nach the Kid transplantiert wurde, schon im Alter von 10 Monaten einen Mundschutz ohne Probleme trug. Also dachte ich: Ein Versuch kann nicht schaden.
Ich habe ihm zunächst den kleinen Kindermundschutz mit schickem Mickey-Mouse-Aufdruck zum Spielen angeboten. Dann schob ich ihm die Maske langsam vor die Nase, um ihm schließlich vorsichtig die Schlaufen hinter seinen Ohren zu befestigen. Ein befreundeter Arzt, der uns zur Untersuchung begleitete, und ich zogen uns aus Solidarität auch einen Mundschutz über. Schließlich machen die Kleinen einem doch sonst auch so gerne alles nach. Aber da hatten wir uns gewaltig getäuscht. Zuerst begann the Kid sich zu winden. Sein Hals wurde immer länger bei dem Versuch, ihn zu überstrecken, um diese lästige Nasenmaske loszuwerden. Als das nicht gelang, schien ihm plötzlich einzufallen, dass er es ja auch mit den Händchen versuchen könnte. Und just in dem Augenblick, in dem wir mitten in der Grippezeit das überfüllte Wartezimmer der Chirurgie betraten, zog er mit einem Ruck die Maske von seinem Gesicht, um sofort genüsslich die abgestandene Luft einzusaugen. Und weil es gerade so schön war und er nun wusste, wie es geht, riss er mir meinen Mundschutz auch gleich herunter. Das kann ja heiter werden, wenn ich das nächste Mal erkältet bin. Mensch, bei Mai-Lin hatte das so einfach ausgesehen… Aber ich hatte vergessen, dass sie aus China kommt. In Asien wird einem das Mundschutztragen ja praktisch in die Wiege gelegt.
Nun, weil das also alles so kompliziert ist und überall in den Läden und Einkaufspassagen Keime lauern, kommt seit unserer Heimkehr aus der Klinik regelmäßig der Paketbote zu uns, um uns mit den neuesten Produkten aus der Außenwelt zu versorgen. Er kennt mich schon und bekommt vor Feiertagen auch hin und wieder ein Trinkgeld, aus Dankbarkeit, dass er manchmal mit mir ein paar Worte über das Wetter wechselt und ich mir dann nicht ganz so isoliert vorkomme. Es tut gut, ab und zu ein vertrautes Gesicht zu sehen, das gibt mir irgendwie das Gefühl, wir seien „normal“. Doch eines Tages konnte er plötzlich nicht schnell genug wieder weg. Mit schreckgeweiteten Augen rannte er zu seinem Lieferwagen. Ich war irritiert, sieht man mir die Isolation mittlerweile schon so sehr an, dass man fürchten muss, sich anzustecken? Als ich auf dem Rückweg zum Wohnzimmer am Flurspiegel vorbeikam, dämmerte es mir plötzlich. Ich war erkältet, trug meinen blauen Hausanzug und hatte in der Eile vergessen, meinen Mundschutz abzunehmen, bevor ich