Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt
Überzeugungen. – Aber wir werden Ihre Geschichte natürlich überprüfen. Heute Nachmittag kommt ein Arzt, um Ihren Gebissabdruck zu nehmen …«
»Gebissabdruck?«, fragte er verständnislos.
»Silikonmasse, die man auf den Kiefer drückt. Es gelang uns, die Unterlagen aus Ihrer zahnärztlichen Behandlung zu beschaffen.«
»Sie wollen herausfinden, ob ich der echte Kofler bin? – Wegen des Fotos, verstehe. Das wird nicht nötig sein. Mir ist eingefallen, warum ich damals mit der linken Hand unterschrieb. Könnte ich das Foto noch einmal sehen?«
Er streckte die Hand aus.
Ich nahm es aus der Mappe und reichte es ihm.
»Es ist aufgenommen worden, als ich die Ernennungsurkunde an der Krakauer Universität gegenzeichnete – und ich unterschrieb mit links. Wichtig daran ist, dass ich an diesem Tage ein dunkles Hemd trug. Mein rechter Arm ist verdeckt. Nur ein winziges Stück – es sieht aus wie der Zipfel einer weißen Manschette – reicht über die Hüfte hinaus. Aber die Manschette kann unmöglich weiß sein, denn mein Hemd ist dunkelbraun. Ich trug ein beigefarbenes Sakko dazu.«
»Geben Sie her«, sagte ich und nahm ihm das Bild aus der Hand.
»Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich darauf gekommen bin! Damals trug ich den rechten Unterarm in Gips, ich hatte ihn mir bei einem Sturz von der Bibliotheksleiter angebrochen. Was Sie dort sehen, die weiße Ecke, ist keine Manschette, sondern ein Stück vom Gipsverband.«
»Wir werden das überprüfen«, sagte ich. »Sie wissen, dass es dafür Zeugen geben muss und dass so etwas in den Krankenunterlagen vermerkt wird?«
»Das hoffe ich«, bestätigte er.
Ich setzte mich in ein Café an der Franz-Künstler-Straße, von dessen Fenster aus man den Eingang der Zentrale beobachten konnte. Ich nahm an, dass Barbara für den regulären Dienst eingeteilt war und das Haus mit den anderen gegen vier verlassen würde. Zwischendurch blätterte ich in Koflers »What is to be done?«
Nach dem Erfolg der leinengebundenen Erstausgabe war eine preiswerte englische Taschenbuchausgabe herausgebracht worden, und Kruschinsky hatte mir ein Exemplar davon besorgt.
Im Anhang war eine Gegenüberstellung von Passagen aus der unautorisierten Übersetzung des Weißrussen Kremiew mit der neuen, korrigierten Fassung.
Danach betraf die Verfälschung, von der die Rede gewesen war, nur wenige Stellen. Ich versuchte über Kofler wesentliche Thesen Klarheit zu gewinnen …
Das Ganze schien weniger eine politische Theorie oder die Darstellung von wirtschaftlichen und soziologischen Zusammenhängen als vielmehr ein Elaborat philosophischer Überzeugungen zu sein. Anscheinend bestand es nur aus Trivialitäten. F.s Leute hatten dabei unfreiwillig ins Schwarze getroffen: er war tatsächlich ein »Messias« –wenn auch auf andere Weise, als sie glaubten (Barbaras kauernder Riese mit dem Heiligenschein fiel mir ein). Seine Grundthesen lauteten:
– Wir brauchen keine neuen Ideologien, was uns fehlt ist der Wille zum Guten.
– Es sei keine Schande, Fehler zu machen, wenn man die unbedingte Priorität des guten Willens anerkenne.
– Er sei keineswegs bloß deklamatorisch, denn echter Wille fordere Handlung (schließe sie ein).
– Der gute Wille unterstelle keine allgemeingültigen Werte, auch kein festumrissenes Wesen des Menschen, sondern sei eine an der Praxis orientierte und durch sie ständig korrigierbare »regulative Idee«.
– Nur durch ihn, durch den unbedingten und augenblicklichen Willen jedes Einzelnen, gebe es eine Rettung vor der Katastrophe.
– Es sei kein leichter, sondern ein steiniger Weg. Entscheidend sei unsere Ehrlichkeit.
Seine politischen Äußerungen erschienen mir daran gemessen etwas konturloser: Ein zukünftiges System als »Dritter Weg« sollte beide Produktionsweisen – die kommunistische wie die kapitalistische – akzeptieren, andernfalls sei es nicht demokratisch. Einseitige Abrüstung lehnte er ab, wie jeder halbwegs vernünftige Politiker vor ihm (der Wille zum Guten schließe den Willen zur Gewaltlosigkeit ein; es gehe weniger darum, ob man Waffen besitze, als ob man willens sei, sie zu gebrauchen). Zugleich war es ein Wille zu ständigem politischem und sozialem Engagement jedes Einzelnen.
Das Ende der Ausbeutung des Menschen wie des Planeten ergab sich dabei quasi von selbst. Seine »Demokratie« war – der Not gehorchend – eine Expertendemokratie.
Wegen der mangelnden Kompetenz der Massen, die auch bei bestem Willen nicht immer in der Lage sein würden, sich sachkundig zumachen, konnte sich das eigentliche demokratische Ideal nicht erfüllen.
Natürlich leuchtete das, was er über den guten Willen sagte, auch einem Drittklässler ein. Doch wie viel richteten solche Appelle gegen die Übermacht des bösen Willens und unseres natürlichen Egoismus aus?
Als ich an dieser Stelle der Lektüre angelangt war, hätte ich die Schwarte gleich in den nächsten Abfalleimer werfen wollen – wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, sie Barbara zu schenken …
In der Übersetzung Kremiews schloss der gute Wille das Opfer des Einzelnen für die Gesellschaft aus – was den Behörden im Osten ermöglicht hatte, seine Lehre als »reaktionären Subjektivismus« abzuqualifizieren.
In der korrigierten Fassung hoben sich der gute Wille des Einzelnen und der gute Wille der Gesellschaft, wenn sie miteinander konfrontiert wurden, auf gut dialektische Weise in der Synthese des Kompromisses auf (was immer das zu bedeuten hatte).
In Kremiews Übersetzung war der Marxismus-Leninismus ein »Auswuchs« – in der neuen Fassung dagegen eine »notwendige Übergangsphase«.
Der marxistischen Prognostizierbarkeit der Geschichte war bei Kremiew eine völlige Blindheit des Geschichtsablaufs gegenübergestellt; jetzt wurde ein gewisses Maß an Vorhersagbarkeit angenommen.
Vermutlich würde F. die beiden Fassungen als einen raffinierten Schachzug des KGB ansehen, der beides enthielt: eine Alibifunktion und zugleich die Möglichkeit für Kofler Anhänger, sich nach Gutdünken herauszusuchen, was sie glauben wollten.
Ihm schon jetzt mitzuteilen, dass mir Zweifel an Koflers Rolle gekommen waren, hielt ich für verfrüht. Ich würde ihm den Bericht über seine sogenannte »ideologische Position« kommentarlos zustellen.
Bevor ich das Café betrat, hatte ich F. aus einer Telefonzelle in der Nebenstraße angerufen. Er war ungeheuer verärgert gewesen.
»Was, zum Teufel, haben Sie dem Mädchen erzählt?«, brüllte er ins Telefon.
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, von wem die Rede war. Sie war schwanger geworden und hatte abtreiben lassen. Der Kerl vor der Bäckerei hieß Wenzel und war ihr Freund. Und natürlich hatte sie ihm unser Tete-à-Tete gestanden, als ich nichts mehr von mir hören ließ.
Vermutlich hatte sie sich Hoffnungen über unsere Beziehung gemacht. Da ich für sie der Chef war, der allmächtige Chef, der mit ihr über Gehäkeltes, Erkenntnistheorie und Bölls Ansichten eines Clowns diskutiert hatte, war das kaum verwunderlich.
Gegenwärtig verhörten F.s Leute ihren Freund, um herauszufinden, wie er von der Adresse in der Luckauer Straße erfahren hatte. Bei all der Aufregung schien F. völlig vergessen zu haben, sich danach zu erkundigen, was ich dem neuen Mädchen »angetan« haben könnte. Würde sie womöglich auch schwanger? Ich hatte nicht die Absicht, ihm auf die Nase binden, dass seine Tochter für ihre Freundin eingesprungen war …
Doch mehr als das beschäftigte mich die Frage, wie sich einige andere Merkwürdigkeiten in Koflers Vergangenheit erklären ließen, wenn ich bei meiner augenblicklichen Vermutung blieb, dass er unschuldig war. Schließlich schien sie auf nicht viel mehr als auf einem gefühlsmäßigen Eindruck und der vertrauensvollen Art zu beruhen, mit der er mich darum gebeten hatte, ihm zu glauben.
Vor allem aber: Wer, wenn nicht Kofler, war der echte »rote Kakadu«, den der Leipziger Ring angekündigt hatte? Etwa