Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

Kalter Krieg im Spiegel - Peter Schmidt


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was würde geschehen, wenn ich F. gegenüber ernsthaft die These von Koflers Unschuld vertrat?

       War sein Tod nicht längst beschlossene Sache?

      Aber warum sollte man ihn töten, wenn er unschuldig war? Oder gab es Hintergründe, die ich nicht kannte, Motive völlig anderer Art? Zum Beispiel, weil er eine Gefahr für die regierenden Parteien darstellte, eine politische Kraft unabhängig von der Frage, ob der KGB oder das MfS ihn bezahlte?

      Sicherlich eine seltsame Vorstellung, wenn man Koflers naiven Glauben an den guten Willen berücksichtigte (der natürlich vorgeschoben sein konnte). Doch man musste die Realitäten sehen: jene Bewegung, die sich nun einmal – ob nur ein Missverständnis seiner Anhänger oder nicht – um ihn gebildet hatte.

      Nicht wer er war, sondern für wen man ihn hielt, entschied über seinen Tod.

      Mir wurde übel bei dem Gedanken. Auf ähnliche Weise war auch Pysik ums Leben gekommen…

      Ich ahnte, dass es Fragen waren, die ich nicht lösen würde. Schon weil die Lösbarkeit aller Fragen ein Mythos ist. Die Realität ist ein Nebel, ein Dunst aus Vagheiten, Ahnungen und Vermutungen. Und eine Tat, für die man Zeugen hat oder ein Täter, der gesteht, ändern an dieser Ungewissheit wenig, denn Zeugen sagen falsch aus und Wirrköpfe belasten sich mit Verbrechen, um sich interessant zu machen.

      Ich hatte das Gefühl, dass ich mich entscheiden musste – entscheiden aufgrund genau der gleichen Intuitionen und Unwägbarkeiten, die zum Tode von Koflers Vorgängern geführt hatten. Denn auch das Umgekehrte galt: Gefühl und Intuition – jenseits aller Beweise, die vor Gericht taugten – entschieden über sein Leben.

      Sofort hatte ich wieder das Bedürfnis, diesen Schwierigkeiten zu entfliehen. Ich tastete in der Jackentasche nach dem Ampheton. Meine Fingerspitzen umspannten die Schachtel. Ich hörte das Knistern der Folie … und es beruhigte mich.

      Der grüne Garten mit den Birnbäumen fiel mir ein, unter denen ich als Kind gelegen hatte. Eine unbeschwerte Zeit. So unwirklich wie die Gegenwart. Es war ein weitläufiger Garten mit abfallenden Wiesen, den meine Mutter meinem Vater abgerungen hatte, kurz bevor sie beide (geplatzter Vorderreifen) mit einem schwarzen Opel bei einhundertzwanzig km/h von der Landstraße abgekommen waren, die am Haus vorbei in die Stadt führte.

      Eine alte Haushälterin, die schon zur Familie der Großeltern zählte, als meine Mutter noch unverheiratet war, übernahm meine Erziehung. Ich mochte sie nicht: Sie war streng, hatte ein Raubtiergesicht und trug tagaus, tagein denselben Lodenmantel (als werde sie schlecht bezahlt) und einen braunen Hut mit schwarzer Kordel über dem Haarknoten.

      Eines Tages lag ich wieder unter den Birnbäumen im Garten und beobachtete, wie eine Frau im Lodenmantel mit genau ihrem krummen Hexenrücken – diesmal trug sie einen Strohhut über dem Haarknoten – und ein älterer beleibter Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, vorfuhren. Sie blickten sich um, als sie ausstiegen, sahen am Haus empor, dann zu den Wiesen hinunter, wo ich lag, und gingen hinein.

      Die Tür war nur angelehnt. Das Auto war ein dunkler Kastenwagen, von dem die Farbe abblätterte. Ich nahm an, dass der alte Kerl ihr Freund war und dass sie ihn mitgebracht hatte, um ihm mit der gleichen Selbstherrlichkeit das Haus zu zeigen (als sei sie seine rechtmäßige Erbin), wie sie auch über mich verfügte, denn es gab niemanden mehr von der Familie, der es ihr verwehren konnte.

      Zu meiner Überraschung kamen sie nach einer Weile heraus, halb verdeckt von zwei großen Gemälden, die sie – mit den Bildseiten nach innen – ins Auto trugen. Sie verschwanden damit auf Nimmerwiedersehen …

      Nur unsere Haushälterin kehrte am Nachmittag zurück. Angeblich war sie gegen Morgen zum Einkaufen ins Dorf gegangen, und sie habe länger als gewöhnlich dazu gebraucht, weil es ihr wegen des schönen Wetters in den Sinn gekommen sei, um den See zu spazieren.

      Der Nachlaßverwalter, ein Anwalt aus der Stadt, stellte fest, dass zwei wertvolle moderne Gemälde gestohlen worden waren. Ich berichtete ihm von meiner Beobachtung: der Frau im Lodenmantel und dem Mann mit dem Kastenwagen. Er fragte mich mit ernster Stimme, ob ich wirklich die Haushälterin erkannt hätte. Er war ein großer, imponierender Mann mit wallendem Bart (wie ich mir Moses vorstellte), und ich hatte ziemliche Angst vor ihm.

      Trotzdem nickte ich, weil ich dachte, ich könnte ihn immer noch vors Schienbein treten und weglaufen, wenn er mich zwingen würde, etwas anderes als das zu sagen, was ich gesehen hatte (aus irgendeinem Grunde argwöhnte ich, er stecke mit ihr unter einer Decke …).

      Um der Wahrheit willen erwähnte ich aber, dass sie diesmal, anders als sonst, einen Strohhut getragen habe.

      Er ermahnte mich, gut nachzudenken, denn alles, was ich sagte, würde vor Gericht gegen sie verwendet werden.

      Nun – ich blieb bei meiner Aussage!

      Zwar wurden weder die Bilder noch der Strohhut bei ihr gefunden, doch man verurteilte sie zu einer Gefängnisstrafe. Ich selbst kam in ein Heim und dachte trübsinnig an unsere grünen Wiesen, die Birnbäume und das schöne Haus zurück.

      Das Haus wurde bald verkauft. Bis zu meiner Volljährigkeit bekam ich keinen Pfennig davon.

      Aber die Gemälde tauchten eines Tages in einer Auktion auf!

      Als man ihren Weg zurückverfolgte, stieß man auf ein Pärchen, das mit Altwaren und Antiquitäten handelte. Der Mann besaß einen Kastenwagen wie den, den ich vor dem Haus beobachtet hatte – und seine Frau trug Lodenmäntel. Aus der Nähe betrachtet glich sie unserer alten Haushälterin allerdings kaum – wenn man von ihrem Haarknoten und dem gebeugten Rücken absah –‚ und ich weiß wirklich nicht, wie ich sie mit ihr hatte verwechseln können. Vermutlich war meine Abneigung daran schuld gewesen …

      Damals überließ ich ihr als Entschädigung eines der beiden Gemälde …

      Anders als bei Fotos, befiel mich seitdem, wenn ich Gemälde sah, ein eigentümliches Unbehagen. Meine Finger zitterten, und die Handflächen wurden feucht. Der Arzt, den ich konsultierte, nannte es »eine leichte Bilderphobie«, und er führte sie auf jenes »traumatische Erlebnis« zurück, das mich ins Heim gebracht hatte.

      Ich nahm an, dass die Ursache nicht eigentlich der Bilderdiebstahl war, die Tatsache, dass man Bilder gestohlen hatte – so als müsste ich, wenn es Porzellan gewesen wäre, an einer Tassen-, Teller- und Kannenphobie erkrankt sein. Nein, es war einfach das Eigentümliche von gegenständlichen Gemälden: dass sie etwas darstellen und augenscheinlich mehr sind als nur Farbtupfer auf Leinen – nämlich Vorspiegelung, das Nachgeahmte, Scheinbare …

      Es war die Täuschung, die mir Unbehagen verursachte. Darum mied ich Gemäldehandlungen und Ausstellungen, wo immer es ging. Als Staatsanwalt hatte mich meine Angst vor Bildern einmal in arge Verlegenheit gebracht. Ich sollte während einer Verhandlung an Originalgemälden die Einzelheiten einer Fälschung erläutern, doch schon nach wenigen Augenblicken musste ich mich wegen »Unpässlichkeit« entschuldigen lassen.

      Die Vorwürfe gegen Kofler hatten den gleichen Anschein der Täuschung: Es war ein Bild und ich versuchte herauszufinden, wer es gemalt hatte.

      Je mehr ich dieses Bild zerstören und zur eigentlichen Realität (Realität –so zweifelhaft das Wort auch sein mochte) vorstieß, desto mehr verflüchtigte sich in der Regel mein Unbehagen, und der Zweifel, der wie eine Hummel unterhalb meiner bewussten Gedanken summte, ließ nach. Im Grunde war die Echtheit des Bildes sogar völlig nebensächlich – vorausgesetzt, ich glaubte an sie. Es gab etwas in Koflers Geschichte, das mich darauf brachte, der KGB oder das MfS könnte ihn – ohne sein Wissen – nicht als »Messias«, sondern als Köder, als Ablenkung für einen echten Agenten benutzt haben wenn man sich nämlich seine Ausbürgerung zunutze machte. Man wählte den passenden Zeitpunkt und spielte dem Leipziger Ring eine Falschinformation zu.

      Was benötigte ein künftiger Parteiführer wie Kofler? Zunächst einmal Büros in den Zentren, wo seine Anhänger am stärksten vertreten waren, also in Frankfurt, Bochum, München und Hamburg. Solche Räume mussten, wenn das Unternehmen Erfolg haben sollte, mit Sekretärinnen, Büromöbeln, Fernschreibern,


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