Das magische Armband. Janine Zachariae
Frage ist nicht leicht zu beantworten«, ich hielt inne und blickte ins Gesicht meines Schülers. »Jeder glaubt an etwas: An die Liebe, ans Schicksal, manche haben einen starken Glauben an eine höhere Macht. Für manch einer zählt nur das, was er sieht. Es geht darum, dass man sein Leben so lebt, wie man es für richtig hält. Natürlich nur im Besten sinne, wer ein böses Herz hat, wird immer das Falsche als sein Richtig darstellen. Höhen und Tiefen gehören dazu. Wer fällt, kann auch aufstehen. Aber eins sollte euch bewusst sein: Tief in eurem Herzen wisst ihr, woran ihr glauben wollt. Ich werde diese Frage auch niemals laut stellen. Aber sie wird eure nächste Hausaufgabe sein. Woran glaubt ihr? Ich werde es nicht laut vorlesen oder herumreichen. Aber so weiß ich, woran wir arbeiten können. Was war das erste Mal, das ihr so etwas wie eine Moral erkannt habt? Schreibt es auf.« Es läutete.
»Ach, Tim, könntest du noch einen Moment warten, bitte?« Er blieb, während die anderen aus dem Raum strömten.
»Hören Sie, ich wollte Ihnen nicht zu Nahe treten.«
»Ich werde dir für deine heutige Mitarbeit eine 1 geben.«
»Oh«, er wirkte leicht irritiert.
»Ich habe die Arbeiten schon zur Hälfte benotet. Ihr bekommt sie in der nächsten Stunde. Aber du solltest wissen, ich schätze es nicht, wenn man in meinem Unterricht schummelt.«
»Habe ich ...«
Ich ließ ihn nicht ausreden. »Ich werde deine heutige Mitarbeit in die Benotung mit einbeziehen.«
»Wie konnten Sie es erkennen?« Ich lächelte, sammelte meine Unterlagen zusammen und sagte ihm:
»Du bist ein guter Schüler. Du solltest es nicht soweit kommen lassen. Und wenn du Probleme hast, dann rede darüber. Mit mir oder sonst jemanden.«
»Sie werden es doch nicht meinen Eltern sagen, oder?« Kopfschüttelnd verneinte ich. Er atmete erleichtert auf und fragte, ob er nun gehen dürfte. Ich war noch total in Gedanken, als ich angesprochen wurde.
»Oh wow, Sie haben mich erschreckt.«
»‹tschuldigung, das war nicht meine Absicht.« Ich schaute ihn an. »Ich habe gerade mitbekommen, was Sie zu diesem Jungen sagten.«
»Ja, aber verraten Sie mich bitte nicht«, murmelte ich verlegen und spürte, wie meine Wangen sich verfärbten.
»Käme mir nie in den Sinn. Ich finde es sehr erstaunlich.«
»Und was, wenn ich fragen darf, ist so erstaunlich?«
»Wie Sie daraus noch etwas Gutes machen konnten.«
»Ich wüsste nicht, was daran gut sein sollte«, meinte ich etwas genervt.
»Nun ja. Ihr Schüler schummelt und Sie geben ihm eine zweite Chance, ohne das er es weiß.«
»Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Manche nehmen nicht mal diese wahr und bekommen eine dritte oder vierte Chance. Aber ich gebe selten jemandem eine vierte Chance.«
»Das werde ich mir merken«, sagte Jack grinsend.
»Wollten wir uns nicht im Lehrerzimmer treffen?«
»Ich habe es mir anders überlegt.«
»Verstehe. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Tag«, erwiderte ich stirnrunzelnd und wollte gerade gehen.
»Warten Sie. So meinte ich das nicht.« Ich spitzte meine Ohren. »Ich bin nur grade hier vorbei gegangen und dachte mir, ich warte auf Sie. Außerdem fand ich es interessant, was Sie da von sich gaben. Das sagt eine Menge über Sie aus.«
»Na, wenn Sie das sagen«, meinte ich schmunzelnd. Wir verließen das Klassenzimmer und marschierten ins Lehrerzimmer. Nur wenige Kollegen waren noch da. Die meisten hatten bereits Schulschluss. Ich schnappte meine Tasche und Jacke, während Jack sich seine nahm, und wir gingen stumm nach draußen. Es war ein herrlicher Tag.
»Lassen Sie uns irgendwohin fahren und uns in ein Café setzen«, schlug Jack vor.
»Irgendwohin?«, hakte ich nach und er nickte bloß.
»Ich dachte, Sie wollten die Stadt kennen lernen.«
»Das Wetter ist so schön.«
»Da käme doch ein Spaziergang gerade recht«, bemerkte ich.
»Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen«, gestand Jack zögernd. Er schien mich genau zu beobachten und wartete meine Reaktion ab.
Misstrauisch erwiderte ich: »Ich kenne Sie doch gar nicht gut genug, um nicht zu wissen, ob Sie vielleicht doch Massenmörder sind.«
Er lächelte charmant und ich kam mir wie ein Teenager beim ersten Date vor. Mein Herz begann schneller zu schlagen. »Komm, gehen Sie ein Risiko ein.« Diese unglaublichen Augen, die nun in der Sonne leicht golden schimmerten … wie konnte ich dem widerstehen?
»Also schön. Dann vertraue ich Ihnen.«
»Wenn Sie nicht 25 oder 26 sind, dann doch vielleicht 24?«, begann er, nachdem wir im Auto saßen.
»Nun mal nicht übertreiben.«
»Verraten Sie es mir?« Ich zuckte mit den Schultern.
»Wenn Sie mir verraten, weshalb wir mit dem Auto fahren und uns nicht in ein Café setzen können ...«
»Es ist eine kleine Stadt. Da gibt es Getratsche«, war seine ganze Antwort. Das leuchtete ein. Schließlich war ich verheiratet.
»Ich bin 28«, gab ich zu.
»Sieht man Ihnen nicht an.«
»Sie schmeicheln mir zu sehr«, erwiderte ich unsicher. Mein Mann hatte schon lange nicht so etwas zu mir gesagt.
»Also gut«, seufzte er, gerade als ich an meinen Mann gedacht hatte. Als würde er resignieren.
Wir fuhren eine Landstraße entlang. Es war wirklich schönes Wetter.
2. Wunderschön
1955
›Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ich war noch nie mit einem anderen Mann alleine gewesen. Nicht mal als Teenager. So etwas gehörte sich nicht. Wenn man verabredet war, dann ging man ins Kino, auf den Ball oder es waren die besten Freundinnen dabei. Alles harmlos. Ich war so tief in Gedanken, um überhaupt nicht zu merken, dass das Auto anhielt. Erst als das Surren des Motors erlosch, kehrte ich ins Hier zurück.
»Woran haben Sie gedacht?« Ich spürte wärme und mir war bewusst, dass ich errötete. »So pikant?« Auch er bemerkte es und schmunzelte nun.
»Nein. Tut mir leid. Ich dachte nur gerade an das Thema im Ethikunterricht.«
»Sie meinen Moral?« Ich nickte und blickte aus dem Fenster.
»Sind Sie ein gläubiger Mensch?«
»Warum stellt man mir diese Frage heute zum zweiten Mal? Ich versuche, stets das Richtige zu machen. Aber nein, ich bin kein gläubiger Mensch. Dennoch kann man moralisch korrekt sein, finden Sie nicht auch?«
»Kommen Sie, ich will Ihnen etwas zeigen«, sagte er und griff nach seiner Türklinke, ohne auf meine Frage zu antworten. Ich stieg aus und sog die warme, saubere Luft ein. Sie durchflutete meine Lungen und ließ zu, dass ich mich für einen Moment entspannen konnte. Jack stand neben mir und hielt mir seine Hand hin. Die andere hatte er lässig in seiner Hosentasche vergraben. Für einen Augenblick glaubte ich, etwas rötlich schimmern gesehen zu haben. Wie Blut, was auf etwas geträufelt wurde. Aber das bildete ich mir womöglich nur ein.
Beflügelt von dem Duft, der von überall zu kommen schien, ergriff ich sie. Natürlich war es ein Fehler. Auch jetzt noch, spüre ich diese eigenartige Energie, die von ihm kam. Unglaublich! Und doch konnte ich es mir nicht eingebildet haben. Nach wenigen Metern ließ ich seine Hand los und vergrub meine in die Taschen meines Kleides. Er sah kurz zu mir, dann gingen wir wortlos