Vertraue niemandem. Horst Buchwald
sich für meine Position – also für Verhandlungen. Doch das war eine Fehleinschätzung, denn der Terrorist erschoß die beiden Wärter. Danach fielen der Innensenator und die Medien wütend über mich her. Es war die Hölle. Ich stand plötzlich allein da. Auch der Polizeipräsident duckte sich weg. Meine Frau versuchte, mir zu helfen. Aber in diesem Fall gab es keine Möglichkeit. Der Fall war klar: Ich hatte den Mann falsch eingeschätzt. Für mich war das ein Schock, ich hatte zwei Menschenleben auf dem Gewissen. Also mußte ich Konsequenzen ziehen und kündigen. Einen Monat lang blieb ich zu Hause und meine Depression verging nicht.“
Hans schloß kurz die Augen und spürte, welche Belastung für ihn mit dieser Situation immer noch verbunden war.
„Wer war deine Frau?“
„Karin Hausner, sie ist gerade Außenministerin geworden.“
Lisa entwich ein Pfeifton, aber sie sagte nichts. Dann erzählte er weiter:
„Zur gleichen Zeit wurde Ruth Stroth Kanzlerin und wollte Karin, damals ihre beste Freundin, als Chefin des Bundeskanzleramtes haben. Karin nahm sofort an und die Folge war, daß wir uns kaum noch sahen. Manchmal frühstückten wir noch zusammen, aber den ganzen Tag über und immer häufiger bis spät in die Nacht war sie voll eingebunden in die Regierungsarbeit. Es gab nichts mehr, was uns zusammenhielt. Also zog ich aus und bot ihr die Scheidung an. Wie es so kommt, lernte sie ein paar neue Männer kennen und dadurch wurde es für mich noch unerträglicher. Na ja, und so ging es auseinander. Sie hat sich zwar später noch mal darum bemüht, daß wir Freunde bleiben, denn mit ihren Liebhabern war sie immer nur kurzfristig zusammen und es war offensichtlich, daß sie nie ihren Wünschen als gleichwertige Partner entsprachen. Also wandte sie sich wieder mir zu. Doch ich wollte und mußte mich neu erfinden und lehnte jeden Kontakt ab. Außerdem erkannte ich ja auch: Sie hatte ihren Traumjob gefunden, ich war ein Nichts. Wir paßten nicht mehr zusammen.“
Lisa stieß einen tiefen Seufzer aus. „Mein Gott, das ist wirklich eine schwere Last. Ich kann verstehen, daß man über sowas nicht einfach hinwegkommt. Andererseits: Solche Irrtümer sind doch immer möglich. Wer weiß schon genau, was in uns Menschen vorgeht. Wenn ich an mich denke, dann fallen mir einige Beispiele für Verhaltensweisen oder Entscheidungen ein. Da habe ich mich später dann gefragt: Was habe ich mir dabei bloß gedacht, das war doch Unsinn.“
„Alles richtig. In solchen Situationen ist es immer schwer, zu einer hundertprozentig richtigen Einschätzung zu kommen. Es spielen zu viele Faktoren eine Rolle und es sind immer hochemotionale Prozesse – die sogenannte Vernunft oder Logik wird weitgehend ausgeschaltet. In diesem Fall war es jedoch so, daß ich den Mann, mit dem ich über Telefon in Kontakt trat, nicht sah. Ich konnte somit auch nicht seine Gesichtszüge verfolgen. Doch er machte einen sehr vernünftigen Eindruck. Er formulierte mehrfach, er hätte erkannt, daß seine Chancen für eine erfolgreiche Flucht ziemlich schlecht sind.“
„Womit habt ihr ihn denn gelockt?“
„Gute Frage. Das war der entscheidende Punkt. Der Polizeipräsident und ich waren der Meinung, wir bieten ihm an, daß er wegen der Entführung und wegen Körperverletzung, also wegen aller Taten, die er während der Entführung begangen hatte, nicht bestraft wird. Er müßte eben nur die beiden Geiseln wieder laufen lassen. Dem stimmte er zu. Der Innensenator sprach sich gegen dieses Angebot aus. Er wollte ihm „einen Denkzettel“ verpassen. Und als hätte der Terrorist von unserer anschließenden Diskussion etwas mitbekommen, meldete er sich erneut mit der Forderung, wir müßten ihm das schriftlich geben. Der Polizeipräsident schüttelte den Kopf, der Innensenator sowieso. Ich bat um Bedenkzeit, legte auf und begründete, daß wir ihm nachgeben müßten. Der Polizeipräsident begann zu überlegen, der Innensenator blieb hart. Wir diskutierten etwa fünf Minuten – und damit war dem Terroristen wohl klar, daß er mit einer härteren Strafe rechnen mußte. Also erschoß er den ersten Wärter, rief an und stellte seine Forderung erneut. Er würde auch den zweiten umlegen, wenn wir nicht nachgeben würden. Klar, damit hatte ich schon verloren. Bevor ich etwas sagen konnte, riß mir der Innensenator den Hörer aus der Hand und stellte klar: „Wenn du Schwein den anderen Wärter umbringst, mußt du mit dem Allerschlimmsten rechnen.“ Er legte wieder auf und sagte zu mir: „Das ist die Sprache, die er versteht!“ Eine Sekunde später wurde der zweite Wärter erschossen.
„Aber das hat der Senator doch mit seiner Blödheit geradezu herausgefordert!“
Hans zögerte einen Moment. Dann nickte er. „Aber davon haben die Medien und auch sonst kaum jemand etwas erfahren. Ich hätte ihn also verklagen müssen. Aber was wäre dabei herausgekommen? Den ersten Wärter habe ich auf jeden Fall auf dem Gewissen. Nein, auch wenn ein Richter mich von der Schuld für den Tod des zweiten Wärters freigesprochen hätte – entscheidend war doch, daß ich den Mann falsch eingeschätzt habe.“
„Und nun bist du Taxifahrer. Wie lange noch? Wirst du deinen Beruf wieder ausüben?“
„Ja, sobald ich hundertprozentig sicher bin, daß dieser Schock mich nicht mehr belastet. Ich denke, dann werde ich eine Beratungspraxis eröffnen.“
Plötzlich warf sie sich auf ihn, schnüffelte an seiner Brust, leckte über seine Lippen, küßte ihn heftig und steckte ihre Zunge schamlos in seinen Mund. Hans war überrascht, wie sein Glied förmlich explodierte. Und doch war er für eine Minute gehemmt und eher passiv, aber er mußte gar nicht aktiv werden, sie wußte sehr genau, was zu tun war, und nach einer Viertelstunde lagen sie sich heftig atmend in den Armen.
„Und jetzt Champagner!“, rief sie aus.
Hans erhob sich und ließ den Korken knallen. Sie lachte kreischend – ähnlich wie die Schreie, die tief aus ihrem Körper kamen, als sie den Höhepunkt erreichte. Ja, sie war genau die Art von Frau, die ihn faszinierte – nach außen unheimlich cool und logisch denkend, aber sobald sie sich öffnete, sprudelte sie über vor Lebenslust.
Sie saßen sich gegenüber und hörten eine Weile schweigend den anderen streichelnd Bob-Dylan- Songs. Plötzlich drehte sie seinen Kopf zu sich herüber und schaute ihm tief in die Augen und fragte lächelnd:
„Weißt du eigentlich, daß Karin mit ihrem Partner bei uns im ‚Inferno‘ Stammgast ist?“
Hans tat überrascht. Echt?
„Sie kommen etwa im Zweiwochenrhythmus. Und in der Regel werden sie von mir bedient. Daher weiß ich, was zwischen ihnen läuft. Willst du es wissen?“
Hans hatte Mühe, sich in Zaum zu halten. Das war mehr als er je erwartet hatte. „Ja … also wenn du glaubst, du kannst das einschätzen.“
„Und wie ich das kann, denn ich verfolge ihre Beziehung jetzt schon länger als ein halbes Jahr. Und da sie mich akzeptieren und noch nie schlechte Erfahrungen mit mir gemacht haben, sind sie auch offener geworden … oder anders ausgedrückt: unvorsichtiger. Also mein Resumee nach einem halben Jahr: Es ist nicht die große Liebe zwischen den beiden. Das ist eher so eine Verlegenheitsbeziehung.“
„Weißt du denn, worüber sie reden?“
„Oh je … schon halb eins!“
So plötzlich, wie sie sich ihm an den Hals geworfen hatte, sprang sie auf.
„Ich muß morgen um sieben Uhr raus und um halb neun in der Uni sein und eine Klausur schreiben. Dafür muß ich noch zwei Stunden büffeln. Sei mir nicht böse. Es war einer der erfülltesten Abende, den ich bisher mit einem Mann verbracht habe. Danke!“
Zehn
Karin Hausner und ihr Freund Michael Benn trafen um halb acht im „Inferno“ ein. Sandro, der Restaurantbesitzer, begrüßte sie herzlich wie alte Freunde. Lisa servierte den Champagner. Und sie spürte sofort die Spannung zwischen den beiden. Als sie die Speisekarten brachte, hörte sie, daß Michael sie bedrängte:
„Aber die Kosten dieses Einmarsches in Kongo … das ist doch ein Risiko, das man kaum kalkulieren kann. Klar, deutsche Generäle wollen endlich mal wieder schießen, das ist ihr Job. Also verharmlosen sie alles. Doch die Folgen mußt du allein ausbaden, wenn es schiefgeht.“
Karin schwieg und schob ihre