Schatten und Licht. Gerhard Kunit
versonnen an einem Grashalm. Das Zirpen der Zikaden wurde von Shingras gelegentlichem Schnauben unterbrochen und aus der Ferne drang das Lied einer Bardin oder Zigeunerin an sein Ohr. Es erzählte von der Tochter eines Grafen, die ihr Herz an einen fahrenden Sänger verlor und in ihrer Sehnsucht nach ihm verging, während Prinzen und Fürsten vergeblich um sie warben.
Die Weise war eindringlich. Parin sah die junge, blonde Frau mit dem Gesicht einer Göttin vor sich, wie sie Tag für Tag einsam, blass und schön durch den väterlichen Garten streifte. Da wurde die Melodie fröhlicher. Die sanfte Stimme der Sängerin gewann an Tempo, als der Fahrende zurückkehrte und nunmehr ihre Liebe erwiderte. Der Text wurde frivol und aufreizend, und der Junge spürte eine wohltuende Enge in seiner Hose, während er in seinem Tagtraum die Stelle des Begehrten einnahm.
Ein Geräusch ließ Parin hochfahren und riss ihn aus seiner Phantasie. Sein Vater stand vor ihm, beladen mit Essgeschirr und frischen Wasserschläuchen. Der Magier schlug seinen Stab gegen den Wagenkasten. „Lass den Burschen in Frieden du Luder!“
Der schöne Gesang verstummte.
„Wie es aussieht, kann ich ihn mit der Gefangenen nicht alleine lassen und Euch vermutlich auch nicht“, knurrte Geron. „Noch drei Nächte, dann bin ich sie endgültig los.“
Parin nahm sein Essen entgegen und versteckte sein hochrotes Gesicht in seinem Napf. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Zauberer die Eisenklappe neben der Türe öffnete und den Eintopf und einen Wasserschlauch ins Innere schob. Haul zog das Gefäß für die Notdurft aus dem Wagenboden und entleerte es. Danach prüfte Magister Geron die Verschlüsse und wollte aufbrechen, aber der Fuhrmann winkte ab: „Das Tier braucht Ruhe. In einer Stunde ist die schlimmste Mittagshitze vorüber und Zweimühlen erreichen wir jedenfalls noch vor der Dämmerung.“
* * *
Der Nachmittag verlief ereignislos. Sein Vater war jetzt gesprächiger und gegen Abend taute auch der Magister auf. Er verlor sich in einer Betrachtung über die Bedrohung der Welt durch Schwarze Magie und die Notwendigkeit, diesem Unwesen wachsam zu begegnen. Parin verstand kaum die Hälfte davon, sog die Legenden von uralten Zauberern und dunklen Hexen aber begierig auf und die Zeit verging wie im Flug.
* * *
Zweimühlen war ein bedeutender Weiler. Seinen Namen verdankte er den großen Windmühlen, die das Korn der umliegenden Bauernhöfe verarbeiteten, und das Mehl in die Städte Rand und Bethan, vielleicht sogar bis Hesgard lieferten. Der Fuhrhof war diesmal kleiner und den Gebäuden war das Alter anzusehen. Parin hoffte, einen Blick auf die schöne Gefangene zu erhaschen, aber der Magier dachte nicht daran, die Verschlusszauber zu entfernen. Stattdessen ließ er das Fuhrwerk in den Schuppen schieben und wies den Wirt an, ihm dort sein Lager zu richten. Den Fuhrleuten blieb nichts übrig, als es ihm gleich zu tun, aber da der Magier beim Wagen blieb, durfte Parin seinen Vater in den Schankraum begleiten.
Der schlecht erleuchtete Raum war gut besucht. Neugierig sah sich der Junge um. Zwischen den Fuhrleuten und Reisenden erregten drei verwegene, bis an die Zähne bewaffnete Gestalten seine Aufmerksamkeit. „Söldner“, raunte sein Vater. „Starr sie nicht an. Das könnte ihr Missfallen erregen.“
Sie ergatterten einen Platz an der Theke und aßen das bis zur Unkenntlichkeit zerkochte Gemüse. Parin lauschte den Erzählungen der Mietlinge, die ihre Heldentaten lautstark zum Besten gaben. Einer berichtete von seinem Kampf gegen einen Grautiger. Das waren gewaltige Steppenraubtiere, die früher das Lange Feld beherrscht hatten, mittlerweile aber von den berittenen Patrouillen des Kaisers aus den besiedelten Gebieten verdrängt worden waren. Der Söldner schilderte, wie er die Parierstange seines zerbrochenen Schwertes in den Rachen des Untieres geklemmt hätte, um den dolchartigen Reißzähnen des Tigers zu entgehen. Seine gestenreiche Erzählung gipfelte im Sieg über das Raubtier, das er in seiner Not mit bloßen Händen erwürgen musste.
„Ist das wahr, was die Drei erzählt haben?“, fragte Parin, als sie im Schein einer Windlaterne zum Schuppen schlenderten.
„Wahr oder gut erfunden!“, lachte Haul. „Stell solche Fragen nie, solange der Erzähler noch im gleichen Raum ist.“ Parin fiel in sein Lachen ein. Jetzt, wo der Zauberer nicht bei uns ist, hat auch Vater wieder gute Laune, dachte er.
Sie fanden den Magier schlafend vor. Auch aus dem Wageninneren hörten sie ruhige, regelmäßige Atemzüge. Jemand hatte mit Kreide etwas an den Wagenkasten geschrieben und die Fuhrleute entzifferten den kurzen Text.
„Den Wagen nicht berühren!“, stand da in schön geschwungenen Zeichen.
Parin konnte besser lesen, als sein Vater. Immerhin hatte er zwei Jahre die Schule besuchen dürfen. Mehr konnten sich seine Eltern nicht leisten, aber Mutter hatte Wert darauf gelegt, dass er seine Leseübungen gewissenhaft ausführte, obwohl sie selbst keinen einzigen Buchstaben kannte. „Du sollst es einmal leichter haben“, pflegte sie zu sagen.
Haul zeigte ihm, wie er sich aus Stroh und einer Decke ein Lager richten konnte, und wenige Augenblicke später schlief Parin ein. Seine Träume drehten sich um Jungfrauen, um kühne Helden, die ihnen ohne Zögern zu Hilfe eilten und um die romantischen Szenen, in denen die Geretteten ihren Dank zum Ausdruck brachten. Gerade als sich einer kreischenden Harpyie entgegenwerfen wollte, begriff er, dass das Geschrei real war und kämpfte sich schlaftrunken aus seiner Decke.
Das ohrenbetäubende Gezeter kam vom Wagen. Sein Vater stand hilflos da und presste die Hände an seine Ohren, während der Magier hektisch gestikulierend auf den Kasten einredete, bis das Kreischen verstummte. Gleichzeitig flog das Tor auf und die Söldner stürmten mit blanken Klingen herein.
Magister Geron beschwichtigte: „Sieht aus, als wollte unsere Gefangene einen Ausflug machen, aber mein Alarm hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
„Ich bin im Schlaf an die Türe gestoßen und Euer dämlicher Zauber hat die ganze Herberge aufgeweckt“, widersprach eine ebenso wohltönende wie trotzige Stimme aus dem Wageninneren.
Die Söldner sahen sich ratlos an und verließen achselzuckend den Schuppen. Nur Parins Müdigkeit bewahrte ihn davor, loszulachen.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Beim Frühstück wurden die Fuhrleute mit unwirschen Blicken und missmutigen Kommentaren über die nächtliche Störung bedacht, und so verließen sie Zweimühlen noch in der Morgendämmerung.
* * *
Der Tag verlief eintönig, bis am späten Nachmittag Sirfan erreichten. Hier kreuzte die Straße, die von Chur im Süden nach Bethan im Norden führte, und so war ein florierender Warenumschlagplatz entstanden, an dem sich nach und nach auch Handwerker angesiedelt hatten. Seine Lage verlieh dem Städtchen eine strategische Bedeutung, und er wies, nebst einer äußerst wehrhaften Stadtbefestigung, auch eine bedeutende Garnison auf. Deshalb konnte Magister Geron Semira im Verlies der Festung unterbringen.
Parin begleitete seinen Vater in die Taverne. Wieder hörten sie viele Geschichten, aber von Bedeutung war nur das Gerücht, nachdem auf der Straße nach Hesgard Raubtiere gesehen worden wären. „Kann stimmen oder auch nicht“, sagte Haul. „Kein Grund zur Besorgnis. Wir hängen uns morgen an ein paar andere Wagen dran. Das reicht um die Viecher abzuschrecken.“
* * *
Nachdem sie den Zauberer und seine Gefangene in der Festung abgeholt hatten, trafen sie am Stadttor auf zwei Fuhrwerke. Die stämmige, schwarzgelockte Varna war Mitte Dreißig. Sie lenkte einen offenen Wagen und hatte Bauholz geladen. Das andere Fuhrwerk war ein mächtiger, zweispänniger Planwagen. Er gehörte einem Händler aus dem Norden, der sich als Chiero Albacca vorstellte. Er mochte an die Vierzig sein und sein glattes, schwarzes Haar zeigte erste weiße Strähnen.
„Jungchen, kannst bei mir mitfahren“, bot die Fuhrfrau an. „Hab‘ noch Platz am Bock und könnt‘ Gesellschaft vertragen. Außerdem“, fügte sie augenzwinkernd hinzu, „reicht es, wenn zwei von Euch meinen Staub schlucken.“ Haul willigte ein, und Parin war erleichtert, der bedrückenden Gegenwart des mürrischen Zauberers entfliehen zu können. Varna erwies sich als fröhliche Plaudertasche