Schatten und Licht. Gerhard Kunit
als weiße Stadt mit schmucken sauberen Häusern, unterbrochen von gold- und silberblitzenden Tempeln und mächtigen Palästen. Der Seehafen, dem Bethan seinen Reichtum verdankte, schien an manchen Tagen zu klein für die vielen Schiffe und Boote, die aus dieser Höhe wie Spielzeuge wirkten. Mit scharfen Augen konnte man zwischen ihnen die Schauerleute ausmachen, die kostbare Gewürze und Tee aus den nördlichen Städten, Pelze und Walfischtran aus dem kalten Süden oder noch seltenere Kostbarkeiten entluden. Die Überschüsse des Kaiserreichs an Rindfleisch, Getreide, zu feinen Stoffen versponnener Wolle und sauber gegerbtem Leder wurden von hier in viele Teile der bekannten Welt verschifft, und das Handelsmonopol mit den Zwergen trug ein Übriges zu Wohlstand und Reichtum der imperialen Häfen bei.
Reimer dachte an den Vormittag. Nach dem Streit mit Vilana fand er Sylva an einer abgelegenen Stelle des Gartens, unter einen Busch gekauert und haltlos schluchzend. Dankbar kuschelte sich die Kleine an ihn, und beinahe hätte er den einen oder anderen Kampfzauber an einer gewissen Lehrkraft demonstriert. Als Sylva wissen wollte, wieso er sich für sie einsetzte, legte er ihr seine Gedanken über die Aufgaben eines Weißen Magiers dar. Er sah seine Verpflichtung darin den Schwachen beizustehen, die Unschuldigen zu beschützen und stets Wahrheit und Aufrichtigkeit im Herzen zu tragen.
„Aber was ist mit Disziplin und Regeln?“, fragte das Mädchen.
„Das sind Mittel für den Zweck. Wenn Du von wo fortgehst, sollte dieser Teil der Welt besser sein als zuvor.“ Zu seiner Überraschung wiederholte die Kleine den Satz und prägte sich jedes Wort ein.
* * *
Ein Windstoß fegte um eine Ecke und trug den Geruch von See und Hafen an Reimers Nase. Er war auf dem Weg zum Marktplatz, der jetzt, am frühen Nachmittag, belebt wäre. Anders als viele seiner Kollegen schätzte er den Kontakt mit Menschen. Hafenarbeiter, Fuhrleute, Bedienstete, Marktfrauen und Kaufleute, Gaukler und anderes fahrendes Volk ließen ihn eine Vielfalt von Farbe und Lebendigkeit empfinden, die er in der nüchternen Schule vermisste. Natürlich wusste er um die Schattenseiten der Städte, sah die harte Arbeit, die mit dem Leben des einfachen Volkes verbunden war und verschloss die Augen nicht vor dem Elend der Armen, denen die Götter weniger gnädig waren. Dennoch wollte er die Stunden, die er inmitten des bunten Treibens verbrachte, nicht missen. Wohl war er in seinen Gewändern als Magier und Hoher Herr erkennbar, aber die Marktfrauen kannten ihn, und in seinem Stammlokal wusste man, dass er sein Herz am rechten Fleck trug.
Während er mit einem fremden Händler um den Preis einer seltenen Abhandlung über die alchimistische Bedeutung der Insektoiden feilschte, wurde er auf eine johlende Horde aufmerksam. Er liebte das Lachen und Toben spielender Kinder, aber diesmal handelte es sich um eine Auseinandersetzung. Und um eine ziemlich einseitige, dachte er. Fünf Kinder, allesamt um die Zehn oder Zwölf, trieben einen hoch aufgeschossenen Burschen in die Enge.
Fünf gegen einen gefällt mir nicht, überlegte er. Aber helfe ich ihm, wenn ich mich einmische, ohne zu ahnen was dahintersteckt?
In diesem Moment schoss eine kleine Gestalt quer über den Platz und stürzte sich mit einem schrillen Schrei auf die Angreifer. Die schwarzen Haare kenne ich und die weiße Robe auch. Der Magister setzte sich in Bewegung.
Anfangs profitierte Sylva von der Überraschung und ihre Fäuste teilten aus, bis die Anderen von ihrem Opfer abließen. Dann musste sie erkennen, dass Mut und Begeisterung alleine nicht ausreichten, einer Übermacht entgegenzutreten.
„Guck mal, eine Hexe vom Berg. Die hat sich wohl verirrt“, spottete ein dunkelhaariges Mädchen in einem ärmlichen Kleid.
„Darfst ja noch gar nicht zaubern“, höhnte ein Junge mit kurzen blonden Stoppeln und schlug Sylva ins Gesicht. Die aufgestauten Aggressionen entluden sich in Schlägen und Tritten, die auf die tapfere Schülerin hereinprasselten, ehe der Magister heran war. „AUSZZEINANDER“ zischte er.
Erschrocken fuhren die Angreifer herum. Als sie in der drohenden Gestalt einen Zauberer erkannten, rannten sie davon. Obwohl Sylva heftig aus der Nase blutete, lächelte sie Magister Reimer tapfer entgegen und wollte zuerst dem fremden Jungen auf die Beine helfen.
Der versuchte ein schiefes Grinsen. „Danke, ich bin Torin, vielen Dank für … Aua!“ Er knickte ein, als er sein linkes Bein belastete.
„Lass mich das ansehen“, sagte der Magier. Vorsichtig nahm er den Unterschenkel des Jungen zwischen seine Hände und murmelte die Worte der Heilung. Mit großen Augen schaute der Junge zu ihm auf, während der Schmerz einem wohligen Prickeln wich.
„Und da müssen wir auch etwas tun“, meinte der Lehrer zu Sylva. Sein Blick glitt über ihre blutige Nase und die Schrammen in ihrem Gesicht. „Würde Dir recht geschehen, wenn es länger wehtäte, aber so kannst Du nicht in der Schule antanzen.“
Er hielt seine Hände vor ihr Gesicht und wieder fühlte er das Strömen der Energie, die sich ausbreitete und das Wunder der magischen Heilung vollbrachte. Torin beobachtete mit aufgerissenen Augen, wie sich das Gesicht seiner Retterin glättete, bis die Haut ihre ursprüngliche, rosige Färbung annahm.
„Was wollten die von Dir?“, fragte Sylva, als der Magister fertig war.
„Ich arbeite im Kupferkrug als Schankbursche. Mein Vater, der Wirt, hat zwei Rumtreiber an die Luft gesetzt, die nicht zahlen konnten. Ich glaube, einer war der Vater von einem der Burschen vorhin. Kommst Du mich einmal besuchen? Die Taverne ist gleich da vorne.“
* * *
Schweigend stapften Lehrer und Schülerin den steilen Weg zur Akademie hinauf. „Das war mutig von Dir und tapfer, aber auch ziemlich dumm“, sagte Magister Reimer schließlich. Er wies mit seiner Rechten auf die frischen Blutflecken und den Schmutz auf ihrer Kutte. „So können wir Dich nicht lassen. Es gibt da einen zwar unwichtigen, aber sehr nützlichen Zauber.“ Der Stoff reinigte sich unter seinen Händen. „Von Deinem kleinen Abenteuer sollten wir niemandem erzählen“, ergänzte er, als er fertig war.
„Warum?“ fragte das Mädchen und sah ihn mit ihren hellgrauen Augen an. „Es ist doch die Wahrheit.“
Schließlich war es der Ältere, der ihrem Blick nicht standhielt. Leicht wird sie es nicht haben, dachte er, aber sie hat eine große Zukunft vor sich.
Schweigend setzten sie sich wieder in Bewegung. Sein Blick streifte das Mädchen, das aufrecht neben ihm herging. Wenn wir sie lassen, führte er seinen Gedanken zu Ende und warf einen Blick zurück auf die im Meer versinkende Abendsonne.
* * *
Semira, Schülerin der Verwandlung an der Akademie zu Rand
„Heute werdet ihr das erste Mal zaubern. Ihr werdet einen Stein verwandeln.“
Die zehnjährige Semira war aufgeregt. Zaubern. Schon das Wort ließ ihren Bauch kribbeln. Endlich war es soweit.
Magister Geron musterte seine Schüler und Schülerinnen. „Jeder von Euch bekommt von mir einen kantigen Stein. Ihr werdet diesen in eine Kugel verwandeln. Gemäß der zugrundeliegenden Thesis stellt ihr euch vor, wie sich der Kiesel zu drehen beginnt. Dann führt ihr die Linien eurer magischen Kraft von rechts oben zu, bis sich der Stein darin verfängt und sie wie einen Faden aufwickelt. Ihr unterstützt den Vorgang mit dem Wort ‚Form‘ und gleitenden Bewegungen eures Stabes. Wenn ihr euch daran haltet, wird es dem einen oder anderen vielleicht gelingen, eine Veränderung herbeizuführen.“
Semira betrachtete ihren Stein. Mit seinem gesprenkelten Graubraun war er nicht schön, aber er lag angenehm in ihrer Hand. Sie wusste, welchen Wert der Magister auf die exakte Ausführung seiner Anweisungen legte. Also schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie sich der Stein zu drehen begann. Quelle meiner Kraft, dachte sie und Wärme stieg in ihr auf, wie sie das von den Meditationen kannte. Der Ton kam hingegen völlig unerwartet. Sie erschrak und ihre Konzentration brach zusammen.
„Ich habe etwas gehört. Ist das normal?“, fragte sie aufgeregt.
Geron schüttelte den Kopf. „Störende Einflüsse