Schatten und Licht. Gerhard Kunit

Schatten und Licht - Gerhard Kunit


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Akkord verbreiterte, während das Lied von ihr Besitz ergriff und an Intensität gewann. Die Melodie war ihr unbekannt und dennoch seltsam vertraut.

      Wie war die Thesis? Egal. Ihr Stab bewegte sich wie von selbst in ihrer Hand. Weißes Licht ergoss sich aus seiner Spitze und tastete nach dem rotierenden Stein wie ein behutsamer Fühler. Das Weiß zerfloss in leuchtendes Rot, Gelb, Grün und Blau, als es den Kiesel berührte. Das ist wunderschön, dachte Semira, während Tränen des Glücks in ihre Augen traten.

      Behutsam löste sie sich und zog ihre Kraft zurück. Die Melodie verebbte in einem sanften Nachhall und das Licht erlosch. Etwas Glattes, Rundes lag in ihrer Hand. Neugierig öffnete sie die Augen und sah eine Kugel, schön und durchsichtig wie Glas, in allen Farben des Regenbogens schillernd. „Schaut“, rief sie begeistert. „Schaut was ich gemacht habe.“ Sie hielt die Kugel hoch, damit sich die anderen mit ihr freuen konnten.

      Fenrik sah auf und hielt ihr seinen eigenen Kiesel entgegen, an dem keinerlei Veränderung zu erkennen war, während Hieron seinen Zauber irritiert unterbrach. Nur Ylva, mit der sich Semira die Kammer teilte, klatschte begeistert.

      „Tu das nie wieder“, tadelte Magister Geron. „Was immer dich geritten hat, lass es. Du hältst dich an die Thesis wie jeder andere hier.“

      „Aber ich habe Musik gehört“, erklärte Semira. „Und Farben gesehen.“

      Gerons Ohrfeige traf sie unvorbereitet. „Störrisches Kind“, schimpfte er, während er rot anlief. „Wenn du schon zu dumm bist, eine einfache Thesis umzusetzen, dann sei gefälligst still und schäm dich, anstatt damit anzugeben.“

      „Zaubern heißt diszipliniert arbeiten“, wandte er sich an die Schüler, während er sich nur langsam abregte. „Die Konzentration auf die Thesis ermöglicht uns klare, vordefinierte Resultate. Farben, Töne und ähnlicher Schnick-Schnack lenken uns ab, mehr noch: Sie führen uns in Versuchung und bringen uns vom reinen Pfad der Weißen Magie ab.“

      „Aber es war schön“, erwiderte das Mädchen. „Ich wollte doch ….“

      „Still jetzt! Es reicht! Ich will kein Wort mehr hören!“

       * * *

      „Hörst Du noch Etwas?“, wollte Geron in der nächsten Stunde wissen.

      Semira schüttelte den Kopf.

      „Lüg mich nicht an!“ Sein Schlag trieb ihr die Tränen in die Augen.

      „Hörst Du noch Etwas?“, setzte er nach. Sie nickte – und kassierte die nächste Ohrfeige. „Hör damit auf“, schärfte er ihr ein, ehe er sich wieder dem Unterricht zuwandte.

      So lernte Semira ihre Magie zu unterbrechen, ehe sich die Farben vollständig entfalteten und der letzte Ton verklang. Das fühlte sich zwar falsch an und mündete in misslungenen Zaubern und unfertigen Verwandlungen, aber sie eckte seltener an. Rasch gewöhnte sie sich daran, für schlechte Resultate gelobt zu werden.

      „Nein. Ich höre nichts mehr“, log sie bei Gerons gelegentlichen Nachfragen, und irgendwann war sie so gut darin, dass er ihr glaubte.

       * * *

      Ylva musste nacharbeiten und Semira genoss die wenigen Stunden, die sie für sich alleine hatte. Sie lag auf ihrer Pritsche und starrte an die Decke. Die Art wie sie die Magie spürte, hörte und sah, hatte sich in den letzten Wochen verfeinert und intensiviert. Manche Zauber funktionierten wie von selbst, während andere von Disharmonien begleitet wurden. Das eine oder andere Mal hatte sie Lehrer darauf angesprochen, war aber nur auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen.

      Die Anderen hören nichts, überlegte sie. Oder sie geben es nicht zu. Und sie tun sich mit dem Zaubern viel schwerer als ich.

      Ein leises Knattern lenkte Semiras Aufmerksamkeit auf einen dicken braunen Käfer. Neugierig öffnete sie sich und spürte in ihn hinein. Trotz des plumpen Äußeren unterschieden sich seine Schwingungen nur wenig von jenen der Libellen am Teich. Könnte man da …?

      Sie schloss die Augen und ließ ihre Magie fließen. Erinnerungen an die hübsche Glaskugel flossen ein und verbanden sich mit der Melodie der Verwandlung, doch etwas passte nicht. Ach ja, der Käfer ist eine Lebewesen. Das ist keine Verwandlung sondern eine Verzauberung. Da wurde der Klang harmonisch und fügte sich in den Rhythmus ein, bis Farben in den Käfer flossen und ihn von innen heraus erleuchteten.

      Semira öffnete die Augen. Wie schön, dachte sie, während ihre Augen dem Flug der schimmernden Glaslibelle folgten. Wie wunderschön. „Flieg ins Licht“, murmelte sie. Wie von Zauberhand änderte das Tier die Richtung. Im Sonnenstrahl, der durch das schmale Fenster fiel, funkelte es in allen Farben des Regenbogens.

      „Was ist das?“, fragte Ylva von der Türe her und Semira erschrak. Ihre Verbindung zu dem Tier brach ab, und der damit verbundene Misston ließ sie gleich noch einmal zusammenfahren.

      „Was hast Du gemacht?“, stammelte Ylva. Sie starrte auf das unförmige Häufchen von braunem Matsch und zerstörtem Chitin unter dem Fenster. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

      „Ist nicht schlimm“, wollte Semira sie trösten. „Es war doch nur ein Käfer.“

      „Es war ein Lebewesen. Wir dürfen noch gar keine Verzauberungen ausführen. Schon gar nicht so eine. Das … das ist Schwarze Magie. Du siehst ja, was dabei herauskommt.“

      „Ich wollte das doch gar nicht“, lenkte Semira ein. „Wirst Du mich verraten?“

      Ylva schüttelte den Kopf, dass ihre langen braunen Haare hin und her flogen.

      „Wir müssen ohnehin zum Schreibunterricht“, wechselte Semira das Thema. „Mal sehen, welches Zeichen heute dran ist.“

       * * *

      An diesem Abend lag Semira noch lange wach. Ylvas Atemzüge gingen ruhig und regelmäßig, aber in ihr klang die Melodie der Verzauberung nach – gefährlich und faszinierend, fremd und verlockend wie das Wesen der Magie selbst.

       * * *

       Darrian, Schüler der Verwandlung an der Akademie zu Rand

      Stolz führte Darrian die Schüler über den Hof. Seit Ardana und Hinrik zu Novizen aufgestiegen waren, trug er mit seinen vierzehn Jahren die Verantwortung, dass die Klasse pünktlich und vollständig zum Unterricht erschien. Prüfend musterte er die kurze Zweierreihe. Die beiden schwarz gelockten Burschen in der ersten Reihe waren Zwillinge. Sie überragten ihn um einen halben Kopf und waren nur knapp jünger als er. Hinter ihnen folgte Anja. Sie warf ihr volles braunes Haar aus dem Gesicht und lächelte ihm fröhlich zu. Die blonde Rhiana neben ihr war ein zurückhaltendes Mädchen, aber Darrian mochte ihre überlegte Art die Dinge anzugehen.

      Eine plötzliche Bewegung am Ende der Reihe lenkte seinen Blick auf zwei Buben, beide knapp elf Jahre alt. Sie stritten darüber, wer die Sachen der gleichaltrigen Semira tragen durfte, die stolz wie eine Königin hinter ihnen her schritt. Fenrik rempelte Hieron den Ellbogen in den Arm, der dabei beinahe die kostbaren Alchimieschalen fallen ließ, während Fenrik seine Bücherstapel nur mit Mühe unter Kontrolle hielt.

      „Aufhören! Sofort!“ brüllte Darrian. Auch er spielte gerne den Kavalier, besonders für Anja, wenn sich eine Gelegenheit ergab, aber was die Beiden aufführten war lächerlich. Hübsch war die Kleine ja, das gestand er gerne zu, aber die Freundlichkeit des blonden Mädchens war oberflächlich und distanziert.

      Die hellen Umhänge trotzten der kühlen Morgenluft nur ungenügend. Darrian war froh, als sie den Holzschuppen erreichten, der seit drei Wochen als provisorische Experimentierkammer diente. Der eigentliche Labortrakt lag aus guten Gründen in einiger Entfernung zu den übrigen Gebäuden, aber bis zu dem Brand hatten die Schüler diese Vorsichtsmaßnahme für eine Wichtigtuerei der Professoren gehalten.

      Einer nach dem Anderen traten die Schüler in den Raum mit den Arbeitstischen. Semira strich dabei an Darrian vorbei. Ein strahlendes Lächeln


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