Junger Wilder. Urb Sinclair
wunderbare Ruhe und schlichte Schönheit liegt über diesem jungen Oktobermorgen. Es ist ein Bild des Friedens und der grenzenlosen Freiheit, der ihn auszeichnet. Das Leben scheint in sich gekehrt zu sein, ohne Ausnahme.
Es ist, als läge die Welt mit sich im reinen. Als läge sie in einem Moment des zeitlosen Friedens. Mittendrin in diesem wunderbaren Augenblick der göttlichen Offenbarung, diese beiden weissen Vögel auf dem leicht kräuselnden und in der Sonne glitzernden Seewassers.
Wie auf ein stilles Zeichen hin, heben sie sich gemeinsam, mit ein paar kurzen, kräftigen Flügelschlägen, senkrecht aus dem Wasser empor. Für einen kurzen Augenblick verharren sie mit weit ausgespreizten, weissen Schwingen im kühlen Morgenwind. Die Wassertropfen fallen wie glitzernde Perlen von ihrem Gefieder zurück in den See.
Zusammen mit der kühlen Bise tragen die beiden Möwen die Leichtigkeit des Seins auf ihren Schwingen in grossen Kreisen dem stahlblauen Himmel entgegen. Immer weiter hinauf lassen sie sich von dem stärker werdenden Winde sich tragen. In einem weiten Bogen drehen sie sich über das untere Ende des Sees in Richtung Westen, gegen die Stadt.
Winzig klein erscheinen die Dächer der Häuser, die Höfe und die Gassen aus dieser Höhe. Die Limmat, die sich durch die vielen Bauten hindurch schlängelt, zieht sich als blauer Faden immer Richtung Westen.
Weit, weit unten am Ufer des Flusses, da steht eine kleine Gruppe vereint. Helle Kleidern tragend und mit Blumen in den betenden Händen stehen sie am Ufer des Flusses.
Asche zu Asche, Staub zu Staub. Für die beiden weissen Vögel wohl kaum zu erkennen, da sie weit, weit oben am Himmel nebeneinander herfliegen. Zusammen vereint, in Einklang und Harmonie…
I. Auf dem Lindenhof
Mit meiner Spiegelreflexkamera in den Händen stehe ich mitten im Herzen von Zürich, auf dem Grossmünsterplatz. Es ist ein wundervoller Frühlingsmorgen. Die Luft ist klar und rein. Sie duftet wieder. Sie duftet nach Leben, sie duftet nach Liebe und Kunst.
Nicht so wie in den letzten verstaubten Wintermonaten. Mich dünkt, als würde die Luft in dieser kalten Winterzeit nach nichts riechen. Sie scheint geruchlich ausgetrocknet und leblos zu sein. Ausser, wenn vielleicht der Nachbar in der Strassenbahn neben mir einen fahren lässt, oder sich die Türe zu einer Bäckerei oder einer Parfümerie vor mir öffnet, dann riecht sie. Aber nicht so dieser poetische Morgen des Frühlings, der sinnlich voller jugendlicher Frische und Fülle duftet.
‚Frühling lässt sein blaues Band; Wieder flattern durch die Lüfte; Süsse, wohlbekannte Düfte; Streifen ahnungsvoll das Land...‘[1], geht es mir durch den Kopf.
Es ist wahrlich ein prächtiger Frühlingsmorgen. Einer voller Geschmack, einer der letzten dieses Jahrtausends. Die Leute um mich sind wie verwandelt.
Sie tragen wieder leichte Kleidung für die wärmeren Tage. Ich sehe Leute mit luftigen Hosen kombiniert mit bunten Shirts, farbigen Hüten und modischen Sonnenbrillen. Sie strecken ihre bleichen Gesichter der Sonne entgegen und lassen sich ihre zarte Haut von den wärmenden Sonnenstrahlen abküssen. Das Leben, es scheint schön zu sein.
Vor mir erheben sich majestätisch die beiden Zwillingstürme des Grossmünsters weit in den stahlblauen Himmel hinauf.
Zu meiner Rechten beobachte ich eine Hand voll Asiaten, die ich als Japaner oder Taiwanesen einstufe. Mit ihren kleinen Automatikkameras um die Handgelenke gebunden, stehen die kleingewachsenen Leute in ihrer Reisegruppe auf dem Zwingliplatz. Sie lassen sich etwas von jemandem aus ihrer Gruppe erklären. Wahrscheinlich ist es der Reiseleiter oder vielleicht auch einer ihrer Leute, der es besser wissen muss, als seine Begleiter.
Mit meiner manuellen Fotokamera versuche ich, auf der kniehohen Ummauerung des Platzes stehend, einen guten Winkel für mein Bild zu finden. Die Sonne steht gut.
Aus reiner Leidenschaft am Fotografieren besuche ich derzeit einen Fachkurs für Fotografie in meiner Wohngemeinde. An diesem Kurs hatte ich mich für das Thema ‚Zürich, mit seinen Sehenswürdigkeiten’ entschieden. Dafür bin ich extra aus dem Zürcher Oberland hergefahren. Dieser Frühlingsmorgen kommt mir nun für ein paar gute Bilder aus der Stadt genau richtig gelegen.
Es wirkt alles so rein und frisch um mich. Es ist mir, als wären die Menschen aus einem tiefen Schlaf erwacht und sie tasten sich nun mit ihren verschlafenen Augen in einer ihr fremden Welt um sich.
So lasse ich mich gemütlich mit diesen Neuentdeckern, durch die Strassen und Gassen von Zürich treiben. Meine nächsten Ziele sind weitere Sehenswürdigkeiten wie grosse, ehrwürdige Kirchen, bekannte Plätze, schöne und alte Häuser mit geheimnisvollen Hinterhöfen, sowie mit Blumen geschmückte Brünnen und kunstvoll angefertigte Statuen dieser wundervollen Stadt.
Auf dem Lindenhof angekommen, mache ich meine letzten Bilder mit meiner Fotokamera. Auf diesem grossen, rechteckigen Kiesplatz wurden einst viele Linden bepflanzt. Der Hof liegt auf einer Anhöhe am Flussufer der Limmat. Von dieser Anhöhe aus sieht man über den Fluss und auf die umliegende Altstadt. Unter den Bäumen stehen zahlreiche Parkbänke.
Menschen hat es fast keine auf dem Lindenhof. Ausser ganz hinten auf der vom Fluss abgewandten Seite, da stellen zwei Schachspieler die Figuren auf einem grossen Schachfeld auf. Da ich vom vielen gehen ermüdet bin und ich alle meine Fotografien die ich brauche gemacht habe, beschliesse ich, mich auf eine freie Parkbank neben dem Schachfeld zu setzen.
Gespannt verfolge ich die Eröffnung der Schachpartie. Der eine, ein kleiner, älterer Herr mit rotweisser Schirmmütze, streicht sich mit der Hand nachdenklich über seinen dichten, krausen Vollbart, der grau in der Sonne schimmert. Sein Äusseres erinnert mich, mit seinen abgewetzten Jeans und dem halb offenen, karierten Hemd, an einen in die Jahre gekommenen Truckerfahrer.
Der andere Spieler ist schätzungsweise um die Dreissig. Dieser Mann hat eine dunkle Baskenmütze auf seinem schmalen Kopf, die sich stilsicher zum hageren Körperbau mit den hängenden Schultern, leicht zur Seite neigt. Passend zu seiner Kopfbedeckung trägt der jüngere Mann ein schwarzes Gilet über das cremefarbene Hemd. Dazu luftig blaue Strandhosen als Beinbekleidung. Seine dunklen, listigen Augen bewegen sich nervös über das Spielfeld. Ich nehme mir nochmals die Zeit und schiesse, nach einem höflichen Fragen der beiden Schachspieler, einige weitere Fotos.
Interessiert am Verlauf der Partie Schach, sitze ich nachdenklich auf der Parkbank neben dem Spielfeld.
Ich bemerke kaum wie sich aus der Fortunagasse herkommend, jemand unter den Bäumen hindurch über den Lindenhof bewegt. Erst als ich die knirschenden Geräusche des Kieses unter den Füssen der Person vernehme, wende ich meinen Kopf kurz zur Seite.
Ein grosser, hagerer Mann in einem dunklen Anzug setzt sich neben mich auf die Parkbank. Sein glattes, eisengraues Haar trägt er militärisch kurz geschnitten. Seine dunklen, braunen Augen mustern mich einen kurzen Moment von der Seite.
Der kleine, ältere Herr mit Bart hebt kurz seine rot-weisse Schirmmütze an und lächelt grüssend zur neu angekommenen Person hinüber: „Einen schönen guten Tag, geehrter Herr Pfarrer Bruno. Wie geht es ihnen? Kommt ihr mit ihren Vorbereitungen für den bevorstehenden Ostergottesdienst auch gut voran?“
„Ja, vielen Dank!“ entgegnet er freudig, „Die Hauptprobe haben wir bereits gut über die Bühne gebracht.“
‚Aha, ein Pfarrer!’ geht es mir kurz durch den Kopf.
Ungewollt höre ich den beiden Bekannten bei ihrer Unterhaltung zu.
Der angekommene Geistliche macht durch seine ruhige und besonnene Art auf mich einen sehr interessanten Eindruck. Wie es scheint, ist er des Öfteren hier auf dem Lindenhof und kennt die beiden Schachspieler bestens.
Das Gespräch zwischen den beiden ist jetzt sporadischer geworden.