Tagebuch einer Verlorenen. Margarete Tagebuch Böhme
geheimnisvolle Schwerkraft meine Füße an der Erde, und bei aller Qual war ein Lebensdrang in mir, der mächtig aufwallte und mit seinem heißen Strom die eisigen Schauer des Sterbenwollens überflutete und auslöschte.
Eine Verzweiflung war in mir, in meinem Gehirn rannten die Gedanken wie wild geworden durcheinander, ein rasender Schmerz brannte in allen meinen Gliedern. Ich wünschte mir nur eins: Bewußtlos werden und nicht mehr aufwachen.
Wie lange ich dagestanden habe, weiß ich nicht. Auf einmal nannte jemand meinen Namen, ich drehte mich um und sah in Tante Friedas blasses, trauriges Gesicht und in ihre nassen Augen, und ihr Gesicht kam mir merkwürdig verändert vor. Gar nicht mehr so spitz und grämlich verkniffen wie sonst.
»Thymian! Komm, mein armes Kind«, sagte sie, »komm heim zu mir«
Sie nahm meine Hand in ihren Arm und ich folgte ihr wie im Traum, mich widerspruchslos ihrem Willen unterordnend. Ich habe sie vorher nie so sprechen hören. Ich habe nie geahnt, daß ihre Stimme so warm und so weich und innig klingen könnte. Ich hatte sie immer nur keifen und schelten hören, und nun, wo ich soviel verbrochen hatte, und wie eine arme Sünderin neben ihr herging, floß ihr Mund über von sanften, zärtlichen, tröstenden Worten. Und es war mir plötzlich, als hätte ich diesem wunderlichen alten Weibchen ein ganzes Teil abzubitten, als wäre ich in meiner kindischen Torheit alle die früheren Jahre blind gewesen und hätte nicht gesehen, welch ein treues, gutes Herz sich unter dem Geschnörkel ihres absonderlichen Wesens und ihren vielen kauzigen Eigenschaften verbirgt.
Oben in ihrem Wohnzimmerchen war es dunkel, als wir hinaufkamen, ich setzte mich aufs Sofa und legte die Arme auf den Tisch und den Kopf in die Hände, und Tante Frieda strich mit der Hand über mein Haar und sagte wieder leise: »Armes Kind! Armes, unglückliches Kind! Was haben sie aus dir gemacht …«
»Ich bin ja schlecht, Tante Frieda«, sagte ich, »es wäre am besten, wenn ich tot wäre.«
»Nein, Thymian«, sagte sie ernst. »Die Toten können nichts gut machen, und du hast viel zu tun, um deine Schuld gut zu machen. Du sollst an dir arbeiten, daß du trotz allem und allem ein tüchtiges, braves Mädchen wirst.«
»Aber ich heirate Meinert nicht«, rief ich, »eher geh’ ich ins Wasser.« Sie nickte. »Das hab’ ich mir gedacht, und ich kann dir nicht unrecht geben. Sei still, Liebes. Ich will mit Vater reden. Wir wollen ihn hierherkommen lassen. Wir wollen sehen, was zu machen ist.«
Sie sprach eine lange Weile zu mir; ich habe nicht alles behalten, was sie redete, aber es waren gute, liebe, freundliche Worte, kein Schelten, keine Vorwürfe, keine bissigen Anspielungen. Zuletzt erzählte sie mir von der schönen Frau Claire Gotteball, meiner Urgroßmutter, die der Urgroßvater als blutarmes Mädchen von Paris mitgebracht hatte. Als sie vier Jahre verheiratet waren, hat sie ihn und ihre zwei Kinder verlassen und ist mit einem reichen Kaufmann nach Indien gegangen, und nie wieder ist Kunde von ihr gekommen. Ihr Name ist in der Familiengeschichte der Gotteballs gestrichen, aber ein paar verspritzte Tropfen des leichtsinnigen, französischen Kokottenblutes haben sich in der nachfolgenden Generation erhalten und machen, wie ein vererbter Fluch, sich immer wieder geltend.
»Die Sünden der Väter rächen sich bis ins dritte und vierte Glied«, murmelte Tante Frieda, »das ist wahr … ja, das ist wahr …«
Nachher kam Vater. Sehr niedergedrückt und geschlagen. Das Haus war ihm auch eine Hölle. Die Lene zeterte, und Meinert war höhnisch und verbissen.
Vater und Tante Frieda unterhandelten in halblautem Ton miteinander. Ich schlief darüber vor Müdigkeit auf dem Sofa ein.
Als ich aufwachte, erfuhr ich, was sie abgemacht hatten. Ich soll nach Hamburg. In den nächsten Tagen will Vater mich hinbringen. Ich soll bei einer Frau bleiben, bis alles überstanden ist, und dann soll ich irgendwo auswärts bei einer Familie in Pension kommen.
Mir ist alles so furchtbar gleichgültig, was wird. Ich habe vorhin an Osdorff geschrieben. Ich möchte ihn so gern noch mal vor meiner Abreise sprechen. In ein paar Monaten kommt er auch fort.
Mir ist hundemiserabel zumute. Ich bin noch bei Tante Frieda. Meine Sachen sind alle hierhergebracht. Nach Hause geh’ ich vor unserer Abreise nicht mehr. Ich fürchte mich, Meinert zu begegnen.
Ich hasse ihn so unsagbar.
Nun bin ich schon fünf Wochen in Hamburg. Frau Rammigen heißt die Hebamme, bei der ich wohne. Sie bewohnt ein Häuschen ganz allein an der Eimsbüttler Chaussee, mit einem Gärtchen dahinter. Mit mir zusammen ist noch eine Dame hier, die schon im nächsten Monat ihrer Niederkunft entgegensieht. Frau Liesmann heißt sie, sagt sie. Ich glaube aber nicht, daß sie verheiratet ist, sonst war sie wohl nicht hier. Sie ist aus Hannover. Ein schönes Weib mit goldrotem Haar und milchweißer, hier und da von ein paar blassen Sommersprossen durchsetzter Haut. Wir gehen oft zusammen spazieren, weil wir uns ja beide so sehr langweilen.
Was soll man auch den ganzen lieben langen Tag machen!
»Frau« Liesmann ist vierundzwanzig Jahre alt. Gott, hat die elegante Toiletten! Ich möchte auch so schöne Sachen haben. Die ersten Gelenke ihrer sämtlichen Finger sind dicht mit Brillanten garniert.
Neulich war ein Herr hier und besuchte sie. Ihr »Mann«, sagte sie. Ist aber natürlich nicht wahr. Er hatte ein Taschentuch hier liegen lassen, das ich fand, und das mit den Initialen V.v.V. gezeichnet war. Ihr Mann müßte doch Liesmann heißen. Sie waren sehr zärtlich zusammen. Einen Abend hatten sie mich mit ins Theater genommen und nachher speisten wir bei Ehmke am Gänsemarkt. Er war ja sehr nett, aber ich kam mir doch recht überflüssig vor bei den beiden, die sich gar nicht genierten, und sich in meiner Gegenwart küßten, daß es eine Art hatte. Dann machte der Herr einige Bemerkungen und Anspielungen, die ich sehr taktlos fand. Ich war direkt verletzt dadurch. Das merkte der Herr V.v.V., alias Liesmann, wohl, denn er lachte und klopfte mir auf die Wange und sagte lachend: »Nur nichts übel nehmen, Kindlein. Ist ja alles menschlich. Und schön ist’s doch – das Leben auf der Landstraße.« Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Wie wir aber nachher nach Hause gingen, die beiden Arm in Arm, und ich daneben, kam ich mir doch recht einsam und verlassen vor. Wenn ich darüber nachdenke, meine ich, in meinem Schicksal wäre noch etwas Besonderes, was es erst recht düster und trostlos macht. Ich weiß auch, was es ist. Das ist es, daß kein Zweiter da ist, der mit mir leidet und um dessentwillen ich leide. Wenn ich nur sagen könnte, ich hätte einen Menschen unendlich lieb gehabt, und mich ihm hingegeben, und ich müßte dafür büßen, dann wäre das alles nicht so furchtbar. Aber so … Manchmal ist mir, als ob das alles nur in meiner Phantasie wäre, und als ob ich gar nicht … lieber Gott!
Frau Rammigen ist eine sehr nette Frau, aber nicht viel zu Hause. Heute ist Frau Liesmann nach St. Pauli zu einer Schneiderin, ich mochte nicht mit, weil mir so müde ist. Da habe ich mir das Buch hervorgeholt und schreibe.
Sie heißt doch in Wirklichkeit Frau Liesmann. Wir haben uns angefreundet und du und du getrunken und nennen uns Thymian und Konni (sie heißt nämlich Konstanze mit Vornamen). Konni hat mir ihren ganzen Lebenslauf erzählt. Sie ist bei ihrer Großmutter, einer Wäscherin in Hannover, erzogen und wurde mit siebzehn Jahren an einen Witmann mit drei Göhren verheiratet. Drei Monate hielt sie es bei ihm aus, dann ist sie durchgebrannt. Seitdem hat sie viele Schätze gehabt und war auch mal eine Zeitlang am Theater. Jetzt hat sie den Herrn V.v.V., der heißt Viktor von Vohsen, ein reicher Fabrikbesitzer, der ganz für sie sorgt. Sie sagt, sie freut sich unbändig, daß sie ein Kind von ihm kriegt, weil sie ihn damit fest hat und den Männern sonst doch nicht zu trauen ist. Ich fragte sie, ob sie ihn sehr liebte. Da lachte sie und meinte, das sei doch Nebensache. (Er ist nämlich ganz und gar nicht hübsch!) Wenn man so viel geliebt habe, wie sie, sei man allmählich »durch«, die Hauptsache sei, daß man seine Existenz sichere. Auf Schönheit lege sie gar keinen Wert, nur auf Schick. Schick müsse so ein Mann sein, auf der Straße, im Hause, im Bett. Und Schneid müsse er haben. Das übrige sei Nonsens. Ich mußte dabei an Osdorffs tadellose Stiefel und an seine gepflegten Hände denken. Ich glaube, Konni Liesmann hat recht.
Man sieht mir noch gar nichts an. Es macht mir Spaß, wie sich die Männer die Hälse nach mir verdrehen. Das habe ich daheim gar nicht so bemerkt. Wenn Konni und ich mittags am Jungfernstieg spazieren