Tagebuch einer Verlorenen. Margarete Tagebuch Böhme
einem Mal fing es an zu grollen, als ob fernher ein wildes Tier brüllte. Ich kann nicht beschreiben, was ich in diesen Nachtstunden ausgestanden habe. Nun wurde es plötzlich hell, ich fuhr empor und sah die ganze Stube in blauem Feuer und in der Ecke stand Elisabeth im weißen Nachtkleid mit dem gräßlichen, grünlichen, entstellten Gesicht und den langen nassen Haaren und den aufgerissenen Augen. Ich stieß einen furchtbaren durchdringenden Schrei aus, und das Feuer erlosch, aber die Gestalt blieb in der Ecke und starrte mich an, und ich schrie – und schrie – ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden, wenn ich die Nacht hätte allein zubringen müssen.
»Was ist denn los, Thymian? Warum schreien Sie denn?« rief Meinert hinter der Tür, und als ich nicht aufhörte zu schreien, machte er die Tür auf und trat ein und beugte sich über mich. Ich klammerte mich mit beiden Armen an ihn fest und konnte zuerst kein Wort hervorbringen und zeigte nur nach der Ecke, wo das Gespenst stand, und stammelte von dem, was ich gesehen hatte.
»Ja«, sagte er und lachte, »es ist Gewitter. Und dem Gespenst in der Ecke wollen wir gleich den Hals umdrehen. Guck mal her, Thymi«, und da ging er hin und griff die weiße Gestalt an und da sah ich, daß es das Handtuch war, das ich im Spiegel gesehen hatte, aber nach Lachen war mir nicht zumute, und ich bat Meinert flehentlich, nicht fortzugehen, weil ich mich totängstigte. Er setzte sich bei mir auf den Bettrand und legte den Arm um mich und die warme Nähe eines Menschen tat mir wohl und beruhigte mich.
»Warum hat sie das getan, Herr Meinert? Warum hat sie es nur getan?« sagte ich. »Sagen Sie mir alles, wenn Sie es wissen.«
Er streichelte mir mit der rechten Hand die Wangen und küßte mich und obgleich es sich nicht schickt, ließ ich es geschehen, ich war so verwirrt und durcheinander, daß ich an nichts dachte, als an das Furchtbare.
»Ja, Thymi, weißt du das wirklich nicht«, sagte er, und ich fand nichts darin, daß er mich plötzlich wieder duzte. Seit meiner Konfirmation nannte er mich sonst Sie.
»Ein so großes, gescheites Mädel. Bist sonst so helle und hast Augen und siehst nichts? Das überspannte Frauenzimmer hatte ein Verhältnis mit deinem Vater und bildete sich ein, daß er sie heiraten werde. Und weil er dies nicht wollte und es bei ihr brannte, geht sie in ihrer Übergesottenheit hin und ersäuft sich.«
»Weshalb wollte Vater sie nicht heiraten und wieso brannte es bei ihr?« fragte ich.
»Gott, bist du dumm, Thymi«, sagte Meinert und seufzte. Und dann erzählte er mir, daß die Elisabeth in anderen Umständen gewesen sei. Und ich dürfte deshalb nicht schlecht vom Vater denken. Es sei einmal so, daß ein gesunder Mann in seinen Jahren die Frauen brauchte, ebenso wie die Frauen die Männer brauchten, das sei eine Einrichtung der Natur, die sich nicht verleugnen lasse. Vater benehme sich sehr nobel gegen die Frauenzimmer, bezahle ihnen das Wochenbett und tausend Mark Schmerzensgeld und sorge für das Kind bis zu der Konfirmation. Wenn aber Vater solch eine Person heiratet, hätte ich den Schaden davon. Denn dann wäre jedes Kind mit mir gleichberechtigt und die Erbschaft würde nachher für mich wässerig. So kriege er solch einen Balg für fünfzig Taler jährlich in Hamburg unter. Der Reinhard ihr Junge sei gleich gestorben, und die tausend Mark bekam sie doch. Die hätte ein feines Geschäft dabei gemacht. »Der brauchten wir nur mit dem Finger zu winken, da käme sie wieder zu uns«, sagte er roh, »aber wir mögen sie nicht mehr. Sie ist uns zu fett. Die ist wieder putzmunter und fidel. Mit der Elisabeth war das von vornherein schwer. Ich hätte mich nicht an sie herangewagt und habe auch deinen Vater gewarnt. Die Sorte spekuliert nur auf die Versorgung.«
»Nein, das hat sie nicht getan. Aber Elisabeth war ein anständiges Mädchen«, schrie ich und stieß Meinerts Hand, die immerfort über meine Wangen strich, fort; denn seine Berührung verursachte mir plötzlich Ekel und Grauen.
»Ja, dann will ich man gehen«, sagte er und stand auf. Als er schon an der Tür war, überfiel mich wieder die Angst, ich fing an zu weinen und da kehrte er um und setzte sich wieder auf mein Bett und nahm meinen Kopf in seine beiden Hände und beugte sich tief über mich, so daß ich trotz der Dunkelheit gerade in seine flimmernden blauen Augen sehen mußte. Ich weiß nicht, wie mir war. Ich wußte damals auch nicht, wofür und vor was ich mich eigentlich so grenzenlos fürchtete. Mein Herz klopfte vor Angst, mir graute vor Meinert und doch ging ein seltsames Zucken und Beben durch meinen Körper, irgendein fremdes, rätselhaftes Empfinden, das ich nie vordem kannte. Ich duldete seine Küsse und duldete es, daß er mich fester und fester an sich drückte. Ich war wie betäubt. Ich wollte mich aus seiner Umklammerung befreien und ihn abschütteln, aber ich hatte nicht die Kraft dazu …
Im Morgengrauen schlief ich ein und erwachte erst spät am anderen Vormittag. Zuerst meinte ich, ich hätte alles geträumt, aber nach und nach kam mir das Bewußtsein der Wirklichkeit. Da drückte ich den Kopf in die Kissen und weinte, denn ich schämte mich so sehr und fürchtete mich, Meinert anzusehen und mit ihm zu sprechen. Wie ich noch vor mich hinschluchzte, ging die Tür und Meinert kam herein. Er sprach sehr gut, sehr zärtlich zu mir und sagte, ich wäre nun seine Geliebte, und wir würden niemand unser Geheimnis merken lassen. Er hebe mich ja seit meiner Kindheit. – Vielleicht würden wir uns noch mal heiraten. Vorläufig sei es so viel schöner. Ich antwortete nichts; konnte nichts antworten.
Zwei Tage später ist Elisabeth vom Armenhaus aus beerdigt. Ganz in der Stille, frühmorgens haben sie sie hingebracht, damit möglichst wenig Leute davon gewahr werden und kein Auflauf entstehen sollte. Mitten zwischen den Armen-Leute-Gräbern liegt ihr Hügel. Ich habe Blumen und Efeu darauf gepflanzt und besuche sie oft.
Arme, arme Elisabeth …
Mir ist so schwer ums Herz. Ich bin so unglücklich. Ich möchte immerzu weinen …
Morgen mehr …
Ach Gott, ist das Haus öde, seitdem Elisabeth tot ist. Wir haben jetzt eine Witwe als Haushälterin, eine schmeichlerische, behäbige Person mit einem glatten, weißen Gesicht und schwarzem Haar. Frau Lene Peters heißt sie. Sie spricht sehr langsam und zieht die Worte am Ende in die Länge, als ob sie singen wollte. Ich kann sie nicht leiden, obwohl sie immer sehr nett zu mir ist und sehr mütterlich tut. Es liegt etwas Falsches in ihrem Wesen. Sie ist immer so um Vater herum, wenn er sich an der vergreift, ist’s kein Wunder, sie macht es ihm leicht. Ins Wasser geht die nicht, davor ist mir nicht bange.
Früher habe ich auf so etwas gar nicht geachtet, aber jetzt sehe ich mit zwei Augen, was um mich vorgeht.
Manchmal ergreift mich ein fürchterlicher Widerwille vor mir selber und vor meiner ganzen Umgebung. Zwischen Vater und mir steht eine unsichtbare Wand. Er fühlt sie nicht, aber ich: Elisabeths Schatten geht zwischen uns um. Ich weiß, ich habe kein Recht, Vater, der mich unendlich liebt, zu verdammen, aber in den schrecklichen Stunden ist etwas in mir untergegangen: Die Achtung und das Vertrauen zu meinem Vater.
Sonst habe ich gewiß kein Recht, mich auf das hohe Pferd zu setzen. – Herrgott, bin ich elend seit jener Nacht … Ich möchte am liebsten fort. Ich hasse Meinert. Und doch gehöre ich ihm fort und fort an. Oft riegele ich mich abends in meinem Zimmerchen ein. Aber es ist wie behext. Mitten aus dem Schlafe wache ich auf von seinem leisen Anpochen, und wenn ich gleich mit zusammengebissenen Zähnen erst still liegen bleibe und mich nicht rühre, eine geheimnisvolle Macht, die stärker als mein Wille ist, treibt mich schließlich doch auf und zur Tür, daß ich öffne.
Ich bin ganz verändert seit jener verhängnisvollen Nacht. Zuweilen meine ich, die Leute könnten mir ansehen, was mit mir ist, ich mag niemand mehr gerade in die Augen blicken. Besonders vor Tante Friedas scharfen Augen fürchte ich mich. Sie guckt mich oft so verdächtig an, daß ich manchmal denke, sie ahnt etwas: aber ich selber sehe die Leute auch anders an als früher.
Ich kann zum Beispiel nicht mehr unbefangen mit Osdorff verkehren. Ich muß immer seine Hände betrachten, diese weichen, weißen, schönen Hände, die mir früher schon so gut gefielen. Nur daß mir heute ganz merkwürdige Empfindungen kamen, während ich auf sie hinsehe. Ich spüre zuweilen ein heftiges Verlangen, mich von diesen schönen, glatten, weißen Händen schlagen zu lassen. Einmal wurde der Wunsch so stark in mir, daß ich es ihm sagte.
»Schlagen Sie mich«, sagte ich, »kratzen, kneifen Sie mich, Osdorff. Ich möchte mir Schmerzen von Ihren