Nachtstreuners Flaschenpost. Louis Leon Cherrel

Nachtstreuners Flaschenpost - Louis Leon Cherrel


Скачать книгу
dem Elternhaus ausziehen, viele Freunde verlieren, mit anderen enger zusammenkommen, Mädchen kennenlernen, Mädchen nachtrauern und vieles erleben, was eben passiert in dieser prägenden Zeit.

      Der Leser kann sich hier bereits eines denken: Auf einem Jungen, aus einer - oberflächlich betrachtet - so überdurchschnittlichen Familie, muss ein enormer Druck lasten. Ohne Ausschweifungen hiermit klarzukommen, kann eine durchaus schwierige Aufgabe sein.

      Möge sich jeder sein eigenes Bild machen.

      1: Morgens

      Ich blicke in die gleißende Sonne Andalusiens. Mein Blick wandert vom Himmel hinunter in das Tal. Eingebrannt auf meiner Netzhaut bleibt der Himmelskörper als weißer Fleck in meinem Blickfeld bestehen. Nach und nach schrumpft die Sonne meiner Netzhaut wieder, sodass mein Sichtfeld sich erweitert. Ich hebe meinen Hut und wische mir den Schweiß von der Stirn. Der Hirte in der Ferne treibt seine Schafsherde voran. Ich klettere über einen großen Stein, um ihm zu folgen. Doch plötzlich weht stürmisch der Bruder der Levante auf und die Küste Afrikas ist zum Greifen nah. Ich greife zu, werde vom Wind mitgezogen, wirble über die Meeresenge und lande sanft vor einer mit lehmigem Boden bedeckten Gasse, in einer Stadt des schwarzen Kontinents. Die Gasse führt einen kleinen Hang hinauf. Ich folge dem Weg. Der Aufstieg ermüdet mich. Oben angekommen erblicke ich ein Glaswarengeschäft, in welchem Tee ausgeschenkt wird. Ich bestelle in einer fremden Sprache und ein Jüngling bringt mir ein Glas Tee. Ich trinke, blicke in das Glas und plötzlich verfärbt sich der Tee. Er verwandelt sich, nimmt den Farbton des lehmfarbenen Bodens an. Ich blicke tiefer in das Glas. Ich blinzele. Die neue Farbe des Tees nimmt mein gesamtes Blickfeld ein. Ich blinzele erneut. Der Tee ist verschwunden, nunmehr liegt der reine Boden vor mir. Ich hebe den Kopf. Der Jüngling Santiago sitzt neben mir. Die Sonne geht gerade auf. Er hat Reisegepäck neben sich auf dem Boden liegen. Wir rauchen gemeinsam die Nargile. Santiago zieht – beruhigendes Blubbern. Er atmet aus, reicht mir den Schlauch und spricht „Baktu“. Ich nehme einen tiefen Zug, schließe die Augen, lehne mich zurück – „Baktu“.

      Vogelgezwitscher.

      Ich öffne die Augen. In meiner Hand befindet sich eine hölzerne Lesepfeife. Ich blicke auf meine haarigen nackten Füße. Ich sitze auf einer Bank vor einem mit Gras bewachsenen Hügel, in welchem eine tiefgrüne, runde Türe eingelassen wurde. Um mich herum ein Bauerngarten: Kapuzinerkresse, Lavendel, Rosen und diverse Kräuter. Auch einige Weinreben hangeln sich den Hügel neben der Tür hinauf. Neben mir befindet sich ein kleiner Brombeerstrauch, von dem ich verträumt ein wenig nasche.

      Ein Schlürfen links von mir lässt mich aufschrecken. Neben mir steht ein kleiner Mann, der aus einer weißen Porzellantasse Kaffee saugt. Er reicht mir auch eine Tasse und setzt sich neben mich auf die Bank. Auch er ergreift eine riesige Tabakpfeife, klappt eine Zeitung auf und fängt an langsam kleine Rauchringe in die vor uns liegende Hügellandschaft zu pusten.

      „Ein wirklich wunderbarer Morgen mein Freund!“

      Ich nicke zustimmend, nehme einen Schluck Kaffee und puffe den Tabak. In der Ferne sehe ich einen alten Mann näherkommen. Wie von selbst nehme ich noch einen tiefen Zug von der Pfeife und trinke den Kaffee mit einem großen Schluck aus. Eine unsichtbare Hand packt mich am Kragen. Die Kraft zieht mich herum, die kreisrunde Tür zur Höhle öffnet sich und ich werde hineingezerrt. Leise ertönt ein Geräusch, wie wenn jemand die Nadel eines Plattenspielers auf eine Schallplatte aufsetzt. Während ich nach der Quelle suche, erklingt eine Melodie: Es sind Reggae-Offbeats zu hören, eine Band wird auf Englisch angekündigt, ich suche weiter, jemand fängt an auf Deutsch zu singen, ich blicke in den nächsten Raum und entdecke endlich die Quelle: In dem Raum stehen elf Männer an unterschiedlichsten Instrumenten, alle tanzen und feiern ihre Musik. Einer der Männer verwandelt sich in einen Fuchs, rennt auf mich zu, springt mich an, reißt mich um und kläfft ununterbrochen im Rhythmus der Musik „aufstehen, …, aufstehen, …, aufstehen, …“ Der Fuchs reißt sein Maul auf und verschluckt meinen Kopf, ohne dabei mit dem Singen aufzuhören. Ich reiße mich herum, schlage mit Armen und Beinen um mich, versuche mich aus der Klemme zu befreien, doch im letzten Moment, gerade als die Beklemmung unerträglich zu werden scheint, schaffe ich es, das weiche Wesen von mir weg zu reißen und bin frei.

      Ich blicke mich um. Strahlender Sonnenschein durchflutet den Raum. Meine Augen sind schwer. Ich versuch den Schlaf aus ihnen heraus zu reiben. Ich wühle meine Hand unter der Decke hervor und taste links neben meinem Bett den kleinen Nachttisch ab. Ich bekomme mein Handy zu fassen und schalte den Wecker aus. Der Song der Berliner Band stoppt abrupt. Ich blicke auf das Display. Keine neuen Nachrichten, nur die Uhrzeit. Mein Kopf dröhnt. Ein oder zwei Drinks weniger hätten es wohl auch getan. Wenn ich mich später beeile kann ich noch ein bisschen weiterdösen; verschlafenes Abwägen, doch schließlich überwiegt das Argument, dass man von kurzen Schlafperioden auch nicht wacher wird - die Schlummerfunktion ist gnadenlos. Ich reiße mit einem Ruck die Bettdecke von meinem Körper und schwinge mich auf die Bettkante. Aus der Nachtischschublade hole ich eine kleine weiße Packung hervor und schüttle sie nah an meinem Ohr. Wie ein kleines Kind sich über eine Rassel freut, so freue auch ich mich über das Geklimper der Packung. Ich lasse eine Brausetablette in der Wasserflasche verschwinden, die zu meinen Füßen bereitsteht.

      Ich stehe auf, stecke mein Handy in die Tasche meiner Schlafanzughose und öffne eines der großen Fenster. Eine warme Sommerbrise streift mich und weht in das Zimmer. Die tiefrote wappenlose Flagge an der Wand schlägt Wellen. Das sommerliche Wetter der letzten Tage hat sich also gehalten. Diese Tatsache ist ein mindestens genauso gutes Schmerzmittel, wie die sich im Wasser auflösende Tablette.

      Ich atme tief ein und erfreue mich noch einen Moment an dem angenehmen Wetter. Dann gehe ich zu meinen Anziehsachen, um zu sehen, ob alle meine Wertsachen noch da sind oder ob ich etwas verloren habe. Zuerst wühle ich in den Taschen der Jeans nach meinem Portemonnaie und lande direkt einen Treffer. Sehr gut! Und auch den zweiten Punkt meiner Suchliste kann ich schnell abhaken: Mein Schlüssel war zwar nicht in der Hose zu finden, doch ich sehe ihn auf meinem Schreibtisch herumliegen. Doch wo ist meine Uhr? Ich prüfe wieder meine Hosentaschen, den angrenzenden Sessel, grabe mich durch meine Bettwäsche, gucke noch mal über den Schreibtisch, wende mich erneut den Anziehsachen zu. Fuck! Wo ist meine Uhr?!

      Stressschweiß, eine Hitzewelle.

      Oh man, das wäre eine Katastrophe. Ok, ganz ruhig Marten, Ruhe bewahren. Ich setze mich auf meine Bettkante und trinke den letzten Schluck aus der Glasflasche. Am besten gehe ich in aller Ruhe durch, was ich gestern gemacht habe, nachdem ich Heim gekommen bin: Ich habe die Tür aufgeschlossen, habe meine Schuhe abgestellt und die Jacke aufgehängt. Hatte ich da meine Uhr noch an? Kein Plan! Egal, weiter überlegen: In der Küche ein vorgezogenes Frühstück, klassisch versackt und einen Drink heruntergekippt. Die nächsten Erinnerungen spielen bereits in meinem Zimmer: „Mad Men“ auf dem Laptop, die Zahnbürste im Mundwinkel, Laptop zugemacht. Kurz versucht zu lesen, bis die Buchstaben umherhüpften und der Inhalt direkt wieder in Vergessenheit geriet. Im Schlafanzug die Decke übergestreift, und gewartet, bis der Schlaf das Erlebte zu Erinnerungsresten werden lies.

      Doch wann habe ich meine Uhr abgelegt? Habe ich sie verloren? Falls ich sie beim Zocken bei Friedrich vergessen hätte, hätte er mir bestimmt schon geschrieben.

      Erneute Panik.

      5000 Euro einfach so weg, das wäre schon leicht ärgerlich.

      Doch dann ein Geistesblitz: Hatte ich mit dem Lesen nur aufgehört, weil mein Nervensystem mit dem Alkohol überfordert gewesen war? Don Drapers Konsum in „Mad Men“ war doch auch nicht geringer und er konnte trotzdem kreativ sein. Der eigentliche Punkt könnte gewesen sein, dass mich während des Lesens meine Uhr am Handgelenk gestört hatte.

      Ja, jetzt glaube ich mich richtig zu erinnern: Ich hatte sie abgelegt und mir war aufgefallen, dass es schon halb sieben Uhr morgens war. Deswegen hatte ich bestimmt aufgehört zu lesen und nicht, weil ich zu betrunken war. Ich blicke also auf meinen Nachttisch und tatsächlich, unter einem aufgeklappten Buch liegt meine Uhr. Der ganze Stress mal wieder umsonst – sollte ich weniger trinken?

      Wir haben früher häufig Familienurlaub in Bungalows in Südfrankreich gemacht. An heißen Sommertagen


Скачать книгу