Nachtstreuners Flaschenpost. Louis Leon Cherrel

Nachtstreuners Flaschenpost - Louis Leon Cherrel


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verträumt auf, doch ein weiterer Hustenschwall befreit uns aus seinem Griff. Er wuchtet sich die Faust gegen die Brust, bis er wieder zu Atem kommt. Dann rumpelt er mich mit dem Ellenbogen an der Seite an und süppelt weiter: „Genießt die Zeit Männer, ich sage es euch! So bunt wird’s nicht mehr lange bleiben.“

      Verschwörerisch grinst er mir zu und holt das nächste noch unangenehmere Thema hervor: „Du machst doch jetzt auch bald dein Abitur oder? Schon mal ein Praktikum gemacht?“

      Ohne eine Antwort abzuwarten stürmt er fort: „Aber das wird dein Vater ja wohl in die Wege leiten können. Die Kontakte bestehen ja zur Genüge, damit aus dir mal was Ordentliches wird. Weißt du schon, was du studieren willst?“

      Erneut ohne eine Antwort abzuwarten sprudelt es weiter aus ihm raus: „Aber auch da brauch ich ja nicht zu fragen, wirst wohl ein Jurist wie dein Vater werden, hm!? In die großen Fußstapfen treten wirst du wohl, hm!? Meine Älteste ist ja auch auf der „Bucerius Law School“ in Hamburg. Da wirst du richtig auf die großen Kanzleien vorbereitet. Justus ist jetzt in der Schweiz und studiert Betriebswirtschaftslehre in St. Gallen! Wird wohl mal straff ins Management gehen. Aber das liegt ja in der Familie bei uns.“

      Ein dreckiges Lachen beendet sein Gerede. Die kleinen Zustimmungen und Höflichkeiten meinerseits hören sich in dem Getränkemarkt vollkommen leer an.

      Plötzlich ein Handyklingelton: Lohmann schreckt auf, zieht sein Telefon aus der Tasche, wirft einen Blick auf den Bildschirm und ruft: „So Männer, da muss ich jetzt aber drangehen, schöne Fete euch und Grüße an die Eltern Marten.“

      Er schwingt uns die Hand entgegen, zuerst ist Carlo dran, dann wird die meine von einem feuchten Händedruck zerquetscht. Wir warten bis Lohmann seinen vollgepackten Wagen um die nächste Ecke geschoben hat und nur noch ein Echo seiner Worte wahrzunehmen ist: „... nicht kaufen, ...Anteile der Anderen müssen anwachsen...!“

      Carlo sieht mich fragend an: „Wer war das denn?“

      „Ach der wohnt bei uns in der Gegend. Erfolgreicher Geschäftsmann, trotzdem irgendwie eine strange Familie.“

      Am Schnapsregal finden wir eine 1,5 Liter Jägermeisterflasche mit Handpumpe.

      „Das sollte doch die richtige Würze bringen.“

      Zufrieden, voller Erwartungen und Vorfreude schieben wir unsere Trophäen zur Kasse.

      5: Session

      Benjamin wohnt bei seinen Eltern in einer Wohnung eines mehrstöckigen Altbaus. Er und sein Bruder teilen sich den ausgebauten Keller, in dem jeder sein eigenes Zimmer hat. Den gemeinsamen Flur haben beide zu einem Bandproberaum mit Schlagzeug, Gitarre und Mikrofon umgebaut, inklusive Eierkartonwänden.

      Carlo und ich waren auf Fixies hergefahren, nachdem wir den gekauften Alkohol bei Benjamin abgestellt hatten. Ein Fixie ist ein Fahrrad mit starrer Nabe und einem einzigen Gang. Der optische Reiz kommt gerade durch die minimalistische Ausstattung zustande: Kein Dynomalicht, keine externen Bremsen und erst recht keine Schutzbleche. Weniger ist manchmal einfach mehr. Wir sind extra in einen Szeneladen in die Fahrradstadt Münster gefahren, um uns unsere Räder nach eigenem Geschmack zusammenzustellen.

      Wir klingeln an der Haustüre des Altbaus. Zu unserer Überraschung passiert dann erstmal eine Ewigkeit gar nichts. Wir schellen noch mal – wieder nichts. Genervt holt Carlo sein Handy heraus und versucht Benjamin anzurufen, aber dieser geht nicht an sein Telefon. Dann plötzlich öffnet sich die massive Tür des Mehrfamilienhauses. Eine alte Frau mit einem kleinen Hund kommt heraus gewankt. Aus großen Brillengläsern blickt sie uns an. Es riecht nach Muff und altem Parfum. Verdutzte Blicke auf beiden Seiten. Sie ist offensichtlich alkoholisiert, uns ein paar Schritte voraus. Lallend fragt sie, was wir denn hier so sinnfrei vor der Türe wollen, warum wir nicht wie normale Menschen hineingingen. Glücklich über diesen Zufall schieben wir uns an ihr vorbei in den Flur. Während die Tür langsam hinter uns zufällt, hören wir nur noch: „Rufus muss mal wieder draußen Gassi. Die Wanne oben wird ja auch langsam zu voll. Frisch, fromm, fröhlich, frei hinaus!“

      Im Flur ist schon laut Musik zu hören. Wir stolpern die Treppe zum Keller hinab, sogleich steigt uns ein süßlicher Duft in die Nase.

      „Kein Wunder, dass der Lappen die Klingel nicht hören kann.“

      Der Duft wird von Stufe zu Stufe intensiver. Wir grinsen uns wissend zu.

      Benjamin und sein jüngerer Bruder sitzen in ihrem Flur und spielen „Stolen Dance“ von Milky Chance, beide einen kleinen Rest Blunt im Mund. Blaue Rauchschwaden schlängeln sich wie ein aufgewühltes Meer Richtung Decke. In den Schwaden schwimmen die Schallwellen der tiefen Bässe. Wir schmeißen uns entspannt in einen Sitzsack. Benjamin an den Drums sieht uns, zwinkert uns zu und weist mit seinem Kopf auf einen kleinen alten Kühlschrank. Carlo hievt sich wieder hoch und nimmt ein angebrochenes Sixpack Pils heraus. Bei jeder seiner Bewegungen scheinen die Schwaden in seinen Körper einzudringen, nur um auf der anderen Seite noch aufgewühlter wieder herauszuströmen. Er zerflückt die Pappe, drückt mir einen König in die Hand, holt eine Packung Kippen heraus und während die Musik immer neue Bahnen schlägt, puffen wir weitere Strudel ins Meer.

      Die Musik endet. Betäubt verweilen wir alle noch einen Moment in unserem Schlummer. Geboren aus dem blaublassen Meer, lassen alle gleichzeitig den letzten Strom aus ihrem Körper entweichen und drücken die glühenden Quellen aus. Leere überall, bis Benjamins Bruder aufsteht und die kleinen Lukenfenster aufkippt. Eine neue Brise erfüllt nach und nach den Raum. Ich frage Benjamin, ob sein Bruder heute auch mit uns abhängt, was er aber verneint. Dann fragt er uns: „Wie seid ihr denn überhaupt hereingekommen? Sorry, ich hatte das vollkommen vercheckt, dass ich die Klingel gar nicht höre, wenn wir jammen! Aber übrigens; haben frisch was eingekauft! Ist ganz mildes Zeug und ne spitzen Basis!“

      Er holt aus der Brusttasche seines T-Shirts eine schmale Tüte und gibt sie Carlo. Dieser streift sie mit zwei Fingern straff, zieht sie wie eine Feder unter der Nase entlang und nickt Benjamin zufrieden zu. Er klopft das Mundstück auf sein Knie und legt es dann zwischen die Lippen. Ich halte ihm ein Feuerzeug hin und erkläre Benjamin, dass zufällig eine alte Frau die Türe aufgemacht hat, um mit ihrem Hund Gassi zu gehen.

      „Ach crazy, die Alte von oben ist irgendwie verrückt! Die war auch schon mal in der Klapse, glaube ich. Kann mir nicht vorstellen, dass die noch lange alleine wohnen darf.“

      Wir smalltalken, leeren das Sixpack und den Joint, bis wir vom Klingeln an der Türe unterbrochen werden. Benjamin geht die Türe aufmachen und kommt mit Dominik und Christoph zurück. Wir begrüßen uns alle mit einem Handschlag.

      „Dann können wir ja langsam richtig loslegen!“ sagt Benjamin vergnügt, während wir in sein Zimmer gehen.

      Carlo und ich fläzen uns faul auf das breite Sofa. Benjamin schaltet seine Musikanlage ein und direkt ballert K.I.Z. aus den Boxen. Er ruft Dominik und Christoph etwas zu, was aber für uns durch die laute Musik nicht zu verstehen ist. Christoph und Benjamin verlassen den Raum, während Dominik aus der Wohnwand sechs Altbiergläser, ebenso viele Pinecken und einen großen Aschenbecher herausholt und sie vor Carlo und mir auf dem Tisch platziert. Während wir alles verteilen, kommen die beiden anderen, mit dem Bier und einer beschlagenen Jägermeisterflasche, zurück und setzen sich zu uns in die Runde.

      „Jetzt fehlt eigentlich nur noch Friedrich, dann können wir starten.“

      Zigarettenpackungen werden auf dem Tisch abgelegt und direkt daneben Smartphones verschiedenster Hersteller. Dominik öffnet seine Gitanes und lässt den makellosen weißen Stängel aufglimmen: „Friedrich hat mir vor zehn Minuten ne SMS geschrieben, dass er gleich da ist.“

      „Das heißt bei dem aber noch lange nix. Kann auch genauso bedeuten, dass er in einer Stunde kommt, der Duschrich der Lachs!“

      Alle außer Christopher lachen. Er fragt: „Warum denn Duschrich?“

      „Ach kennst du die Story nicht?“, fragt Carlo und krempelt seine kurze Hose noch ein Stückchen höher, bis das Tattoo auf seinem Oberschenkel ganz zum Vorschein kommt.


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