Nachtstreuners Flaschenpost. Louis Leon Cherrel
später wird mir aber bewusst, wie sehr ich es mag, das Haus komplett für mich alleine zu haben. Meine Eltern waren vor ein paar Tagen zu einem Urlaub in unserem Ferienhaus in der Provence aufgebrochen. Ich atme noch einmal den Geruch ein, der mich so an die alten Urlaube erinnert. Immer diese Nostalgie. Ich schüttle den Kopf und lasse den Duft einfach von einer frisch entflammten französischen Zigarette überdecken.
Als ich die Treppe nach unten gehe, begleitet mich die Ruhe des leeren Hauses. Auf den letzten Stufen höre ich schon die Standuhr im Wohnbereich zweimal schlagen: 14 Uhr. Ich beseitige die Spuren meines Abendmahls und lege an der Musikanlage „Hest“ von Kakkmaddafakka auf den Plattenspieler.
Sommer – Freude – Tanzlust.
Laut mitsingend wärme ich einige Aufbackbrötchen im Ofen auf und mache mich daran Orangen für meinen Saft auszupressen.
Ein paar Minuten später sitze ich an meinem Lieblingsplatz im Garten: Der Tisch im Schatten, direkt am schmalen Bachlauf, der in unseren Teich mündet.
Mettbrötchen, Camembert mit Feigensenfsauce, Saft und ein starker Kaffee stehen vor mir bereit. Dazu noch diese Ruhe, weil niemand überflüssig smalltalken will. Der Tag rückt sich Stück für Stück in ein positiveres Licht. Eine neue Zigarette zwischen den Lippen strecke ich mich in der prallen Sonne. Ich lasse kleine Rauchschwaden in den sonst wolkenlosen Himmel aufsteigen. Der letzte Schluck schwarzen Suds wandert die Speiseröhre hinab und so kommen meine Gedanken langsam in Fahrt:
Die Ziehharmonika machte einen gewaltigen Knick. Mir wurde im Bus schon immer schlecht. Die Kurve wollte einfach nicht enden und ich wurde von der Zentrifugalkraft in die Seite meines Vaters gedrückt. Meine suchenden Hände fanden eine Stange und ich konnte mich zurück auf meinen Sitzplatz ziehen. Schwitzende Menschen tummelten sich in der Ein- und Ausstiegszone. Der Bus war völlig überfüllt. Mein Vater starrte angewidert in die Leere. Ich brauchte ihn nicht zu fragen, was er über die ganze Aktion dachte.
Nach ein paar Stationen fiel mir ein Mädchen auf. Zwei, drei Reihen schräg vor uns hatte sie sich hingesetzt. Sie ging in meine Stufe. Das wusste ich ganz genau, denn ich hatte sie schon mehrfach in der Schule beobachtet. Ich mochte sie, aber nicht nur, weil ich sie einfach wunderschön fand. Da war noch etwas Anderes. Selbstverständlich hatte ich es nicht gewagt sie anzusprechen. Nicht, dass sie irgendwie abgehoben oder unnahbar wirkte, eher die Natürlichkeit, auf der ihre Schönheit beruhte, machte sie für mich so schwer zu bewältigen. Theoretisch hatte ich keine Probleme damit, ein Mädchen anzusprechen, dass mich beeindruckte. Doch das hier, war für mich von Anfang an etwas ganz anderes gewesen.
Als ich nun kurz darauf erneut wuchtig in meinen Vater hineinrutschte, platzte es aus ihm heraus: „So eine nervige Kacke. Wo nehmen die denn ihre beschissenen Fahrer her. Keine Haltestelle schafft er anzufahren, ohne dass der halbe Bus aus den Fugen gerät. Wenn ich so meinen Beruf verrichten würde! Hätte ich mich mal nicht auf deinen Rat verlassen, sondern wäre einfach, wie ursprünglich geplant, mit dem Taxi gefahren!“
Mit grimmiger Miene überkreuzten sich seine Arme. Er hatte sich einen neuen Wagen gekauft, der nun früher als geplant abholbereit war. Allerdings war meine Mutter für einige Tage verreist und ich war zum Fahren noch nicht alt genug. Die Idee mit dem Bus kam von mir, denn eine Taxifahrt durch die halbe Stadt wäre deutlich teurer gewesen als die Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewältigen. Dass mein Vater komfortverwöhnt und ihm der preisliche Unterschied gänzlich gleichgültig gewesen war, hatte ich irgendwie ausgeblendet. Ich war die Strecke schon öfter gefahren, doch nie im Feierabendverkehr. Wenn ich ganz ehrlich zu mir war, säße ich jetzt auch lieber im Taxi. Doch dann sah ich wieder das Mädchen und alles machte einen Sinn.
Wenige Haltestellen vor unserem Ziel stiegen einige junge Männer in den Bus. Sie unterhielten sich auf Arabisch. Ich sah mich um, damit ich die Reaktionen der anderen Fahrgäste einfangen konnte. Auf einmal fingen eine ältere Dame und ein Herr lautstark an, sich zu unterhalten: „Das wird noch ein ganzes Stück Arbeit, diese ganzen Flüchtlinge hier zu versorgen und die Kosten, die dadurch erst entstehen.“
Kopfschüttelnd gab der Gesprächspartner seine Zustimmung: „Aber hallo. Was die Merkel sich dabei denkt. Wir haben ja so schon kaum Ausbildungsplätze und dann sollen jetzt auch noch diese ganzen Asis hier aufgenommen werden. Die lungern doch wieder nur in Marxloh rum und machen ihre kriminellen Geschäfte. Da hab ich letztens noch was in der Zeitung gelesen.“
Immer mehr Fahrgäste beteiligten sich nun an dem Gespräch. Ich schämte mich und war einfach nur froh, dass diese jungen Männer noch nicht gut genug deutsch sprachen, um zu verstehen wie gerade über sie geredet wurde. Auf einmal ging einer der Sprechenden auf die Flüchtlinge zu und fragte sie, ob sie denn auch Fahrscheine hätten. Mittlerweile verfolgten die meisten Fahrgäste des Busses die Szene mit großer Aufmerksamkeit. Auch das Mädchen aus meiner Stufe blickte herüber.
„Fahrschein? Fahrschein? Du haben Fahrschein?“
Die jungen Leute verstanden natürlich nichts und blickten den Sprechenden einfach nur verwundert an.
Eine weitere Frau ergriff das Wort und fragte: „Do you have a ticket? A ticket? A ticket for the bus?“
Jetzt schienen sie zu begreifen und einer holte einen zusammengeklappten Zettel aus seiner Hosentasche und reichte ihn dem Mann. Dieser holte eine Lesebrille aus seiner Hemdtasche und begutachtete wie ein Kontrolleur das Dokument. Dann hellte sich seine Miene auf und er lachte, während er das Papier der Frau reichte: „Die haben gar kein Ticket. Das ist einfach ein Pass. Die fahren schwarz. Das war ja klar, dass die sich hier durchschnorren wollen.“
Die Frau wedelte hektisch mit dem Zettel des Flüchtlings in der Luft herum und sagte dabei mit mahnendem Blick zu ihm: „Nur weil ihr einen Ausweis habt dürft ihr doch nicht einfach Bus fahren. Das kostet euch eine Menge Geld.“
Dann wand sie sich zu dem Mann, der zuerst gesprochen hatte: „Ja das ist ja mal eine Unverschämtheit. Die sollten sofort ein Bußgeld bezahlen. Solche Leute muss man direkt hart rannehmen, sonst wird das ja mal gar nichts mit der Integration.“
Die jungen Männer schienen absolut nichts mehr zu verstehen und lächelten einfach nur verunsichert vor sich hin. Plötzlich stand das Mädchen aus meiner Stufe genervt auf. Schon im Gehen rief sie den beiden zu: „Meine Güte! Jetzt reicht es hier aber.“
Verdutzte Gesichter, während das Mädchen mit einem finsteren Blick der Dame das Dokument aus der Hand riss und es lächelnd, dem sichtlich erleichterten Flüchtling zurückgab. Wieder zu dem Mann und der Frau gewand sagte sie: „Ihr solltet euch was schämen. Die haben doch mit Sicherheit schon genügend Probleme. Wahrscheinlich wussten sie gar nicht, dass sie sich noch ein Ticket hätten kaufen müssen. Ihr seid einfach miese Rassisten. Zu den ganzen anderen Leuten im Bus geht ihr doch auch nicht hin und fragt nach den Fahrscheinen, obwohl die Hälfte wahrscheinlich auch ohne Ticket unterwegs ist. Da wird mir wirklich schlecht!“
Damit war alles gesagt und die Kritiker blieben für die restliche Fahrt stumm. Mein Vater flüsterte mir jedoch zu: „So eine Kleine, die hat ja ganz schön was drauf. Früher hab ich solche Mädels immer toll gefunden, aber irgendwann hab ich mich dann für den besseren und für die Karriere klügeren Weg entschieden und eine Frau genommen, die angepasster ist und weiß, wo ihre Aufgaben liegen sollten.“
Ich erwiderte nichts, wusste aber ganz genau, dass ich dieses Mädchen unbedingt als meine Freundin haben musste.
Der Zigarettenrauch und meine Gedanken haben sich wieder aufgelöst. Im Haus drehe ich die Schallplatte auf die B-Seite und stelle auf die Boxen im Badezimmer um. Ich schiebe den Duschhahn in den blauen Bereich. Das kalte Wasser saugt mir auch noch den letzten Tropfen Müdigkeit aus den Knochen.
Würdest du lieber mit dem Fahrrad zum Strand oder mit dem Auto zur Arbeit fahren? Als Kompromiss arbeite ich an einer Wasserskianlage unweit unseres Hauses. Ich muss dort die Seilbahn bedienen und den Anfängern das Fahren beibringen. Das fällt mir nicht sonderlich schwer, denn ich betreibe diesen Sport selber seit einigen Jahren. Das Bedienen der Anlage ist ganz entspannt, denn es gibt nur wenige Knöpfe die man drücken muss. Der spannendere Teil ist natürlich das Einweisen der Anfänger. Das kommt außerdem noch sehr gut bei den Mädels