Der Ruf aus Kanada. Rudolf Obrea

Der Ruf aus Kanada - Rudolf Obrea


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Brief von seiner Firma. Er enthielt neben verschiedenen Unterlagen auch ein Flugticket für seine neue Reise nach Kanada, ausgestellt mit einem Datum, das ihm den reservierten Abflug in knapp einer Woche ankündigte. Vor nicht zu langer Zeit wäre ihm dieses Ende seines Urlaubes noch als zwingende Fortsetzung eines ungebundenen Neuanfanges vorgekommen. Jetzt aber musste er die unverhoffte Begegnung mit Sabine in seine Überlegungen zusätzlich mit einbeziehen.

      Er hatte seine neue Freundin besonders dadurch beeindruckt, indem er ihr, nahezu unbeab-sichtigt, mit seiner lokalen Verbundenheit eine Rückbesinnung auf die hiesigen Vorteile bei Land und Leuten vermittelte. Im Laufe ihres Aufenthaltes in Persien hatte sie die aktuell gültigen Bezugspunkte zu ihrer alten Heimat verloren, war deshalb enttäuscht bzw. orientierungslos und benötigte einen Helfer, der ihr diese Gesichtspunkte wieder sichtbar machte und für sie glaubwürdig und positiv darstellte. Sven eignete sich für diese Aufgabe, weil er, ihr darin ähnlich werdend, durch seine angestrebte Distanzierung eine objektive Beurteilung gewährleistete. Der schnelle Verlust ihres Helfers bedeutete ein Nachteil, den sie vorläufig mit der geheimen Hoffnung kompensierte, ihm nach Kanada zu folgen. Sven blieb die Einsicht, dass er sich seine Persönlichkeit und die damit verbundene Selbst sicherheit nur dann auf Dauer als wertvolle Eigenschaft erhielt, wenn er die Erinnerungen und Erlebnisse der Vergangenheit nicht einfach, wie bisher angestrebt, als lästigen Ballast abwarf, sondern sie als identitätsstiftenden Rückhalt und innerliche Kraftreserve beibehielt.

      Sabine und er fanden zueinander, weil sie, geprägt von ihrem Auslandsaufenthalt, ihn mit ihrer aufgeschlossenen, offenen Art auf seinem neuen Weg anspornte und er mit seinen einheimischen, soliden Beziehungen ihr Vertrauen gewonnen hatte, ein Kriterium, mit dem sie sich unbewusst auf die Werte ihrer ursprünglichen Herkunft bezog und diese für sie dadurch wieder zu einem bedeutenden Merkmal wurden. Sie hatten sich nicht nur verliebt, sondern in der kurzen Zeit ihres Zusammensein auch gegenseitig einen neuen Halt vermittelt, der ihnen als gegenseitiges Geschenk im Bewusstsein blieb und damit das Gefühl einer dauerhaften Bindung und Zuneigung erzeugte, die selbst der schnell auf sie zukommende Abschied am Flughafen nicht auflöste.

      2.6

      Seine neue Ankunft in Toronto erlebte Sven dieses Mal bereits als ersehntes Wiedersehen einer Umgebung, die ihm zwar noch nicht vertraut war, aber bei seinem ersten Besuch schon viele andersartige Eindrücke vermittelt hatte, die erneut seine Unternehmungslust an-stachelten und die er gerne vertiefen und erweitern wollte. Jim Shaw benötigte am Flughafen kein Erkennungsschild mehr, sondern sah Sven bereits beim Verlassen des Zollausganges. Er schlängelte sich durch die Menge der Wartenden, um plötzlich wie ein Kobold vor ihm aufzutauchen und nach Art seiner Vorfahren auf Irisch herzlich zu begrüßen. „Hallo und Willkommen in Kanada! Ich freue mich, dich wieder bei uns zu haben, damit wir dich weiter zum Kanadier ausbilden können und du uns beibringst, wie wir mit der uns oft merkwürdig erscheinenden Denkweise deiner Landsleute besser zurechtkommen.“ Dabei schaute er Sven zwar immer noch wohlwollend an, ließ aber zusätzlich einen kritischen, fragenden Blick seiner wieder über die Brille herausragenden, dunklen Augen erkennen. Sven allerdings kannte bereits die stets etwas ironisch zu interpretierende Art seines Kollegen und antwortete „Hallo Jim! Du hast dich scheinbar in der Zwischenzeit kaum verändert und stellst mir gleich zur Begrüßung wieder ein Ausbildungsprogramm vor, das sehr hohe Ansprüche stellt. Du musst dich noch eine Weile gedulden, bis ich deinen Vorgaben gerecht werde. Vorläufig brauche ich erst wieder einen Drink in deiner Hotelbar, um die aktuellen Neuigkeiten besser besprechen zu können.“ Jim gab sich jetzt wieder gelassen und nachdem er den Ankömmling samt Gepäck im Auto verstaut hatte, bemerkte er abschließend: „Deine Aufforderung zum Drink zeigt mir, dass ich als Lehrer schon etwas erreicht habe.“

      In der Bar angekommen, bestellte Jim von ihrem Stammplatz aus zur jetzt persönlichen Begrüßung zwei Gläser unverdünnten „Bushmills, Single Malt Irish Whiskey“, der wie immer hervorragend schmeckte und gleichzeitig bewies, daß Sven erneut willkommen war.„Wie war dein Urlaub?“ wollte er anschließend wissen. „Aufschlussreicher als ich erwartet hatte, antwortete Sven, und dieses besonders deshalb, weil ich bei der sich aufdrängenden Rückbesinnung auf die alte Gewohnheiten sowohl Vor- als auch Nachteile berücksichtigen muss, um sie bei der Gestaltung einer aussichtsreichen Zukunft als wertvolles Stützfundament im Blickfeld zu behalten. Der Aufenthalt bei meinen Eltern verlief bequem und erholsam. Allerdings merkte ich aber bald auch, dass mir ihre Art zu leben nicht mehr ausreicht, um mich damit nach meinen eigenen Vorstellungen weiter zu entwickeln. Ihre Leistung bestand darin, dass sie nach dem Krieg den Zusammenbruch überwanden und sich eine neue Existenzgrundlage aufbauten. Das damit erzielte Ergebnis befriedigt sie und sie versuchen jetzt, die erzielten Errungenschaften mit der Befürwortung der entsprechenden Maßnahmen und Gesetze abzusichern. Neuen Ideen und Visionen begegnen sie mit Skepsis, verbunden mit der Angst, das bisher Erreichte wieder zu verlieren. Mich selbst reizen stattdessen die ungewissen Herausforderungen, um auf diese Weise meine Fähigkeiten maximal auszuloten. Die sich ergebenden Resultate erweitern meinen persönlichen Erfahrungsschatz und stärken mit den selbsterrungenen, positiven Ergebnissen mein Selbstwertgefühl.

      Jim, der mit gesenktem Blick den Ausführungen seines Partners zugehört hatte, hob plötzlich seinen Kopf und sah ihn durch seine Brille interessiert an, weil er etwas von einer Vorliebe für ungewisse Herausforderungen gehört hatte. Erleichtert und gleichzeitig aufmunternd antwortete er: „In deiner Abwesenheit nahm der Druck auf mich ständig zu und zwar hauptsächlich ausgelöst von Ron Harrington in Bancroft und diversen Schreiben sowie Telefonaten unserer Firma. Ich brauche deshalb dringend deine Unterstützung und offeriere dir ein ganzes Bündel von Herausforderungen, mit denen du dich in der nächsten Zeit ausgiebig beschäftigen kannst. Ron scheint seine Schwierigkeiten mit der Baustelle jetzt besser zu beherrschen. Unsere Monteure können deshalb mit der Aufstellung der Maschinen beginnen. Wir sollten uns im Laufe der Woche einen Zeitplan überlegen, nach dem die Koordination der Arbeiten einschließlich der Lieferungen und Leistungen hiesiger Hersteller erfolgt und nach dem du anschließend in Bancroft die Kontrolle des Aufbaus übernimmst.“ „Einverstanden“ erwiderte Sven, Aber bring mich jetzt erst einmal zum Abschluss meiner mental noch nicht verarbeiteten Atlantiküberquerung nach Hause. Ich verspreche dir morgen einen neuen Menschen, der wieder ganz bei dir ist.“ Während sie aufstanden, nickte Jim verständnisvoll und verfrachtete seinen Mitstreiter zu dessen Wohnung nach Bolton. Die gerade überstandene Zeitverschiebung ließ Sven noch nicht zur Ruhe kommen und er nutzte deshalb den in Hamburg beginnenden Nachmittag dazu, um Sabine anzurufen und ihr von seiner Ankunft in Toronto zu berichten. Ihre freudige Reaktion überraschte ihn. Der Abschied und die damit verbundene Trennung schien für sie kein Grund zur Besorgnis zu sein, sondern veranlasste sie, ihn fast ein wenig neidisch zu bewundern und gleichzeitig seinen neuen Tatendrang aufmunternd zu beflügeln. Ihre eigene Sehnsucht nach der Fremde blieb dabei unverkennbar und Sven musste sich erneut eingestehen, dass er sich nicht nur in eine gut aussehende Frau verliebt hatte, sondern im Gleichklang ihrer Denkweise auch eine wichtige und hilfreiche Partnerin besaß, mit der er sich den Aufbau und die Gestaltung einer gemeinsamen, kanadischen Zukunft erfolgversprechend vorstellen konnte.

      Am nächsten Morgen musste Wilhelm Meissner lange und ausdauernd an die Tür seines Mieters klopfen, bevor er zur bestellten Weckzeit eine sprachlich nicht ganz verständliche Antwort bekam. Erst die nur verschwommen erkennbare Zimmereinrichtung machte Sven bewusst, dass er nicht in Bergedorf bei seinen Eltern war, sondern sich möglichst umgehend auf seine Gegenwart in Bolton, Kanada, einzustellen hatte und wie hier üblich rief: „Danke Bill! Ich komme gleich.“ Die neue Zeitrechnung begann für ihn endgültig, als er, gestärkt durch eine kräftiges Frühstück, tatendurstig und voller Zuversicht zu Jim ins Büro fuhr.

      Im Anschluss an ihre Begrüßung übergab Sven die aus Deutschland mitgebrachte Post und wurde zum Ausgleich auf den Stapel Papiere verwiesen, der auf seinem Schreibtisch für ihn bereitlag. Während sie sich noch mit den Unterlagen beschäftigten, verlor Jim bald die Geduld und fragte aufgeregt: „Was sollen wir Ron in Bancroft zum Montagebeginn sagen?“ Als Antwort griff Sven zum Telefon und sagte beruhigend: „Ich rede mit ihm und erkundige mich nach seinen Vorbereitungen. Wir werden ihm auf alle Fälle helfen, die von ihm verursachte Verzögerungen wieder aufzuholen, vorausgesetzt, dass auch er bereit ist, unsere Zusammenarbeit zu honorieren.“


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