Adler und Leopard Gesamtausgabe. Peter Urban
eigentlich weit bringen? Hatte er irgendwelche anderen Talente, außer den Militärischen? War er ehrgeizig? Henry Pagets spitzer Ellbogen traf den Iren schmerzhaft in die Rippen und riss ihn aus seiner Grübelei: “Schläfst Du im Stehen, Arthur?“ Der Kavallerieoffizier war ein Jahr älter als Wellesley und in vieler Hinsicht sein genaues Gegenteil. Henry Paget war impulsiv, aufmüpfig bis zur Rebellion, dickköpfig, ein Schürzenjäger und Hitzkopf, der sich wegen eines Ja oder Nein duellierte. Er trank, er spielte nächtelang...Doch er war auch ein brillanter Soldat. Er war gebildet, weitgereist und ein treuer ehrlicher und gutherziger Freund, mit dem Arthur gerne seine Zeit verbrachte. „Schlägt Dir der Sitz im Unterhaus etwa schon wieder aufs Gemüt?“, flüsterte Henry Paget ihm zu,“ Arthur, Du verkaufst doch deswegen nicht gleich Deine Seele an den Teufel! Wenn diese Veranstaltung hier zu Ende ist, dann lade ich dich zu einem leckeren Essen ein und wir beide reden einmal ganz vernünftig miteinander.“
Arthur packte Henry am Handgelenk und zog ihn unauffällig näher: " Wo stehst Du eigentlich? Wir wären, wenn ich mich breitschlagen lassen, die einzigen Berufssoldaten im Unterhaus: ein Whig und ein Tory. Trotzdem sind wir Brüder und bekennen uns beide zum Allmächtigen Baumeister .Du weißt genau, dass ich alleine nicht viel unternehmen kann." Henry Paget grinste breit, während die Umstehenden missbilligend auf die beiden Störenfriede blickten: "Arthur, was glaubst Du eigentlich, wer auf die Idee gekommen ist, Dich zu überreden? Wir müssen irgendwann auf dem Kontinent etwas zustande bringen und zwar nicht nur mit lumpigen dreitausend oder viertausend Mann, sondern mit einem vernünftigen Feldheer. Wenn England sich mit der Seeherrschaft zufrieden gibt, werden wir bald so isoliert sein, dass wir im Konzert der europäischen Mächte nicht einmal mehr die Pikkoloflöte spielen können. Die amerikanischen Kolonien verlieren wir gerade. In Kanada sitzen die Franzosen. Du hättest wirklich Pitts Rat folgen und Dich wieder einmal bei den Logenbrüdern sehen lassen sollen, anstatt dauernd in Deinem Elfenbeinturm aus Ehrenkodex, Unparteilichkeit und Verfassungstreue herumzusitzen. Ost und West werden immer den Sohn der Großen Witwe treffen!"
"Und Schutz finden im Schatten der Schwingen Jehovas.", Wellesley nickte Paget zu, "So sei es mein Freund."
Nachdem die endlose Totenfeier vorbei war, zerstreute die Menge sich rasch. Arthur hatte in St.Paul’s auch seinen Bruder Richard bemerkt. Seit dessen Rückkehr aus Indien hatten die beide sich noch nicht getroffen. Obwohl es kein Geheimnis war, dass Arthur bei den Richmonds wohnte, hatte sein ältester Bruder ihn weder besucht, noch kontaktiert. Er hatte wohl gehofft, der Jüngere würde den ersten Schritt machen. Arthur bugsierte Henry Paget zu einer Seitentür der Kirche: "Lasse uns verschwinden. Da hinten steht mein heiß geliebter Bruder und lauert bestimmt nur auf eine Gelegenheit, mir die Ohren voll zu heulen." Der Kavallerieoffizier schmunzelte: "Ah, Du hast also endlich beschlossen, auf unsere guten Ratschläge zu hören und Dich aus Richards Streitereien mit der Ostindienkompanie herauszuhalten. Sehr vernünftig." Arthur schüttelte den Kopf: "Ich habe nur gesagt, dass mir nicht danach ist, sein Gejammer anzuhören. Henry, ich mag meinen ältesten Bruder nicht und er kann mich genauso wenig leiden. Trotzdem ist und bleibt Richard. Ich habe lediglich beschlossen, ihn dieses eine Mal ausbaden zu lassen, was er selbst verschuldet hat und wofür man ihm berechtigte Vorwürfe machen kann. Was den Rest anbetrifft...“ Die beiden Freunde ritten durch das Stadtzentrum bis zum Carlton Hotel. Das Restaurant des Carlton hatte einen guten Ruf und trotz des Krieges, einen ganz ausgezeichneten französischen Küchenchef. " Ich hoffe, Du bist mir nicht böse, dass ich noch ein paar gemeinsame Freunde zum Essen eingeladen habe, Arthur." bemerkte Henry Paget beiläufig. In einem Séparée warteten bereits der Herzog von Portsmouth, der Herzog von Buckingham, Richmond, Castlereagh, Lord Portland, Pagets Vater Lord Uxbridge, Lord Ponsonby, George Canning und Arthurs eigener Bruder Henry.
Arthur war verärgert, weil sein Kollege von der Kavallerie ihn so überrumpelt hatte. Um den Tisch saß ein ganz bestimmter Teil der politische Elite Englands versammelt. Diese Männer waren darüber hinaus auch noch der Großmeister und die Meister der vier wichtigsten Londoner Logen, die sich zum alten, schottischen Ritus bekannten. Nachdem sie alle sich höflich für die Überraschung entschuldigt hatten, erklärte der alte Buckingham Arthur, dass die Konservativen bereit waren auf seine Bedingungen einzugehen. Er sollte über den Wahlkreis Rye in Wales ins Unterhaus gebracht werden: Alle hofften, er würde dort dann einen Weg finden, sich zumindest mit den vernünftigsten Liberalen so weit zu verständigen, dass diese sich der Verschickung eines Expeditionskorps auf den europäischen Kontinent nicht mehr widersetzen würden. Außerdem sollte er versuchen, so viele Parlamentarier, wie möglich zu überreden, damit eine Gesetzesvorlage zur Verdopplung der Home Forces und der Yeomanry durch die Abstimmung kam. Die neue, liberale Regierung unter Lord Grenville war nach Meinung aller Anwesenden lediglich eine Übergangslösung. Fox war Außenminister, Windham Kriegsminister und Lord Grey hatte das Marineministerium. Selbst ihrer eigenen Partei bereiteten diese Politiker Angst. Sie gehörten zum radikalsten Flügel der Liberalen. Aussenpolitisch würden sie England in die Handlungsunfähigkeit steuern. Sie gehörten zu den Isolationisten und betrachteten Napoleons politische Ideen mit Wohlwollen. Darüber hinaus strebten sie im Inneren die Erweiterung des Wahlrechts auf alle Engländer, Protestanten und Katholiken, reich und arm an. Sie träumten davon, die Insel in einen großen Marktplatz und eine Freihandelszone zu verwandeln.
Sollte sich diese Gruppe in den Whigs durchsetzen, bedeutete dies für die gesamte adelige Führungselite des Landes, Konservative und Liberale vereint, den Verlust ihrer Privilegien und ihrer Einkommensquellen aus der Landwirtschaft. Sie würden alles an Diejenigen verlieren, deren Vermögen auf Handel und Dienstleistungen basierten. Englands Mittelschicht war jedoch nur daran interessiert, mehr Geld zu verdienen. Die Vormachtstellung ihres Landes in der Welt interessierte sie nicht.
"General Wellesley, falls Sie es schaffen, den Widerstand im Unterhaus zu brechen, versprechen wir Ihnen das Oberkommando über diese Expeditionsarmee gegen den französischen Kaiser! Sobald wir Grenville und seine Regierung zu Fall gebracht haben, wird Lord Portland ein neues Kabinett zusammenstellen und Ihr Freund Robert Castlereagh kehrt ins Kriegsministerium zurück."
" Meine Gruppe der Liberalen im Oberhaus und Ponsonbys Freunde im Unterhaus würden in diesem Fall natürlich voll hinter einer Interventionspolitik stehen." Henry Pagets Vater Lord Uxbridge nickte dem fetten Buckingham wohlwollend zu. Arthur sah die beiden Altmeister der Politik entgeistert an. Dann erhob er sich langsam vom Tisch und ging. Dabei schüttelte der Soldat ungläubig den Kopf. Robert Castlereagh und Henry Paget eilten ihm hinterher. "Ihr versucht also wirklich mich mit einem gottverdammten Kommando zu kaufen! Und dann auch noch zusammen mit den Whigs. Wofür haltet Ihr mich eigentlich? Für einen dahergelaufenen, korrupten Strauchdieb! So nicht.“, zischte Arthur böse,
“Entweder Ihr legt endlich Eure Karten auf den Tisch und erzählt mir, was Ihr wirklich vorhabt, oder ich nehme den nächstbesten Posten im finstersten Winkel Englands an und Ihr könnt Euch einen anderen Idioten im roten Rock für Eure miesen, kleinen Ränkespiele suchen!”
"Bitte Arthur, im Namen des Allmächtigen Baumeisters und des Eides, den wir alle geschworen haben: komm zurück und lasse uns alle gemeinsam vernünftig miteinander reden.“ Castlereagh versuchte seinen Freund zu beruhigen. “Wir sprechen hier nicht als Politiker, als Konservative oder Liberale miteinander, sondern als Freimaurerbrüder, die sich alle den gleichen Idealen verpflichtet haben. Du warst so lange in Indien, dass Du die Entwicklungen in England nicht verstehst. Die Logen streiten nicht mehr miteinander. Das hat sich auch auf die Politik ausgewirkt. Das Parteiensystem hat sich geändert. Umso verrückter König George wurde, umso mehr haben sich die aufgeklärtesten Mitglieder der beiden Parteien angenähert. Wir betreiben hier keine Ränkespiele." Henry Paget zog Arthur wieder in das Separee und drückte ihn in seinen Stuhl zurück.
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages, verließ ein müder, aber halbwegs überzeugter General Wellesley das Hotel Carlton. Sie hatten mit Engelszungen auf ihn eingeredet und ihm hoch und heilig geschworen, dass die üblichen Parteiintrigen bis zu einer Niederringung Napoleons beiseitegelegt worden wären. Die liberalen und die konservativen Freimaurerbrüder der vier größten Logen des Landes hatten einen Pakt geschlossen. König George III, der arme, alte Knobbs, war so verrückt wie immer. Er war außerdem krank und konnte jeden Tag sterben. Sein ältester Sohn und Thronfolger George Augustus Frederick Prinz von Wales, war ein notorischer Trunkenbold, Spieler und Schürzenjäger.