Zeit zum Überleben - Zukunft. Lara Greystone

Zeit zum Überleben - Zukunft - Lara Greystone


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      Ich antworte also lieber gar nicht und sage stattdessen: »Ich heize den Herd unten in der Küche an. Kochst du dann den Kaffee? Deiner schmeckt nämlich besser.«

      Vorbei die Zeit, in der man nur Kaffeepulver einfüllte und auf ein Knöpfchen gedrückt hat. Wenn man heutzutage einen Kaffee trinken will, bedeutet das einen ziemlich Aufwand: Man muss den Holzherd in der Küche anfeuern, einen Kessel mit Wasser aufsetzen und erst mal warten, bis es endlich kocht. Dann wird Schluck für Schluck das kochende Wasser auf den Kaffee im Filter gegossen, unter dem eine Kanne steht. Wenn man auch noch Milch dazu haben möchte, muss man vorher die Kuh in unserem Stall melken und darin bin ich leider eine Niete. Also wird mein Kaffee schwarz sein.

      Ich eile aus dem Schlafzimmer, drücke mich aber davor, sofort hinunter ins Wohnzimmer zu gehen, wo wir die misshandelte Frau auf das Sofa gelegt haben. Ich schließe Menschen nämlich schnell ins Herz und genau das wird mir brechen, wenn ich gleich die Leiche der blutjungen Frau in ein Betttuch wickeln muss. Und ich werde noch nicht mal ihren Namen in ein Kreuz ritzen können, denn sie war nicht mehr in der Lage, ihn uns zu mitzuteilen.

      Also trödle ich, während ich oben im Bad meine widerspenstigen, feuerroten Locken zu einem langen Zopf flechte. Das ist in diesen Zeiten leider praktischer, als sie offen zu tragen. Erst als ich auch meine Zähne recht ausgiebig geputzt habe, zwinge ich mich, die Treppe hinunterzugehen.

      Dabei fällt mein Blick auf die Wanderstiefel und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Früher wäre ich nie mit solchen Schuhen im Haus herumgelaufen. Mir sind gute Manieren wichtiger denn je, weil ich mich sehr nach dem normalen Leben vor dem Krieg zurücksehne. Aber wenn man jederzeit überfallen werden kann und gezwungen ist, um sein Leben zu kämpfen oder wegzulaufen, dann müssen die guten Manieren doch hier und da zurückstehen.

      Ich schleiche mich zur »guten Stube« von Berta – unsere Generation würde Wohnzimmer dazu sagen. Berta war die liebenswürdige, alte Dame mit Kittelschürze, die bis gestern hier gewohnt hat und um die ich sicher lange trauern werde.

      Leise öffne ich die Tür und trete zögernd an die misshandelte Frau heran. Eines ihrer Augen ist lila und zugeschwollen, ihre Lippe aufgeplatzt, vom schrecklichen Rest will ich gar nicht reden. Überrascht stelle ich fest, dass sich ihr Brustkorb hebt und senkt. Sie ist tatsächlich noch am Leben!

      Kapitel 2

      Ich strecke meine Hand nach der Stirn der Unbekannten aus, um zu fühlen, ob sie Fieber hat.

      Plötzlich reißt sie die Augen auf und kreischt drauflos. Ich schreie, weil ich mich zu Tode erschrecke.

      Dann starren wir uns gegenseitig an.

      Ich höre, dass Marc die Treppe herunterpoltert. Als er Sekunden später mit nichts als seiner Unterhose, einem T‑Shirt und einem Fleischermesser zu uns hereinstürmt, kreischt die blutjunge Frau abermals.

      Kein Wunder, wenn man mehrfach vergewaltigt wurde. Geduckt, als würde gleich jemand über uns herfallen, schaut sich Marc hektisch um.

      »Woher?! Wie viele?!«

      »Wir werden nicht angegriffen, Marc.«

      Er atmet tief durch, richtet sich auf und fährt sich durch die Haare.

      »Mensch, ich dachte, ihr werdet gerade abgestochen!«

      »Alles gut, Marc. Wir haben nur …«

      »Euch mit Gebrüll vorgestellt?«

      »So ungefähr. Aber du hast recht, wir sollten uns wirklich anständig vorstellen. Also«, sage ich und schaue zu der jungen Frau, die krampfhaft ihre Decke umklammert, die sie bis zum Kinn hochgezogen hat. Sie starrt Marc mit einem Ausdruck der Panik an. »Das ist Marc.« An ihn gewendet presse ich leise hervor: »Mensch, leg das Messer endlich weg!«

      »Ach so, ja«, murmelt er und legt das gut 30 cm lange Ding auf den Tisch neben das Sofa, auf dem die Frau liegt.

      Sie reißt die Waffe sofort an sich und hält sie schützend vor ihre Brust.

      Marc seufzt und zeigt dann auf sein T‑Shirt, das ich ihm als Nachtwäsche aufgebrummt habe. Es ist ihm peinlich, sein Gesichtsausdruck verrät das. Darauf ist nämlich Snoopy abgebildet, der Woodstock – den kleinen gelben Vogel – innig drückt, dazu noch zwei Herzchen.

      »Mal ehrlich«, erklärt er der jungen Frau, »muss man sich vor einem Kerl fürchten, der so was trägt? Ein Typ, der so was anzieht, produziert vermutlich gar kein Testosteron mehr, sondern nur noch weibliche Hormone.«

      »Snoopy ist süß!«, verteidige ich das Shirt und blicke lächelnd zu der Unbekannten. »Komm schon, schlag dich auf meine Seite!«

      Sie schaut erst zu mir, dann wieder auf Marcs Shirt – und fängt an zu kichern.

      »Ihr habt beide recht.«

      »Ich geb auf und feuer den Herd an«, stöhnt Marc, und wendet sich in Richtung Küche ab. »Süß!«, stößt er kopfschüttelnd aus. »Welcher Kerl will denn auf diese Art süß aussehen? Ein Eunuch?«

      Ich muss inzwischen auch kichern und bin froh, dass wir auf diese Weise das Eis gebrochen haben.

      Ihre Hand krampft sich immer noch um das Messer, doch mit sichtbarer Überwindung legt sie das Messer schließlich doch auf den Wohnzimmertisch zurück.

      »Und ich bin übrigens Jessica«, stelle ich mich schließlich vor.

      »Du hast den Zettel geschrieben?«, fragt sie. »Und die Lampe angelassen?«

      Ich nicke. Ihr treten Tränen in die Augen.

      »Danke für alles. Ohne deine Notiz hätte ich geglaubt, die nächste Bande hätte mich geschnappt. Und ohne das Licht der Lampe hätte ich nicht wieder einschlafen können.«

      »Ich kann auch nicht im Stockdunkeln einschlafen«, gebe ich zu. »Aber du solltest wissen, dass es Marc war, der dich gefunden und hierher in Sicherheit gebracht hat.«

      »Und wo ist hier?«, fragt sie und schaut sich in der gemütlichen Stube von Berta um.

      »Du bist in einem elsässischen Dorf mit Namen Espoir und erst mal in Sicherheit. Wir haben eine Stadtmauer und Tore und …«

      »Eine Stadtmauer?«

      »Ja, eine mittelalterliche Mauer, die wieder ihren Dienst gegen Plünderer aufgenommen hat«, erkläre ich lächelnd.

      »Habt ihr auch Kanonen und Brandpfeile?«, fragt sie skeptisch.

      Aber ich bin irgendwie stolz, auf das, was wir schon erreicht haben und gebe Kontra.

      »Na ja, statt Kanonen haben wir Pistole und Schrotflinte, und anstelle von Brandpfeilen basteln wir Brandsätze. Aber bevor wir weiter mittelalterliche Waffen diskutieren, hätte ich echt gern deinen Namen gewusst.«

      Sie blickt auf ihre Hände und zögert.

      »Ich«, beginnt sie und hält dann inne. Ihre Finger kneten die Wolldecke. Ich lasse ihr Zeit. »Ich«, fängt sie erneut an und blinzelt, als ob sie Tränen verdrängt. »Kann – kann ich mir einen neuen Namen geben? Ich will vergessen, was mir passiert ist. Nie mehr dran denken. Jemand anderes sein. Neu anfangen.«

      »Such dir ruhig einen aus, wenn du magst«, ermutige ich sie und schaue dann auf meine Hände. »Verdrängen wird nur leider nicht helfen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber vielleicht fängt ja jeder so an.«

      Ich reiße den Blick wieder hoch.

      »Aber jetzt sag mir erst mal, wie es dir geht. Brauchst du etwas?«

      »Ich habe heute Nacht alle Schmerzmittel auf dem Tisch geschluckt. Mir tat jeder Knochen im Leib weh. Habt ihr noch mehr?«

      Sie hält sich die Hände dabei auf den Unterleib und ich muss schlucken. Natürlich denke ich sofort daran, dass sie vergewaltigt wurde, und ein Schwall Magensäure kommt mir hoch. Ich schlucke ihn mit Gewalt herunter und reiße mich zusammen, um nicht aus dem Raum zu rennen


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