Zeit zum Überleben - Zukunft. Lara Greystone
durch ihre Abwehr aufgeschürft wurden.
»Falls du noch mehr Arbeit möchtest, schreib Karten für unsere Luftballons und lass sie steigen.«
Sie schaut mich an, als ob ich irre wäre. Ihr Gesichtsausdruck ist zum Schießen!
Marc grinst breit und zeigt mit dem Daumen auf mich: »Ja, die verrückten Ideen kommen definitiv von ihr.«
Seinen Kommentar ignorierend, erkläre ich ihr in aller Sachlichkeit die Einzelheiten meiner Idee, gasgefüllte Ballons steigen zu lassen …
»… Es gibt schließlich keine Post, kein Internet und kein Telefon. Und auf der Karte sollte auch so was stehen wie: Wenn ihr bereit seid, fleißig zu arbeiten, dann kommt nach Espoir und wir bringen uns gemeinsam durch den Winter. Wir brauchen nämlich keine Faulenzer, die sich nur durchfüttern lassen wollen.«
Kaum ausgesprochen, wird mir klar, dass Nixi das vielleicht persönlich nimmt.
Bevor ich allerdings Gelegenheit habe, darauf zu reagieren, rückt Marc mit seinen Zweifeln heraus: »Dieser Schuss kann aber auch nach hinten losgehen, falls eine Karte den Hellhounds in die Hände fällt. Das ist ein Risiko.«
Ich will den Einwand nicht hören, habe es so satt, ständig an das Damoklesschwert über uns denken. Ich halte diese immerwährende Angst kaum noch aus!
»Diese Gefahr droht uns doch schon die ganze Zeit, Marc! An jedem einzelnen Tag! Außerdem hast gerade du vor Kurzem noch argumentiert, dass unsere Stärke auch in der Einwohnerzahl liegen würde. Trotz der hohen Mauern hätten wir drei keine Chance, einem dauerhaften Angriff von Hellhounds standzuhalten.«
»Wow, sie hört mal auf mich.«
Aber es scheint ihm nicht zu gefallen. Kopfschüttelnd stößt er die Luft aus, lehnt sich im Stuhl zurück und fährt sich durch die Haare.
»Stärke durch Überzahl – das ist leider eine Tatsache. Und die riesigen Felder mit Weizen, Hafer und Mais um das Dorf von Hand abzuernten, Heu für das Vieh zu machen und nächstes Jahr alles neu zu bewirtschaften, ist eine Herkulesaufgabe. Die Maschinen sind ja da«, überlegt er weiter. »Womöglich würde ich es mit einem Mechaniker fertigbringen, den Schaden durch die EMP-Wellen zu beheben. Wenn wir wenigstens einen der uralten Traktoren wieder in Gang bringen könnten! Die haben nicht viel Elektronik. Aber das Wichtigste zuerst: Ich muss heute dringend Munition und Waffen besorgen. Wir haben nur noch Patronen für die Schrotflinte.«
Ich fahre abrupt vom Stuhl hoch.
»Aber die Hellhounds sind noch in der Nähe!«
Er seufzt. »Es muss aber sein, Jessy.«
Und schon jetzt habe ich eine Scheißangst um ihn!
»Dann komme ich mit!«
Bevor wir losfuhren, mussten Marc und ich noch eine schwere Aufgabe erledigen: Wir haben Bertas Leiche draußen vor dem Dorf verbrannt und ich habe dabei die ganze Zeit geheult.
Ihre Liebenswürdigkeit werde ich nie vergessen. Als sie spürte, dass es mit ihr zu Ende ging, hat sie mir mit ihrer letzten Kraft noch alles gezeigt und erklärt, damit wir hier den Winter überleben. Ich werde sicher oft an sie denken, und sobald Zeit ist, mache ich ein Holzkreuz mit ihrem Namen und stecke es im Dorffriedhof in die Erde.
Anschließend habe ich aus der Prospektklappe am Rathaus alle Postkarten mitgenommen. »Besuchen Sie Espoir« steht da auf einer idyllisch gemalten Landkarte, die mit kleinen Fotos von unserem Bauernhofmuseum, dem Brotbackofen usw. ergänzt ist. Im Haus des Luftballonmanns – wie wir ihn als Kinder genannt haben – fand ich tatsächlich noch eine Flasche Helium und Luftballons. Das ganze Zeug steht jetzt in der Wohnküche bei Nixi. Ihr haben wir genug Schmerzmittel und sogar die Schrotflinte dagelassen, weil sie furchtbare Angst hatte, und das kann ich echt verstehen. Cäsar ist im Hof geblieben und hält dort hoffentlich Wache. Bei seinem alten Zuhause hat er diese Aufgabe hervorragend erfüllt.
Beim mittelalterlichen Stadttor angekommen, ergab sich das nächste Problem: Nixi wäre mit ihrem gebrochenen Bein niemals in der Lage, das bogenförmige Tor der Stadtmauer hinter uns zu verriegeln. Immerhin bestehen die beiden Torhälften aus zirka 20 Zentimeter dicker Eiche, man muss sich schon mit seinem ganzen Körpergewicht dagegenstemmen, um sie zu bewegen. Und um es zu verriegeln, gibt es auch keinen Schlüssel: Man schiebt von innen zwei schwere Balken durch eine Führungsschiene aus massivem Eisen. Auch das ist eine schweißtreibende Arbeit. Wir haben also – wie so oft – improvisiert.
Ich habe die mächtigen Holzportale geschlossen und bin über eine lange Leiter, die wir in einem der Bauernhöfe aufgetrieben haben, die Stadtmauer hinuntergeklettert. Diese Leiter versteckten wir anschließend im Gebüsch, um später wieder reinzukommen. Es bleibt nur zu hoffen, dass kein Eindringling kommt und sie findet!
Endlich können wir los und ich steige hinter Marc auf seine »Bonnie«, wie er die Triumph Bonneville Baujahr 1960 liebevoll nennt. Das Motorrad ist so alt, dass es keine Elektronik hat, nur Kickstarter und deshalb fährt sie sogar nach den flächendeckenden EMP-Angriffen des Krieges noch.
Ich lege die Arme um Marcs schlanke Taille und spüre das weiche Leder unter meinen Fingern. Er sieht klasse aus in seiner schwarzen Lederjacke, der gleichfarbigen Lederhose und dem Harley-T‑Shirt, das ich ihm gestern besorgt habe. Das bunte Tuch vor dem Mund, das er noch irgendwoher aufgetrieben hat, und der offene, schwarze Helm tun ihr Übriges. Er sieht aus wie ein Bad Boy, hat jedoch ein Herz aus Gold.
Aber so cool und sexy er auch aussieht, es lenkt mich nicht genug von meiner Angst ab und ich klammere mich fester an ihn, als es nötig wäre. Denn was wir vorhaben, ist lebensgefährlich. In der Stadt könnte sich immer noch die Bande von Hellhounds herumtreiben, die uns umbringen wollte. Ihnen hat Marc auch den Durchschuss im Bauch zu verdanken. Und weil wir Nixi die Schrotflinte überlassen haben, bleibt uns lediglich die leere Pistole von Marc. Meine bisherige Waffe, ein Baseballschläger, und zwei Fleischmesser aus Bertas Küche habe ich in den Anhänger gepackt.
»Der Sprit ist fast alle, Jessy. Ich hoffe, wir schaffen es bis zur Stadt.«
Auch das noch!
Marc startet den Motor und wir brausen los. Sich auf der Triumph an ihn zu schmiegen, fühlt sich trotz der Angst gut an. Ich lege meine Wange auf das weiche Leder an seinem Rücken und meine Oberschenkel liegen eng an seinen. Vor dem Krieg hätte das ein wunderschöner Ausflug mit Picknick werden können …
Auf dem Weg hält Marc mit seinem Fernglas immer wieder Ausschau. Und auch ich hebe öfters den Kopf und blicke mich nach allen Seiten um. Die Landstraße zur Stadt geht am Ende leicht bergab – unser Glück, denn der Motor stirbt mangels Sprit ab. Der letzte Tropfen im Tank ist nun aufgebraucht.
Unten in der Stadt angekommen, muss die Bonnie noch einen halben Kilometer bis zur einzigen Tankstelle geschoben werden. Mit erhobenem Zeigefinger und zu Schlitzen verengten Augen verbiete ich Marc das mit aller Vehemenz, die ich aufbringen kann. Ich habe nämlich furchtbare Angst, dass sich die Schusswunden bei ihm dadurch erneut öffnen.
Während ich das Motorrad samt Autoanhänger schiebe und dabei schnaufe wie ein Walross, verwünsche ich mich dafür, nie ins Fitnessstudio gegangen zu sein. Bis ich endlich schweißgebadet ankomme, habe ich Marc schon zweimal angeschrien, weil er mir helfen wollte.
An der Zapfsäule sinke ich fix und fertig auf meinen Hosenboden und lehne mich mit dem Rücken dagegen. Während ich versuche, wieder zu Atem zu kommen, schaue ich Marc neugierig zu. Schließlich haben wir nicht mehr den Luxus, einfach faul den Zapfhahn in die Hand zu nehmen. Ohne Strom zu leben, ist echt mühsam!
Neben der Zapfsäule klappt Marc eine große Metallplatte zurück und schraubt einen der Füllstutzen auf, der dort zutage tritt. Dann pumpt er mittels einer Handpumpe, die er sich für diesen Zweck eigens beschafft hat, Sprit aus dem unterirdischen Reservoir der Tankstelle in den Tank der Bonnie. Er ist schon länger mit dem Oldtimer unterwegs und hat sichtlich Übung darin.
»Wir haben Glück, da unten ist noch Sprit.«
»Woher kennst du dich mit so was eigentlich aus?«, frage ich, immer noch etwas