Der asiatische Archipel. Ludwig Witzani

Der asiatische Archipel - Ludwig Witzani


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Kaum hatten wir das Bergland verlassen, verschwanden Wolken und Regen wie abgeschnitten. Eine gleißende Sonne beschien die gleiche Szenerie aus Vulkanen, Reisterrassen, Feldern und Palmen, die wir schon am Vormittag gesehen hatten. Alles, was in den Tropen geschah, geschah plötzlich: eine Infektion, ein Stimmungsumschwung, der Einbruch der Nacht und auch der Wetterwechsel.

      Es war schon dunkel, als wir das Merapi Hotel in Yogjakarta wieder erreichten. Manfred verzog sich sofort auf die Toilette. Rike verschwand in Sams Zimmer. Ich las ein wenig in der Biografie von Max Dauthendey.

      ***

      So vielfältig wie die buddhistische Lehre ist auch ihre Tempelarchitektur. In Sri Lanka gleichen die „Dagobas“ halb in der Erde versenkten weißen Atommeilern. In Burma und Thailand, wo man sie „Chedis“ nennt, erinnern sie an spitz zulaufende goldene Weihnachtsbäume. In Japan und China wirken die buddhistischen Tempel wie große, bunt bemalte Riesenscheunen. Der Borobodur, der größte buddhistische Tempel der Welt, glich keiner dieser Formen. Er war ein Unikat ganz für sich, und es war fraglich, ob man ihn überhaupt als Tempel ansprechen konnte.

      Schon als ich ihn das erste Mal aus der Ferne süberraschten mich die Form und die Größe des Bauwerkes. Wäre der Vergleich nicht so despektierlich, könnte man das Gebäude mit einer riesigen fliegenden Untertasse vergleichen. Mit seinen einhundertzwanzig Metern Seitenlänge und einer Höhe von etwa vierunddreißig Metern wuchs der Borobodur inmitten eines weiten, von Bergen begrenztem Tals wie eine Frucht menschlicher Kreativität aus der Erde Javas heraus. Es hieß, dass über 10.000 Arbeiter generationenlang an seiner Erbauung beteiligt gewesen waren. Hatten sie es freiwillig getan, als eine Art Gottesdienst wie bei den ägyptischen Pyramiden, oder waren sie Sklaven gewesen? Zwei Millionen Steinblöcke waren aufgetürmt worden, ehe an den kilometerlangen Wandelgängen über fünfhundert Buddhaskulpturen eingemeißelt worden waren. Die ungeheuren Anstrengungen, die die javanische Sailendra Dynastie zur Errichtung dieses Bauwerkes mobilisieren musste, hatten möglicherweise zu ihrem Untergang beigetragen. Nur wenige Generationen nach der Fertigstellung des Borobodur um das Jahr 800 war das Reich der Sailendra zusammengebrochen.

      Geblieben war ein steinernes Riesenmandala, das seine Besucher zu einer kilometerlangen Prozession zwischen den drei buddhistischen Welten einlud. In den altjavanischen Zeiten hatte der Rundgang durch den Borobodur auf ebener Erde im „Kamadathu“, auf der Stufe des irdischen Daseins, begonnen. Er setzte sich fort über die sechs Terrassen des „Rupadathus“, der Ebene der vergeistigten Formen, und erreichte schließlich „Arupadathu“, die Ebene der absoluten Abstraktion auf dem flachen Dach des Borobodur. Während die unterste Ebene nicht mehr zugänglich war, weil das Gebäude im Laufe der Jahrhunderte eingesunken war, konnte der Besucher auf den sechs mittleren Terrassen des Rupadathus hunderte stilisierter Buddhastatuen und über 1200 Steinmerzarbeiten betrachten. Ein gläubiger Buddhist, der diese Galerien entlangwanderte, tauchte ein in den Mythenschatz seiner Religion, identifizierte den Buddha in seinen frühen Lebensformen, den Jakatas, und erkannte all die Dämonen, Geister und mythischen Tiere wieder, die in den heiligen Schriften beschrieben wurden.

      Oben angekommen, auf der Ebene der vollständigen Abstraktion, erblickten wir eine monumentale, acht Meter hohe Stupa, die ihrerseits von 72 kleineren Stupen umgeben war. In diesen kleineren Stupen befanden sich wiederum steinerne Buddhas, deren Umrisse man durch die perforierten Stupenwände erkennen konnte.

      Allerdings war Buddhismus des Borobodur, der im Borobodur dargestellt wurde, nicht der ursprüngliche Buddhismus, den der historische Buddha im sechsten und fünften Jahrhundert vor der Zeitrechnung in Indien gelehrt hatte. Denn dieser ursprüngliche, „ältere“ Buddhismus war alles andere als eine „frohen Botschaft“ gewesen. Die ursprüngliche Lehre des Buddha war als eine knochenharte Erlösungslehre ohne Gott in der Welt erschienen, als eine religiöse Praxis für geistliche Asketen, die den einfachen Menschen weit überforderte. Kein Geist und kein Gott, keine Wunder und keine Gnade standen dem Gläubigen auf seinem Weg ins Nirwana zur Seite. Seine Seele war allein im Universum, und es war allein ihre Kraft, die über ihre Höherentwicklung und ihre Annäherung an das Nirwana entschied.

      Niemals wäre der Buddhismus zur Weltreligion Asiens geworden, hätte er sich nicht ein gutes halbes Jahrtausend nach seiner Entstehung tiefgreifend verändert. Ein neuer, reformierter Buddhismus entstand, der im Verlauf mehrerer großer buddhistischer Konzile in den ersten Jahrhunderten der Zeitrechnung seine definitiven Formen erhielt. Dieser neue Buddhismus basierte auf einer Neubestimmung der erhabenen Seele. Ihre Erhabenheit zeichnete sich nicht mehr durch das Streben nach der eigenen Erlösung aus, sondern dadurch, dass sie am Rande des Nirwanas auf ihr eigenes Verlöschen freiwillig verzichtete, um als hilfreicher und gnädiger Geist, als „Bodhisattwa“, die einfachen Menschen in ihrem tätigen Leben zu unterstützen. Es dauerte nicht lange bis diese "Bodhisattwas", verstanden als gottähnliche, mitleidende und gnadenreiche Wesen, in großer Zahl den ursprünglich völlig gott-losen buddhistischen Kosmos bevölkerten. Wo im älteren Buddhismus nichts gewesen war als die Sehnsucht der müden Seelen nach dem Nichts, entstanden nun Myriaden hilfreicher Geister, deren Existenz nach Darstellung und Verherrlichung in allen Bereichen der Kunst verlangte.

      Diesen neuen, „jüngeren“ Buddhismus, der die Erlösung von viel mehr Menschen als früher verhieß, bezeichnete man als „Mahayana“, als das „große Fahrzeug“, im Unterschied zum „Hinayana“, dem „kleinen Fahrzeug“ des ursprünglichen Buddhismus. Dass dieser neue Buddhismus Millionen guter Götter und Geister alle älteren Ahnenkulte frisch missionierter Völker mühelos in sich aufnehmen konnte, verstand sich von selbst.

      Der Borobodur ist das steingewordene Mandala des javanischen Mahayana-Buddhismus. Er wurde als eine Prozessionsstraße konzipiert, auf der der Gläubige den zahllosen Buddhas und Bodhisattwas begegnen konnte, die ihn auf dem Weg zur Ebene der formlosen Erkenntnis begleiteten. Diese Prozessionsstraße versinnbildlichte die schrittweise Höherentwicklung des Menschen vom Stofflichen über das Geistige zum absoluten Nichts. Wenigstens diese allgemeine Richtung hatte der Mahayana- Buddhismus mit dem Hinayana-Buddhismus gemeinsam.

      Inzwischen war der späte Nachmittag angebrochen. Die Anlage wurde immer voller, und es war kaum noch möglich, irgendeine Statue ohne vorbeigehende Touristen in Ruhe zu betrachten. Die meisten Besucher waren moslemische Javaner, sie wurden begleitet von ihren verschleierten Frauen, die gerne vor der einen oder anderen Buddha-Skulptur posierten. Das mochte zunächst überraschen, denn streng genommen verkörperte der Buddhismus, gleich ob in der älteren oder der jüngeren Form, für einen Moslem den Inbegriff des Heidentums. Tatsächlich hatte der Islam, wo immer er in den Jahrhunderten seiner Expansion Fuß gefasst hatte, den Buddhismus mit Stumpf und Stiel ausgerottet. In Nordpakistan, in Bengalen und in Kaschmir war nach dem Sieg des Islam nichts vom Buddhismus übriggeblieben, und noch vor kurzem hatten islamistische Terroristen die große Buddha-Statue von Bamyan in Afghanistan in die Luft gesprengt.

      In Indonesien war der offizielle Umgang mit den vorislamischen Überresten ein anderer. Seitdem der Borobodur zum Anschlagsziel für islamistische Terroristen geworden war, hatte man militärische Kontrollposten rund um das Bauwerk eingerichtet, von denen aus der Besucherstrom genau beobachtet werden konnte. Als sich Rike eine Zigarette anstecken wollte, wurde sie von den Wachtposten scharf zurechtgewiesen. War der Buddhismus auf Java auch untergegangen, schuldete man ihm doch noch Respekt.

      ***

      Im Ursprung war der indische Tempel nichts weiter als ein fensterloser Raum gewesen. In seinem Innern hatte sich die Götterstatue befunden, die nur von den Brahmanen gesehen werden durfte. Die Gläubigen mussten draußen bleiben. Die weitere Entwicklung führte zu quadratischen Steingebäuden, wie wir sie auf dem Dieng Plateau gesehen hatten. Im nächsten Schritt entstand ein überdachter Vorraum, in dem sich die Gläubigen versammeln konnten. Dann begann der eigentliche Tempelkorpus, der Raum, in dem das Götterbildnis aufgestellt war, zu wachsen. Aus einem quadratischen Raum entwickelte sich ein sich parabelförmig nach oben verengender Turm, die sogenannte Sikhara. Sie repräsentierte im Glauben der Hindus den Weltberg Meru, den Sitz der Götter im Himalaja. Auch die Basis dieses Turms, die Cella, veränderte sich. Aus ihr entstand die „Grabhagriha“, die Kammer des Allerheiligsten, zu dem außer den Brahmanen noch immer niemand Zutritt hatte. Als schließlich Vorhalle und Sikhara auf ein Podest gestellt und zu einer


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