Der asiatische Archipel. Ludwig Witzani

Der asiatische Archipel - Ludwig Witzani


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den strenggläubigen Muslimen in Nordsumatra oder Zentraljava galt Jakarta als eine gottlose Stadt, obwohl auch hier wie im ganzen Land der Muezzin fünfmal am Tag zum Gebet rief und die meisten Frauen Kopftücher trugen. Was die orthodoxen Muslime störte, war zweierlei: die vermeintliche Sittenlosigkeit der nichtmuslimischen Minderheiten und, mehr noch, die „Laxheit“ der eigenen Glaubensbrüder, die es mit den Geboten des Koran nicht so genau nahmen.

      Diese sogenannte Laxheit hatte eine lange Geschichte. Die Anreicherung des indonesischen Islams mit Ahnenkulten und Geisterglauben aus hinduistischen Quellen hatte einen sehr elastischen Alltagsislam entstehen lassen, in dem die unterschiedlichsten Glaubensinhalte rumpelten wie in einer zu vollen Kiste. Religiöse Puristen mochten das beklagen, in Wirklichkeit aber war es gerade diese Vermischung der Werte, die ihnen ihre Schärfe nahm und sie in multireligiösen Gesellschaften alltagskompatibel machte. Die Durchsetzung des indonesischen Volksislams mit Riten und Mythen aus anderen Religionen nahm ihm das Unbedingte und Kompromisslose, das ihn im Nahen Osten oder in den Parallelgesellschaften des Westens so kämpferisch und unverträglich machte.

      Soweit, so abstrakt. Wie aber sah das konkret aus? Der junge Moslem, der während des Frühstücks im Ashley Hotel am Nebentisch sein Rührei aß, besaß nur einen zarten Flaum am Kinn, während seine hübsche Gattin ein locker geschürztes buntes Kopftuch trug. Sie repräsentierten den modischen Standard des indonesischen Alltagsislams. Ein mittelalter Indonesier mit bemerkenswertem Salafistenbart scheppte sich am Buffet tüchtig den Teller voll, sein wuchtiges Weib war bis auf einen Seeschlitz in der Burka schwarz verhüllt. War das die Zukunft? Demgegenüber wirkten der glattrasierte Chinese und seine offenherzig gekleidete Freundin merkwürdig unzüchtig wie Wesen aus einer anderen Galaxie. Alle drei Paare saßen nebeneinander im gleichen Frühstücksraum und repräsentierten ein Ausmaß an Verschiedenheit, das man je nach Standpunkt als Bereicherung oder Gefahr ansehen konnte.

      Die Istiqlal Moschee in der Nähe des Merdekaplatzes war die Hauptmoschee Jakartas, ein riesiger Bau, der mit seinen geraden, vertikalen Pfeilern fast an ein Flughafengebäude erinnerte. Der Innenraum der Istiqlal Moschee gehört zu den größten Gebetshallen der muslimischen Ökumene, er war komplett mit Teppichen ausgelegt und von vier Etagen gesäumt. Ob wirklich 120.000 Menschen in dieser Moschee Platz fanden, konnte ich nicht abschätzen, denn als ich die Moschee besuchte, waren nur einige hundert Menschen anwesend, die sich zudem in den Weiten des Gebäudes verloren. Dutzende lagen auf dem weichen Teppich unter der Kuppel und schliefen, dösten oder meditierten. Auch ich legte mich lang auf den Boden und spürte sofort die wohlige Entspannung, die mich immer überkommt, wenn ich eine Moschee betrete. Nach dem unerträglichen Lärm der Straße erschien mir die Stille unter der großen Kuppel fast wie ein Gottesbeweis.

      Ich war eingeschlafen und erwachte, als eine tiefe, gutturale Stimme zum Gebet rief. Sie füllte die gesamte Moschee, sie war überall, in der Halle, in den Winkeln, in meinem Kopf. Als sei in den Schlafenden ringsum mich herum ein Schalter umgelegt worden, öffneten sie die Augen, erhoben sich und gingen zur Kiblawand. Von überall her, von den Brüstungen, Etagen und Treppen, kamen die Menschen und knieten sich nebeneinander vor die Wand, die in Richtung Mekka wies. Wie beneidete ich in diesem Augenblick diese Menschen um ihre religiöse Geborgenheit und ihre spirituellen Kraftreserven, die sie schützen werden, wenn ihre Stunde kommt. Ich dagegen war ein spirituelles Federgewicht, das nur in den Zeiten des Glücks gedeihen konnte, wie viele meiner Zeitgenossen ein Gutwettergewächs, das sofort einknicken würde, wenn der Sturm kommt.

      Auf Indonesier, die nicht wohlhabend genug waren, die Weiten ihrer Heimat selbst zu erkunden, wartete im Süden Jakartas eine Attraktion der besonderen Art: der „Mini Indonesia Park“, eine weiträumige Anlage mit Grünflächen, Ausstellungshallen und Tiergehegen, in der die Sehenswürdigkeiten des Landes im Legoformat präsentiert wurden. Auch Touristen, die in Jakarta ihre Indonesienreise begannen, hätten im Mini Indonesia-Park einen ersten Eindruck von ihren Zielgebieten gewinnen können – wenn die lange Anfahrt nicht die meisten Besucher abgeschreckt hätte. Auch ich benötigte mit Ojek, Korridorbus und Taxi geschlagene zwei Stunden, bis ich von der Innenstadt aus den Park erreichte. Er war mäßig besucht und hatte seine besten Tage hinter sich. Rasen und Wege waren verunreinigt, eine ganze Reihe von Ausstellungshallen war geschlossen, vom benachbarten Freibad hallte Kindergekreische herüber. Die Hauptattraktion des Parks war ein künstlicher See, in dem sich kleine Inseln befanden, die den Umrisse der indonesischen Geografie nachgebildet waren. Diesen See konnte man in den Gondeln einer Seilbahn überqueren und so auf „Borneo“, „Java“ oder „Bali“ herabblicken. Den größten Zuspruch fanden die Nachbauten altindonesischer Behausungen, die in der Nähe des Sees aufgestellt worden waren. Ein spitzgiebeliges Batakhaus und eine mattengedeckte Papuahütte, dazu die eine oder andere Pappfigur, vermittelten eine Stimmung zwischen Kitsch und Urweltlichkeit.

      Authentischer wurde es im benachbarten Tiergehege des Freizeitparks. Ich sah Adler, Kakadus, Kormorane, Pelikane und bunte Vögeln aller Art, nur der angekündigte Komodo-Waran war gerade erst verstorben. Ich begegnete dem Beppo, dem klassischen Weichverdauer, den die Evolution dazu verurteilt hatte, das ganze Leben lang an Durchfall zu leiden. Dann betrachtete ich einen Vogel, an dem Charles Darwin seine Freude gehabt hätte: die Eier, die er legte, besaßen so harte Schalen, dass es nur den kräftigsten Küken gelang, ans Licht der Welt zu schlüpfen. Ein Nandu stand unbeweglich in seinem Käfig. Was war an ihm bemerkenswerter? Sein Kopfputz oder seine kräftigen Beine mit denen er beachtliche Tritte austeilen konnte? Ich sah es mit Interesse, vergaß aber die Vogelnamen sofort wieder. Ich kann mir nur Götternamen merken, bei Vögeln versagt mein Gedächtnis.

      So vergingen die Tage, und langsam gewann ich ein Gefühl für die Stadt, für Ihre Größe, ihren Verkehr, für die besten Tageszeiten, um bestimmte Orte zu besuchen oder es besser bleiben zu lassen – und für ihren Ehrgeiz, eine Metropole wie Singapur, Hongkong oder Tokyo zu werden, die nicht nur als Etappe, sondern um ihrer selbst willen besucht werden. Die großen Einkaufsmalls im Süden der Stadt und die neue Schnellstraße zwischen Innenstadt und Flughafen verdeutlichten schon heute den Anspruch, eine Weltstadt zu sein – die Gassen von Sunda Kelapa oder Glodok erinnerten aber noch immer eher an Kalkutta oder Manila.

      Weltstädtisch wirkte Jakarta am ehesten vom Aussichtspunkt des Unabhängigkeitsmonumentes. Einhundertelf Meter über dem Merdekaplatz erschien mir die Stadt wie ein Ozean aus Stein. Ein Kranz aus Hochhäusern hatte sich wie ein lückenloser Ring um das Stadtzentrum gelegt, dahinter verschwanden die endlosen Häuserflächen im diesigen Dunst des Tages. Wie groß war diese Stadt? In den offiziellen Stadtgrenzen waren es zehn Millionen. Da die Stadt aber immer weiter ins Umland hinein wuchs und mit den Nachbarstädten Bogor, Depol, Tangerang und Bekasi zunehmend verschmolz, war eine Metropolregion mit etwa 30 Millionen Menschen entstanden. Dieses neue Gebilde, das man bereits auf den Kunstnamen Jabodetabek getauft hatte, war damit nach Tokyo der zweitgrößte urbane Ballungsraum der Erde.

      Drei Dolche müssen es schon sein

      Lazy days in Yogjakarta

      In einem Akt unbedachter Selbstkasteiung hatte ich mir ein Ticket für den Nachtzug nach Yogjakarta besorgt. Ich hätte auch fliegen oder mit einem Touristenbus fahren können, aber ich wählte den Zug, denn ich wollte möglichst „authentisch“, das heißt, volksnah, reisen, was immer das auch bedeuten mochte. Inzwischen hege ich an diesem Konzept meine Zweifel, aber damals glaubte ich noch daran, und so nahm das Unheil seinen Lauf.

      Am Eingang des Hauptbahnhofs hätte ich noch umkehren können, doch ich blieb verstockt. Ganz unjavanisch nervös, hektisch, mit Tunnelblick und unwirschen Gesten liefen die Leute hin und her. Es roch nach Curry, Schweiß und Öl. Kleine Kinder lagen neben ihren Müttern auf einer Decke und schrien. Sehnsüchtig dachte ich an die Disziplin, wie ich sie einmal auf dem großen Bahnhof von Xian in China erlebt hatte. Dort hatten sich die Passagiere in Zweierreihen aufstellen müssen, ehe sie, von strengen Aufseherinnen geführt, den Bahnsteig betreten durften.

      Aber Jakarta war nicht Xian, und so brach, kaum dass der Zug hielt, ein mittleres Chaos aus. Alle malaiische Höflichkeit war verschwunden, als sich die Massen durch die Eingänge quetschten. Mein Rucksack war Hindernis und Hilfe zugleich – mit ihm kam ich zwar nur mit Mühe durch den Eingang, konnte aber durch geschicktes


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