Silas. Rebecca Vonzun
Teile des Lebensbaums, brachte ihn dazu, auf dessen Ächzen und Stöhnen zu lauschen.
Abends, wenn Levin sich jeweils müde in seiner Höhle zusammenrollte und sich in seinen Schwanz kuschelte, hörte er die unheimlichen Geräusche des Baumes laut und durchdringend. Und dann wusste er, dass er ihm helfen wollte, seinem Baum. Er wusste nur nicht, wie.
Und dann begannen die Träume. Eines Nachts erwachte Levin urplötzlich. Seine Stirn glänzte vor Schweiss und ihm war heiss. Gleichzeitig fror er und seine Zähne klapperten. Er fühlte sich merkwürdig. Und er erinnerte sich auf einmal, geträumt zu haben. Von einer fremden Welt. Von einem grossen Menschenjungen mit Haar in der Farbe von Morgensonne und Augen, golden wie flüssiger Honig. Er hatte ihn hergeholt, in seinem Traum. Hergeholt in den Wunderwald.
Von da an träumte Levin jede Nacht. Es war immer derselbe Traum. Er besuchte das hellhaarige Menschenkind. Und führte es hierher, in seine Welt. Er war etwas ratlos. Er hatte keine Ahnung, woher seine Träume kamen. Woher sein Traum wusste, dass es andere Welten gab. Woher er wusste, was ein Menschenkind war. Die Träume machten ihn nachdenklich und liessen ihn tagsüber grübeln. Er suchte nach Gründen. Nach Erklärungen.
Die Träume hinterliessen stets ein warmes Gefühl, als ob er etwas Wunderbarem auf der Spur wäre. Sie brachten etwas in seinem Innersten zum Klingen, von dem er nicht gewusst hatte, dass es existierte. Aber sie erschöpften ihn auch. Denn jedes Mal danach erwachte er schweissgebadet mitten in der Nacht. Zurück blieb der Drang, etwas tun zu müssen, eine Aufgabe zu haben. Und eine grosse Leere, weil er nicht wusste, welche Aufgabe es war. Jedes Mal versuchte er vergeblich, wieder einzuschlafen und lag bis in die frühen Morgenstunden wach, wälzte sich in seinem Nest. Eines Tages reichte es ihm. Levin suchte Rat bei der alten Eule.
„Was hat das zu bedeuten, Lavendula? Warum träume ich?“
Die Eule dachte lange nach. Schloss das linke Auge. Das rechte. Und wieder das linke. Sie hob ihren Schnabel in den Wind, witterte in die Abendluft. Spürte. Liess den Luftzug durch ihr Gefieder streichen und blickte Levin schliesslich ruhig an.
„Du musst ihn holen. Du bist hier, um Kontakt zur Menschenwelt herzustellen. Das muss es sein. Denn keiner von uns kann das. Nicht einmal ich. Der Menschenjunge muss herkommen. Gemeinsam mit ihm wirst du unseren Wald retten können. Geh, Levin, bring ihn zu uns!“ Und sie erhob sich in die Nachtluft, stiess einen lauten Schrei aus, der Levin durch Mark und Bein ging und erbeben liess. Er musste ihn herholen. Nur… wie?
Eine ungewöhnliche Warnung
Seit dem Besuch im Krankenhaus konnte Silas nicht mehr schlafen. Er hatte Alpträume, erwachte mitten in der Nacht schweissgebadet und doch frierend. Stets sah er seine Freunde vor sich, so schwach, dünn und in bläulichem Licht in den grossen Krankenhausbetten mit den Schläuchen und Maschinen. Das Piepsen der Geräte erklang Tag und Nacht in seinem Kopf wie ein Echo und machte ihn ganz wirr. Das Ganze war unerträglich. Seine Freunde kämpften mit dem Tod und er lebte ein normales Leben, ass, trank, ging zur Schule und konnte nichts tun um ihnen zu helfen. Die nächtlichen Träume erschöpften ihn, liessen ihn schwach und unkonzentriert werden. Wegen Kleinigkeiten musste er plötzlich gegen Tränen ankämpfen. Etwa als der Sieber in der Mathestunde mal wieder auf ihm rumgehackt hatte. Weil er gerade aus dem Fenster gesehen und an den Virus im DarkChicken gedacht hatte. Am Vorabend hatten sie in der Tagesschau gemeldet, dass mittlerweile alle ChickenMcKing-Filialen der Stadt zwangsgeschlossen worden waren. Im ganzen Land war immer noch keine einzige lebendige Person aufzuspüren, welche für ChickenMcKing verantwortlich war. Nicht einmal die Angestellten und Verkäufer waren auffindbar, als wären alle wie vom Erdboden verschluckt. Nachdem niemand auf die Forderung, den DarkChicken aus dem Verkehr zu ziehen, reagiert hatte, hatte man kurzerhand die Türen und Fenster der Läden geschlossen und mit dicken Brettern verriegelt. Die Polizei hatte Plastikbänder auf alle Türen und Fenster geklebt. VERSCHLUSSVERSIEGELUNG stand da drauf. Das bedeutete, dass niemand ohne die Erlaubnis der Polizei die Türe öffnen durfte. Das hatte Dad ihm erklärt. Und wenn jemand trotzdem versuchte, ins Gebäude einzudringen, sah man das dann sofort, weil das Band zerrissen war.
Zudem konnten die Forscher und Ärzte das gefundene Virus im Fleisch vom DarkChicken immer noch nicht identifizieren. Keiner hatte jemals so ein Virus gesehen und es war deshalb auch noch kein Gegenmittel gefunden worden. Die Forscher, welche im Fernsehen gezeigt wurden, sahen immer ganz erschöpft und müde aus mit roten Augen und zerknitterter Kleidung. So als ob sie Tag und Nacht nur forschen würden, um die Opfer retten zu können. Silas hatten sie leidgetan und gleichzeitig verspürte er den Drang, ihnen laut zuzurufen: Forscht schneller! Rettet meine Freunde, nun macht schon!
Darüber hatte er also gerade nachgedacht und Herr Sieber war wieder ganz gemein zu ihm geworden, als er nicht auf eine Frage antworten konnte. Und da musste er ganz plötzlich weinen, mitten in der Klasse vor allen anderen. Erstaunlicherweise hatte der Sieber sofort aufgehört mit seinen Sprüchen. Und noch verblüffender war, dass von den anderen niemand gelacht hatte. Alle hatten nur betroffen auf ihre Pulte gestarrt.
Das passierte ihm jetzt ständig, auch, als er gestern zu spät gekommen war oder als Mom ungeduldig geworden war, weil er die Schmutzsocken nicht in den Wäschekorb versorgt hatte. Immerzu musste er ganz plötzlich weinen. Das nervte gewaltig. Aber er konnte einfach nichts dagegen tun.
Und Silas wollte irgendetwas tun. Er konnte nicht einfach nur abwarten und weinen und zuschauen, wie alles den Bach runterging. Damit half er niemandem weiter. Zudem nahm es ihn gewaltig wunder, ob nicht vielleicht im ChickenMcKing eine Spur zu finden wäre. Die Polizei hatte alles einfach abgeriegelt aber niemals die Innenräume so richtig untersucht. Das wunderte Silas. Schliesslich würde er, wäre er Polizist, dies als allererstes tun.
***
Die nächsten Tage regnete es sozusagen pausenlos. Von den nahenden Sommerferien war nichts spürbar, vom dazugehörenden Sommerwetter noch weniger.
Silas hatte schlechte Laune. Er hatte letzte Nacht mal wieder wenig geschlafen und nach der Schule tonnenweise komplizierte Matheaufgaben erledigen müssen. Zu allem Übel hatte es zum Abendessen Reis mit Erbsen gegeben. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, waren es Erbsen. Und als er damit begonnen hatte, sie aus den Reiskörnern raus zu lesen, hatte ihm Dad einen seiner Vorträge über hungernde Kinder in Afrika gehalten. Silas hätte liebend gern die Bäuche sämtlicher hungernder Kinder mit Erbsen gefüllt. Doch leider lagen sie auf seinem Teller. Dies hatte er Dad geduldig zu erklären versucht. Dieser war jedoch unglücklicherweise nicht in Stimmung für eine solche Diskussion gewesen und so hatte der Abend mal wieder mit Tränen und Türeknallen geendet.
Silas seufzte. Er war einerseits todmüde, andererseits konnte er jetzt einfach noch nicht schlafen gehen. Es war gerade mal sieben Uhr und draussen war es trotz des Regenwetters und den schwarzen Wolken noch nicht annähernd dunkel. Er drückte auf den Schaltknopf seines Computers und wartete vor dem dunklen Bildschirm bis dieser aufgestartet war. Dann gab er sein Kennwort ein. Silas hatte vor, sich mit King of Dragons etwas abzulenken und abzureagieren. Er spürte noch immer die Wut über seinen Vater im Bauch. Zudem wusste er genau, dass er, würde er sich jetzt ins Bett legen, nur wieder endlos über ChickenMcKing nachdenken würde. In den letzten Tagen war in ihm immer mehr der Wunsch entstanden, selbst im geschlossenen Laden in der Hollowstreet vorbeizuschauen. Vielleicht hatte die Polizei ja ein Fenster oder einen Spalt vergessen abzuriegeln. Dann könnte er sich da mal ein bisschen umsehen… Aber seit der Sache mit seinen Freunden überwachte ihn Mom geradezu übertrieben. Ständig fuhr sie ihn mit dem Auto zur Schule und holte ihn wieder ab. Und danach musste er Hausaufgaben machen oder vertrieb sich die Zeit am Computer oder mit einem Buch. Er seufzte erneut. Ein Pling riss ihn aus den Gedanken. Er wandte seinen Blick, welcher bei seinen Überlegungen aus dem Fenster gewandert war, wieder dem Bildschirm zu. Der Cursor zeigte an, dass der PC noch am Laden war. Mit dem Finger auf der Maus wartete Silas ungeduldig darauf, dass das Symbol seines Computerspiels auf der Startseite erschien. Da war es endlich. Gerade wollte er es anklicken, als der Bildschirm plötzlich wieder dunkel wurde. Im Stillen verfluchte er seinen alten PC, zu gerne hätte er das neue