Silas. Rebecca Vonzun
Zeitlupentempo erhob er sich, sollte sie ja nicht meinen, er hätte ihnen verziehen. Extra langsam schlüpfte er in die alte Jeans, zog sich sein blaues T-Shirt über den Kopf und zog sich die Ringelsocken über. Er tappte ins Bad, wo er sich zwei Tropfen Wasser ins Gesicht spritzte und wie immer vergeblich versuchte, seine steil nach oben stehenden Fransen zu bändigen. Dann schlurfte er seelenruhig die Treppe runter, wo ihn seine Mom bereits erwartete. Ungeduldig drückte sie ihm seinen Rucksack, die Sporttasche und sein Pausenbrot in die Hand.
„Jetzt hast du keine Zeit mehr fürs Frühstück! Du weißt doch, dass das…“
„…das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist, jaja, blabla…“, murmelte Silas und schlüpfte in Jacke und Sneakers.
„Deshalb hab ich dir einen extra Cerealienriegel eingepackt, hörst du? Den isst du auf dem Weg, mit leerem Magen kannst du nicht…“, rief ihm Mom noch nach und blickte besorgt. Silas seufzte. Sie meinte es nur gut. Dennoch… er würde hart bleiben. Die könnten lange darauf warten, dass er ihnen verzieh, schliesslich hatten sie ihm den wichtigsten Abend seit Monaten verdorben. Er griff nach dem Riegel (Hafer-Nuss, bäh!) und verschlang ihn mit grossen Bissen, denn sein Magen knurrte tatsächlich schon wieder. Und gleich hatten sie Sport, daher… Im Laufschritt begab er sich, die Reste des Kornriegels herunterschluckend, in Richtung Schulhaus.
In der Umkleide war er alleine, es schien schon geläutet zu haben und er musste sich sputen, um keinen Eintrag zu kriegen. Kurz vor dem zweiten Klingeln zog er sich das T-Shirt über den Kopf und schlüpfte dabei unauffällig als Letzter in die Halle. Kevin und Jan sah er nirgends. Doch bereits pfiff Frau Simons in ihre Trillerpfeife und die Klasse setzte sich an den Rand der Turnhalle.
„Guten Morgen allerseits!“, begrüsste sie und schaute auf ihr Klemmbrett. Ihre blonden Haare trug sie wie immer zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden und in den halblangen Sporthosen kamen ihre trainierten Waden gut zur Geltung. Frau Simons war eine der wenigen Lehrer, die wirklich in Ordnung war. Sie scheuchte sie nicht nur herum und befahl unmögliche Dinge (wie das der Speich letztes Jahr getan hatte), nein, sie verlangte nichts von ihnen, was sie nicht selbst tadellos beherrschte. Nur war das einfach so ziemlich alles. Silas kannte niemanden, der so sportlich war wie Frau Simons.
„Aspen Lea, Beeler Ryan, Bossard Jan… Bossard Jan?”, wiederholte sie, nachdem sich niemand meldete. Dann vermerkte sie irgendwas auf ihrer Liste und fuhr mit ihrem Appell fort. „Kempton Lukas, Miller Sarah… Philipps Jonas?“ Suchend sah sich Frau Simons um. Bei Winter Silas hob er kurz die Hand. „…und Zimmermann Kevin. Kevin? Weiss jemand, wo Jonas, Kevin und Jan stecken?“, fragte Frau Simons schliesslich und blickte auf. „Silas, weißt du vielleicht…?“ Allgemeines Kopfschütteln. Sie seufzte, klemmte die Liste zurück aufs Brett und schnappte sich ihre Pfeife. „Na los, ihr wärmt ein und ich geh kurz mal telefonieren, um zu sehen, was mit den dreien los ist.“ Ein schriller Pfiff und sie verliess den Raum, während sich ein Grüppchen nach dem andern träge in Bewegung setzte. Silas konnte sich nicht so recht aufs Sitzball konzentrieren. Wo waren bloss seine drei Freunde?
Während der Turnstunde erfuhr er nichts mehr darüber. Frau Simons kehrte zwar zurück, doch nachdem sie bereits den Anfang der Stunde verpasst hatte, war sie jetzt umso intensiver bemüht darum, alle so richtig ins Schwitzen zu bringen und ja keine unnötige Pausen einzulegen. Silas kam ganz schön ins Schnaufen und war letztendlich doch ungemein froh über den Riegel von Mom. Als er Frau Simons am Ende nachdem er wieder zu Atem gekommen war, nach Jan, Jonas und Kevin fragen wollte, klingelte ihr Handy und sie eilte nach einem kurzen Blick darauf mit einer entschuldigen Geste aus der Halle.
Auch die anschliessende Mathestunde bot Silas keine Gelegenheit um sich nach seinen besten Freunden zu erkundigen, denn er wollte die Aufmersamkeit von Herrn Sieber keinesfalls schon wieder auf sich lenken. Schon beim Eintreten hatte dieser Silas mit einem misstrauischen Blick gemustert, fast als ob er ein Schwerverbrecher wäre oder so. Und in seinen Augen lag so ein vorfreudiges Funkeln, dachte Silas, so als ob Herr Sieber sich bereits darauf freuen würde, ihn wieder zur Schnecke zu machen. Oh Mann, man kanns auch übertreiben, dachte Silas. So bemühte er sich heute ausnahmsweise, ausserordentlich aufmerksam dem Unterricht zu folgen, er meldete sich sogar dreimal. Dafür, dass die Antworten, die er gab, nicht im Geringsten etwas zur Lösung beitrugen, konnte er auch nichts. Er war nun mal eine Null in Mathe. Schon immer gewesen. Und Mathe war ja auch so ziemlich das Letzte, was man fürs Leben brauchte. Aber sein Einsatz schien Herrn Sieber etwas zu besänftigen. Jedenfalls liess er ihn für den Rest der Stunde in Ruhe. Sehnsüchtig erwartete Silas die grosse Pause. Zum einen, weil er schon wieder einen Elefanten verspeisen könnte, und zum anderen konnte er da Cédric fragen, ob der vielleicht was wusste.
Als es endlich klingelte, raffte er im Eiltempo seine Stifte und Bücher zusammen und stürmte mit dem Pausenbrot als einer der ersten auf den Schulhof. Während er gierig sein Sandwich verschlang, liess er den Eingang nicht aus den Augen. Da, ein paar Fünftklässler… aber Cédric war nicht dabei. Genau so wenig Marc und Lars, die anderen, die gestern mit dabei gewesen waren. Und Svenja und Livia konnte Silas auch nirgends entdecken. Langsam wich seine Sorge Missmut. Er malte sich aus, dass die anderen gestern (ohne ihn!) abgemacht hatten, heute nicht zur Schule zu gehen, um heimlich irgendetwas ganz Tolles zu unternehmen. Ohne ihn. Ja, bestimmt, das musste es sein! Während er sich ausmalte, wo genau die anderen jetzt wohl gerade waren. Im Schwimmbad? Im Kino? Oder gar mit Jonas’ neustem King of Dragons und einer Riesenmenge Chips vor Cédrics Riesenleinwand? Seine Mutter arbeitete und die Putzfrau interessierte es nicht, was der Sprössling ihrer Chefin ausheckte, solange sie nur pünktlich ihren Lohn bekam. Das hatte Cédric ihm erzählt. Silas spürte, wie er immer wütender wurde. Je länger er nachdachte, desto überzeugter war er, dass sich seine Freunde prächtig bei Cédric amüsierten während er, Trottel, in der Schule sass. Und wer war schuld? Silas ballte, wie so oft in den letzten Stunden, seine Fäuste. Bestimmt hatte er schon Abdrücke von seinen Fingernägeln. In seinem Kopf stiess Silas einen ganz fürchterlich schlimmen Fluch aus. Viel schlimmer als Mist, Scheisse, Kacke oder Ihr könnt mich mal. So schlimm dass er ihn niemals laut zu sagen gewagt hätte, nicht mal für sich alleine. Er verfluchte seine dämlichen Eltern, weil sie ihm den Spass verboten hatten. Seine hinterlistigen Freunde, weil sie ihm nicht Bescheid gesagt hatten. Und die ganze Welt, weil sie so ungerecht und gemein war. Schon wieder spürte er die Tränen in seinem Hals hochsteigen und sein Kinn begann gefährlich zu zittern. Sicher nicht, weil er traurig war. Sondern vor lauter Wut. Jawohl, das waren Tränen der Wut. Und selbst Männer weinen manchmal – vor lauter Wut. Trotzdem versteckte er sich sicherheitshalber hinten beim Fahrradständer, damit ja niemand dachte, er weine wie ein Baby. Oder – noch schlimmer – wie ein Mädchen.
***
Etwas später, am Mittagstisch, stocherte Silas nur lustlos in seinem Teller. Sein Kopf schmerzte seit einigen Stunden wie verrückt und seine Schläfen wollten nicht aufhören zu pochen. Der Bärenhunger hatte sich verflüchtigt, obwohl er vor einem Teller köstlich duftender Fischstäbchen mit Mom‘s Spezialsauce sass (schon wieder eins seiner Lieblingsgerichte… es schien fast, als hätte Mom doch noch ein schlechtes Gewissen bekommen!). Doch heute drehte sich ihm beim Geruch nach Fisch fast der Magen um. Im Hintergrund lief leise das Radio, irgendein Bericht über eine Lebensmittelvergiftung, jedenfalls klang der Sprecher ziemlich ernst und mehrere Leute diskutierten mit. Silas stützte den Kopf in die Hände und seufzte tief. Dad ass heute nicht hier. Mom räusperte sich etwas unsicher.
„Hör zu, Silas, wegen gestern…“ Sie unterbrach sich und fuhr sich etwas unbeholfen durch die Haare. „Es tut mir leid, dass du dermassen leidest deswegen. Wir konnten ja nicht ahnen, dass es so wichtig war für dich… so dass du sogar am nächsten Tag noch traurig bist! Aber du kennst doch die Regeln…“ Sie strich mit ihrer Hand sanft über seinen Arm und fuhr mit dem Zeigefinger liebevoll über den grossen, dunklen Leberfleck an seinem Handgelenk. „Das hättest du dir doch ausmalen können! Jetzt sei doch wieder fröhlich und probier wenigstens einen Bissen! Du hast seit gestern Mittag nichts mehr gegessen…“ Dass sie sehr wohl bemerkt hatte, dass das Schälchen mit dem restlichen Chili con Carne weg war, verschwieg sie. Silas hob den Blick und spürte schon wieder die Tränen kommen. Verflixt aber auch!