Silas. Rebecca Vonzun
Silas blickte durchs Autofenster auf die vom Regen nasse Strasse. Das letzte Licht der Dämmerung spiegelte sich nahezu unsichtbar in den grossen Pfützen und wechselte sich ab mit dem kühlen Schein der Strassenlaternen. Jedes Mal, wenn Dad mit einem Rad eine der Pfützen erwischte, spritzte zischend eine Wasserfontäne bis hoch an die Scheibe und hinterliess eine Million kleiner Wassertröpfchen, die durch den Fahrtwind waagrechte Linien ans Fensterglas zeichneten, um dann irgendwo zu verschwinden, wohin Silas ihnen nicht mit den Augen folgen konnte. Eine Träne rollte über seine Wange. Die nasse, kalte Welt verschwamm vor seinen Augen. Silas fühlte sich entsetzlich mutlos. Wo waren sie bloss, seine Freunde? Wie sah es wohl aus, in dieser kalten Welt des Komas? Er stellte es sich schrecklich vor, so alleine im Nichts und in der Dunkelheit.
„…ChickenMcKing auf die Forderung der WHO, den verdächtigten Hamburger ‚DarkChicken‘ unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen nicht reagiert. Nachdem immer mehr Krankheitsfälle auch weltweit dem, wie inzwischen untersucht wurde, im Pouletfleisch des ‚DarkChicken‘ gefundenen Virus, zum Opfer fielen, beträgt die momentane Anzahl der Komapatienten bereits 236 und dies nur in unserer Stadt. Gerichtlich wird nun gegen den Fastfoodkonzern vorgegangen, bisher ohne Erfolg. Die als Kopf der Geschäfts- und Konzernsleitung aufgeführten Personen entpuppten sich ausnahmslos als sogenannte Phantome, sowohl im Netz auftauchende Fotos, wie auch die dazugehörigen Namen sind erfunden und bisher konnte keine existierende Ansprechperson ausfindig gemacht werden. Der Fall scheint immer mehr zu einem aussichtslosen Kampf zu werden, doch wir…“
Silas presste sich die Fäuste auf die Ohren, um die hoffnungslose Stimme des Radiosprechers nicht mehr zu hören.
Böse Mächte
Ja, wo waren sie, Silas‘ Freunde?
Verlassen wir die grossen, lärmigen Menschenstädte mit den vielen Autos und den stinkigen Abgasen, die kleinen Dörfer, die grossen blauen Berge, die riesigen Wiesen, die Nebelhügel und das grüne Moor… treten wir durch die Pforten vom Ende der Welt und lassen wir den Erdboden hinter uns. Schweben wir hoch ins Nirgendwo, lange, lange durch die Dunkelheit… bis wir an den rätselhaften Ort kommen, den magischen kleinen Planeten, schimmernd und funkelnd, von sanftem Licht umgeben, inmitten des Universums.
Moment – schimmernd und funkelnd? Von sanftem Licht umgeben? Nicht dieses Mal. Eine wabernde dunkle Masse umgibt den kleinen Stern. Es sind dicke, schwarze Wolken begleitet von ständigem Blitzen und unheilverkündendem Aufglühen der Wolkenwände. Es scheint fast, als ob es etwas Lebendiges wäre, dieses Dunkle, welches den Planeten verschwinden lässt und die magische Welt darauf regelrecht zu verschlingen scheint.
Doch wir stechen mutig hinein in die pulsierende schwarze Wand, lassen uns nicht abschrecken von Stürmen und Winden, von tosenden Wolkenstrudeln und unheimlichem Grollen. Unendlich lange müssen wir mutig bleiben, denn mehr als einmal will der Sturm uns abbringen von unserem Weg, will die Dunkelheit uns unser Ziel verwehren. Dann plötzlich will die Finsternis uns verschlingen, auffressen und wir müssen stark genug sein, um dem Sog gewaltiger Wirbel zu widerstehen, uns zu entziehen. Und dann endlich, nach verzweifeltem Kampf und am Ende unserer Kräfte, spuckt dieses Unheil uns aus. Hart schlagen wir auf, auf dem Boden, das böse Gewitter nun weit über uns, das Grollen leiser, dem Sog entkommen. Doch immer noch da. Sobald wir den Kopf heben, sehen wir sie, diese allgegenwärtige Gefahr, die alles bedroht und die ganze Magie dieses wunderschönen Ortes überschattet und vergiftet.
Am Horizont zeichnet sich der Wunderwald ab, gigantisch, seltsam, unheimlich und wunderschön. Die riesigen, knorrigen Bäume wirken tröstlich nach dem durchlebten Unheil, die krummen Wurzeln wie ein schutzbietendes Zuhause. Wir wollen flüchten, hinein und unter das schützende Blätterdach, doch als wir näher herangehen, spüren wir sie. Die Veränderung. Das Gift. Die Fäulnis. Die Luft duftet nicht süss und köstlich nach Blumen, Moos und feuchter Erde. Den Duft nach Pilzen, Regen und Sonne erwarten wir vergebens. Fauler, toter Geruch steigt in unsere Nase, lässt uns erschauern. Kälte kriecht in unser Herz und die knorrigen Wurzeln wirken auf einmal mehr wie verkrüppelte, kranke Finger als wie schutzbringender Unterschlupf.
Wir durchqueren den äusseren Teil, gelangen ins Herz des Waldes, in die Nähe des Lebensbaums. Ein unwirkliches Stöhnen und Ächzen, mal lauter, mal leiser, erklingt in der kühlen Nachtluft und ersetzt die sonstige Symphonie des Waldes, die Melodie des Lebens. Wir folgen dem Klang des Leidens bis hoch in die Spitzen des Lebensriesen und begegnen Leere, wo sonst Gewusel, Gezwitscher und Gekrabbel herrscht, Dürre wo sonst pulsierender Neubeginn und junges Grün spriesst.
Wir steigen hoch, wieder dem ständig tosenden Sturm entgegen. Wir verlassen den Wald, schweben über weite Ebenen, silbern aufleuchtend im Aufblitzen des Orkans. Weiter, immer weiter, bis die Finsternis dichter, die Dunkelheit noch schwärzer wird. Es ist, als würden wir uns dem Kern, dem Ursprung des Sturms nähern. Die Kälte nimmt zu, geht durch Mark und Bein und lässt alles erstarren - was nicht erstarrt, wird zur Zeitlupe gezwungen. Und je weiter man geht, desto undurchdringbarer wird die Schwärze, umso todbringender die Eiseskälte.
Das Tosen und der Wind schwellen an und es scheint, als ob nebst den Sturmgeräuschen ein anderes Geräusch in der Luft läge, ein Summen, welches nichts mit den Naturgeräuschen zu tun hat. Wir folgen dem Geräusch, welches, nicht einzuordnen, für zusätzliche Beklemmung sorgt.
Längst wächst nichts mehr unter unseren Füssen, der Boden ist trocken, rissig und felsig. Ab und zu begegnet uns ein dürres Baumgerippe, morsch und ohne Blätter. Lebenszeichen gibt es keine, nur das Summen, das unheimliche Summen, das immer lauter wird und bald sogar den Orkan übertönt. Es strömt nicht nur in unsere Ohren, sondern vibriert im ganzen Körper, wir erbeben, zittern vor Kälte, vor Angst und spüren die Anwesenheit von etwas Gigantischem, Grossem… Trotzdem gehen wir weiter und weiter.
Und plötzlich verschlingt uns die Nacht. Wir sehen zuerst gar nichts mehr… und sind dann auf einmal in bläuliches, künstliches Licht getaucht. Helles Licht. Direkt vor uns ist eine Glasglocke, ähnlich einem grossen, durchsichtigen Deckel, unbeschreiblich gross. Grösser als jedes Fussballstadion, gigantischer als der grösste Dom. Das Summen ist nun ohrenbetäubend. Im Zentrum der Glasglocke steht ein gewaltiger, silberner Kasten. Rundherum stehen unzählige weitere silberne Kästen, jedoch kleiner und nur etwa so hoch wie eine Parkbank, während der grosse Kasten in der Mitte die Grösse eines kleinen Hauses hat. Neben jedem der kleinen Kästen steht eine Art Stab. Die Stäbe glimmen in blauem Leuchten, einige ganz hell, andere etwas schwächer. Und einige sind sogar ganz dunkel.
Wir nähern uns der Glaswand. Suchen einen Eingang. Nirgendwo ist eine Türe oder Ähnliches zu sehen, doch als wir die dicke Scheibe mit der Hand berühren, teilt sich das Glas direkt vor uns und gleitet lautlos auseinander wie ein Vorhang. Die entstandene Pforte lädt uns ein, einzutreten und schliesst sich dann stumm wieder hinter uns.
Hier drin ist es kalt. Wir frösteln. Noch kälter als im Kern des Orkans draussen. Dieser tobt nun scheinbar geräuschlos aussen an der Glaswand und lässt die spärlichen, blätterlosen Baumgerippe erzittern und biegt sie wie Schilfhalme.
Langsam und vorsichtig nähern wir uns dem Mittelpunkt der enormen Halle. Das Summen übertönt hier drin sämtliche anderen Geräusche, wir hören nicht mal mehr unser eigenes Atmen. Es scheint von dem grossen Kasten in der Mitte zu stammen.
Nach einigen Metern kommen wir zum ersten der kleineren Kästen. Jetzt, aus der Nähe, stellen wir fest, dass er ungefähr die Grösse und Form einer Badewanne hat, einfach eckig. Er besteht aus silbernem Stahl und glänzt im Licht des blauen Leuchtstabes hinter ihm. Wir gehen so nahe ran, dass wir in den Kasten hineinblicken können. Drin liegt ein Menschenkind mit geschlossenen Augen, reglos und auf den ersten Blick leblos. Bei genauem Hinsehen sieht man aber, dass sich hinter den geschlossenen Augenlidern irgendwas bewegt. Die Lippen des Kindes sind ganz blau. An den Schläfen sieht man feine, blaue Äderchen. Die Haut sieht fast durchsichtig aus und der kleine Körper wirkt schmal und schwach. Das Kind ist in eine Art Stoff gehüllt, welcher jedoch Arme und Beine