Silas. Rebecca Vonzun
wie kranke Geschwüre. Vorsichtig liess sie sich nieder, bereit sich sofort wieder zu erheben, falls der morsche, dünne Ast unter ihrem Gewicht nachgeben sollte. Und da hörte sie es. Das leise Seufzen. Das fast unhörbare Ächzen des Baumes. Der Baum des Lebens war dabei, zu sterben. Und das bedeutete, der Wald und all seine Bewohner mit ihm. Lavendula erbebte. Der Serin. Sie musste ihn finden!
***
Der kleine Waldserin in seiner Baumhöhle hinter dem Efeuvorhang lag eingerollt in seinen Schwanz in das Daunennest gekuschelt. Seine riesigen grauen Augen waren offen, geschlummert hatte er fast den ganzen Tag über und konnte jetzt beim besten Willen nicht schon wieder schlafen. Zudem grummelte sein Bauch so sonderbar. Die letzten Tage hatte er damit verbracht, sich zuerst von der Aufregung vor seiner Höhle zu erholen, zitternd hatte er danach eine ganze Weile im hintersten Winkel gesessen und kaum gewagt, zu atmen, aus Furcht, eine der schwarzen Schnüffelnasen könnten ihn hören. Dann, nachdem es lange Zeit still geblieben war und er sich langsam wieder zu bewegen getraut hatte, wollte er diese Welt da draussen nochmals in aller Ruhe betrachten. So hatte er seinen Vorhang ein kleines Bisschen auseinander geschoben und mit einem Auge hinaus gespäht, überwältigt von der schieren Grösse der Pflanzen und Bäume, die ihn umgaben. Als es ruhig geblieben war, hatte er das Efeu noch etwas weiter auseinander geschoben und staunend um sich geguckt. Dann hatte er sich blitzschnell wieder in sein Nest zurückgezogen. Rausgehen konnte er auf keinen Fall. Die Schnüffelnasen… sie könnten noch in der Nähe sein. Die restliche Zeit über war er grübelnd in seinem Loch gesessen, etwas ratlos und verwirrt, und hatte sich gefragt, was das alles sollte. Warum war er hier? Was sollte er jetzt machen? WER war er? Von Zeit zu Zeit hatte er einen scheuen Blick durch den Vorhang gewagt. Und dann hatte er sich wieder ins Nest gesetzt, ein bisschen geschlafen und nachgedacht. Und heute Morgen als er erwacht war, hatte auf einmal sein Bauch so sonderbare Geräusche gemacht. Er war erschrocken und schnell wieder eingeschlafen. Zur Sicherheit. Doch beim nächsten Aufwachen war das Grummeln immer noch da gewesen, sogar etwas lauter als zuvor. Deshalb hatte er nochmals eine Runde geschlafen.
Und jetzt war er kein Bisschen müde, sein Bauch tönte mittlerweile ganz laut und zudem verspürte er ein ganz seltsames Gefühl… als ob da irgendwo ein grosses, leeres Loch in ihm wäre, das gefüllt werden musste. Ein Loch im Bauch, das brummte! Vielleicht… vorsichtig schnupperte er an einer Daune und steckte sie sich in den Mund. Bäh, widerlich! Er konnte sie nicht mehr richtig ausspucken, viele kleine Fisselchen klebten an seiner Zunge fest. Der Serin versuchte, die Zunge mit seinen Fingerchen abzuputzen, vergebens. Er versuchte, die Zunge an der Baumrinde abzustreifen. Jetzt klebten zu allem Unglück nicht nur Fisselchen, sondern obendrein auch noch Hölzchen, Dreck und Moos in seinem ganzen Mund. Igittigitt. Er brauchte etwas zum Putzen, ein grosses Blatt vielleicht? Das bedeutete aber… wachsam schob er das Efeu auseinander, linste nach allen Seiten und schob sich, als er nichts hörte und sah, ängstlich ins Freie. Wagte ein paar Schritte. Blieb wieder stehen, um zu lauschen. Sah sich um. Da! Ein Busch mit ganz grossen Blättern… nur einige Meter entfernt. Und er war ganz alleine. Keine Schnüffelnasen, keine Krallenmonster. Da nahm der Serin seinen ganzen Mut zusammen und huschte zum Busch. Gerade wollte er sich eines der besonders grossen Blätter abzupfen, als ihm etwas Rotes ins Auge stach. Links vom Busch war eine Pflanze mit grossen, roten Kugeln dran. Dem Serin stieg ein süsser Duft in die Nase. Er schien von den Kugeln zu kommen. Vorsichtig ging er näher ran, der Duft wurde stärker. So süss… er stupste eine der Kugeln mit dem Finger an. Sofort löste sie sich und fiel zu Boden. Sie platzte auf. Innendrin sah der Serin etwas Saftiges, leuchtend Rotes und der süsse Duft war jetzt so stark, dass er nicht widerstehen konnte. Wieder stupste er mit dem Finger an die Kugel, diesmal aber in ihr Inneres. Roter Saft klebte an seinem Finger. Der Serin schnüffelte daran…und leckte dann mit der Zunge vorsichtig seinen Finger ab. Hmmm…. Vor Genuss schloss er seine Augen. Noch einmal steckte er seinen Finger in die Kugel und leckte daran und dann war es um ihn geschehen. Er steckte das Köpfchen in das saftige Etwas und schlang das süsse Fruchtfleisch der Riesenbeeren in sich hinein. Nach der ersten Beere folgte die zweite, die dritte… und der kleine Waldserin spürte, wie die Leere in seinem Bauch langsam nachliess und das Grummeln immer leiser wurde. Selig schlemmte er eine Frucht nach der anderen und vergass dabei alle Vorsicht. Als sein Bäuchlein so voll war, dass er fast platzte, musste er sich schnell etwas ausruhen, bevor er sich zurück auf den Weg in sein Nest machen konnte. Vollends zufrieden, glücklich über seine Entdeckung und pappsatt strich er nochmals zärtlich mit der Hand über die wunderbaren Früchte und die wertvolle Pflanze und schlief dann todmüde auf der Stelle ein, mitten auf dem Waldboden, umgeben von Moos und Nadeln, von Klee und Wurzeln, laut schnarchend.
***
Zutiefst erschüttert liess sich Lavendula auf ihrem Ast nieder. Was sie da gerade entdeckt hatte, liess sie immer wieder aufs Neue erschaudern, bisher ungekannte Furcht hatte von ihr Besitz genommen. Sie musste den Serin finden. Doch zunächst brauchte sie eine Stärkung. Ein, zwei Mäuse mussten her, damit sie genug Energie dafür hätte, den Rest der Nacht nach dem Serin zu suchen. So schwang sie sich erneut in die Lüfte und liess sich lautlos in Richtung Waldboden gleiten, majestätisch und erhaben wie immer, trotz allem. In der Nähe der untersten Äste liess sie sich nieder, spitzte die Ohren und schärfte den Blick. Vielleicht hatte sie Glück und eine der Mäuse verirrte sich in den mittleren Teil des Waldes, dann müsste sie nicht so weit fliegen um zu jagen und hätte mehr Zeit für die Suche. Höchst achtsam spähte sie nach links und rechts… da! Da lag doch was unter dem Feuerbeerbusch! Heute würde sie sich sogar mit einer toten Maus abfinden, wenn ihr das die nötige Zeit ersparte, um den Serin zu suchen. Geräuschlos schwebte sie einen Ast weiter und noch einen. Da lag tatsächlich etwas im Moos. Nach einer Maus sah es allerdings nicht aus. Zudem beschlich sie auf einmal ein nicht einzuordnendes Gefühl. Noch ein wenig näher tastete sie sich heran, immer noch ohne den geringsten Laut. Das Gefühl wurde stärker. Was da lag, sah blau aus. Schimmernd blau… wie Federn. Ein Vogel? Ginge auch, zur Not. Von dem toten Vogel kam ein merkwürdiger Laut. Ein Schnarchen? Ein schlafender Vogel vielleicht? Jetzt war Lavendula etwas verwirrt. Schliefen Vögel nicht normalerweise in ihren Nestern? Nun – man lernte nie aus… scheinbar konnte selbst sie noch dazulernen! Die mächtige Eule landete auf dem Waldboden. Und da durchzuckte es sie wie einer der Blitze, die sie vorhin in der Krone des Lebensbaums hatte beobachten können: Da lag ein Winzling! Ein blauhaariger, schimmernder kleiner Kerl mit rot verschmiertem Mund lag selig zwischen leeren Schalen von Feuerbeeren auf dem Moos und schlief tief und fest und schnarchte lauthals. Der Serin. Lavendula erzitterte. Sie hatte den Serin gefunden. Behutsam schob sie den Kleinen in ihre Klauen, erhob sich mit einem Flügelschlag und nahm den winzigen Serin mit in ihre Höhle, meterhoch über dem Waldboden, wo sie ihn liebevoll in ihr Nest bettete. Dann schwang sie sich erneut in die Lüfte. Sie hatte auf einmal einen Bärenhunger.
Seltsame Zufälle
Das schrille Klingeln des Weckers riss Silas aus dem Tiefschlaf. Nach seiner Fressparty vor dem Kühlschrank gestern gegen Mitternacht (bei der er fast den ganzen Rest vom Chili con Carne und als Nachtisch einen riesen Eisbecher verdrückt hatte), war er mit zu vollem Bauch erschöpft ins Bett gefallen und nahezu auf der Stelle eingeschlafen. Wilde Träume hatten ihn geplagt, in denen ein Ladewagen gefüllt mit DarkChickens, Dad mit Reisszähnen und Livia, welche über ihn gelacht hatte, eine Rolle gespielt hatten. Sein Schlafanzug war ganz nassgeschwitzt und er fühlte sich keineswegs wach genug, um aufzustehen. Stöhnend drehte er sich zur Wand und schloss die Augen. Kurz darauf klopfte es energisch an die Tür.
„Aufstehen, Sohnemann, das Frühstück steht auf dem Tisch, ich muss dann mal lohoos!“, tönte Dad, kam schwungvoll ins Zimmer, zog ihm die Decke weg und riss die Fensterläden auf. „Na los, du Schlafmütze! Das Bad ist frei!“ Und mit diesen Worten machte er kehrt und trampelte mit seiner Aktenmappe die Holztreppe runter. Wenig später hörte Silas das Geräusch der Haustüre, welche ins Schloss fiel. Kalte Morgenluft strömte durch das geöffnete Fenster ins Zimmer und liess ihn frösteln. Er zog sich die Decke wieder hoch bis über die Ohren und das Kissen über den Kopf.
„Silas! Es ist Viertel nach