Silas. Rebecca Vonzun

Silas - Rebecca Vonzun


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wirr und wild standen die Haare in alle erdenklichen Richtungen und liessen die abstehenden, spitzen Ohren fast verschwinden.

      Der Kleine atmete nun etwas ruhiger und hob schliesslich vorsichtig seinen Kopf. Zwei grosse, graue Augen umgeben von dichten, langen Wimpern, blickten sich neugierig in der Höhle um. Die Stupsnase übersät mit Sommersprossen zuckte… zuckte nochmals… und mit einem lauten HATSCHI! setzte sich das Kerlchen schliesslich auf. Es reckte und streckte sich, blinzelte zwei, drei Mal und wirkte etwas verloren, so ganz alleine in der grossen, finsteren Baumhöhle.

      Dieses einmalige Ereignis mitzuerleben ist für uns eine grosse Ehre. Es kann in hundert Jahren nur ein einziges Mal vorkommen, dass ein Serin ausschlüpft und genau das war es: Die Geburt eines Waldserin. Waldserins sind sehr selten. Sie kommen nur dann, wenn sie gebraucht werden. Doch wozu konnte man einen Serin brauchen? Serins sind kleine Retter. So ist die Geburt eines Serins nicht nur eine Ehre, weil sie so selten vorkommt… sondern auch ein Zeichen der Beunruhigung. Denn wenn ein Serin auftaucht, bedeutet dies, dass etwas nicht stimmt. Und doch bedeutet es gleichzeitig unfassbares Glück… denn nur wenn alles stimmt, das Wetter, die Wärme, die Anzahl der Regenbogen und die Richtung des Windes, kann es einmal in hundert Jahren klappen, dass sich ein Waldserin-Ei bildet. Niemand weiss, wie und woraus diese Eier entstehen. Niemand weiss, woher sie kommen. Ein Serin-Ei ist einfach plötzlich da. Und dieses Ei war – gut verborgen – in der Höhle des Lebensbaums vor sich hingewachsen, immer grösser und schöner geworden, bis heute der grosse Tag gekommen war und der Winzling sich schlussendlich seinen Weg in die Freiheit nach draussen durch die Eierschale erkämpft hatte.

Bild 214397 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

      Der kleine Serin wusste nicht, dass er ein Serin war. Er wusste weder, wer, noch wo er war und er wusste auch nicht, was er jetzt machen sollte. Schliesslich rollte er sich wieder zusammen neben der zerbrochenen Eierschale, machte sich ganz klein und kuschelte sich in sein Nest aus Gras und Federn. Er legte sein Köpfchen auf eine besonders weiche Daune, umschlang sich selbst mit seinem langen Schwanz, schloss die grossen Augen und schlief fast auf der Stelle ein.

      Grosse Aufregung

      Lavendula putzte sich gerade ausführlich mit ihrem krummen, spitzen Schnabel das Gefieder, wie sie es jeden Morgen tat, wenn sie von der Mäusejagd zurückkam und sich bereit dazu machte, den lieben langen Tag über zu schlafen.

      Diese tägliche Reinigung war ihr sehr wichtig… denn Lavendula war nicht nur eine sehr kluge und weise alte Eule, sondern auch eine extrem eitle. Jedes Federchen musste an seinem Platz sein und glänzen. Vorher schloss Lavendula niemals ihre grossen gelben Augen. Zudem führte sie ihr Flug jeden Morgen an der kleinen Lichtung neben dem Bach vorbei, bevor sie sich ihrem Baumloch hoch in den Ästen des Lebensbaumes näherte um zu schlafen Dort legte sie eine kleine Pause ein. Ihr – wie sie meinte – gut gehütetes Geheimnis war ein prächtiger Lavendelbusch hinter der wilden Magnolie, unauffällig mitten im Teppich der violetten Waldveilchen verborgen. An diesem wilden Lavendel rieb sie sich jeden Morgen und wälzte sich sogar darin (natürlich erst, wenn sie sich ganz sicher war, dass sie nicht beobachtet wurde). Dieses Ritual verlieh Lavendula ihren stets frischen Duft nach Lavendel und daher stammte auch ihr Name. Wie schon ihre Ururahnin Glyzinia und ihre Urahnin Magnolia war auch Lavendula dem Zauber der Blütenpracht und deren Duft verfallen – was ihre einzige kleine Schwäche war. Das Geheimnis ihres zauberhaften Lavendelduftes musste um jeden Preis ein solches bleiben… nicht auszudenken, was passierte, wenn die Tiere davon erfahren würden. Jedes Lebewesen hier im Wald hatte riesengrossen Respekt vor Lavendula. Immer schön anzusehen, immer gut duftend und dazu unbeschreiblich klug… die alte Eule wurde bewundert. Zwar war es bei den Mäusen eher Angst als Respekt, aber sogar sie wagten es, wenn sie ein wirklich grosses Problem hatten, sich den Rat von Lavendula zu holen… In der verzweifelten Hoffnung, dass sie gerade erst gefressen und somit keinen Hunger haben würde.

      Lavendula hauste bereits seit mehr als zweihundert Jahren in der alten Höhle im Lebensbaum und kannte den Wunderwald wie ihr Federkleid. Die Jagd spielte sich immer am Rand des Waldes ab, anschliessend kehrte sie satt und müde zurück in den dunkleren, ruhigeren Teil, um zu schlafen. Als Wächterin des Wunderwaldes kannte sie jeden Winkel, jede Pflanze, jede Wurzel, jedes Kraut und jedes Ästchen. Und sie sah alles, wusste alles, hörte und spürte alles was im Wald vor sich ging.

      Lavendula putzte sich also gerade ausführlich mit ihrem krummen, spitzen Schnabel das Gefieder, wie sie es jeden Morgen tat, wenn sie von der Mäusejagd zurückkam, als sie auf einmal innehielt in ihrer Putzerei. Die beim Putzen stets konzentriert und sinnlich geschlossenen Augen öffneten sich ruckartig… erst das linke, dann das rechte. Ein Schauer lief durch ihr Gefieder. Vorsichtig kletterte sie aus der Höhle auf den Ast davor, der sich viele Meter über dem Waldboden befand. Lavendula reckte ihren Kopf in die Luft, schloss die Augen und erneut durchlief sie ein Schauer, angefangen unten bei der kleinsten Kralle bis hoch in das oberste Federchen auf ihrem stolzen Haupt.

      „Endlich…“, dachte sie, „endlich!“ Und könnten Eulen lächeln, hätte sie jetzt gelächelt.

Bild 214398 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

      Lavendula breitete ihre gewaltigen Schwingen aus und erhob sich in die Luft, bald schon erreichte sie den obersten Teil des Baumes. Sie stieg empor bis über die höchsten Zweige, schraubte sich in den Himmel und stiess schliesslich einen markerschütternden Schrei aus – ein Schrei, der alles durchdrang und sämtliche Waldbewohner für einen kurzen Augenblick erstarren liess. Niemand wusste, was genau der Schrei zu bedeuten hatte… doch jeder wusste, dass etwas ganz Besonderes geschehen sein musste. Denn niemals, niemals würde Lavendula ihr Putzritual unterbrechen, wenn nicht etwas wirklich Unglaubliches passiert wäre!

      Das Gepiepse unten auf dem Waldboden verstummte. Das Gezwitscher in den Ästen erstarb. Das Geknister und Geraschel verklang so urplötzlich wie der Eulenschrei erschallt war. Die Erde schien auf einmal stillzustehen. Tiere von nah und fern spitzten ihre Lauscher, verharrten mitten in der Bewegung und wandten ihre Sinne aufmerksam in Richtung des Herzens des Waldes, woher der unheimliche Laut gekommen war. Und dann ging es los, das Getrampel, Gewusel und Gedränge. Aus jedem Winkel des Wunderwaldes tauchten sie auf, die Eichhörnchen, Mäuse, Ratten, Kaninchen, die Vögel schlüpften aus ihren Nestern, Kolonien von Käfern und Ameisen wandten sich in Richtung des Lebensbaums. Sie alle folgten dem Ruf der Eule, es herrschte ein heilloses Durcheinander, eine wilde Aufregung. Gross und klein eilte heran, alle von einem gemeinsamen Ziel geleitet: dem Baum des Lebens. Und da stand er, eine ruhige Insel inmitten des Tumults, liess sich weder beeindrucken vom Lärm, noch von der Menge und dem Gedränge rund um seinen mächtigen Stamm. Stumm reckte er seine Äste ins Firmament und schwieg, als ob alles ganz normal wäre.

      Jäh verstummte der Lärm. Es schien als ob den Waldbewohnern auf einmal bewusst wurde, wo sie sich befanden: im verbotenen, im magischen Teil des Waldes. Die wenigsten unter ihnen hatten diesen Teil schon mal betreten und jene die es bereits hatten, schwiegen. Es war, als ob die Stille auf einmal wie eine Woge über die Tiere hinwegrollte und alles unter sich begrub. Die Magie war schlagartig allgegenwärtig und sogar das kleinste Mäuschen spürte diese plötzliche Veränderung der Atmosphäre. Schnauzhaare erzitterten, die Kleinen versteckten sich hinter den Grossen und da und dort wurde nervös einen Schritt zurück gewichen oder auf der Stelle gescharrt.

      Da teilte sich das Blätterdach. Majestätisch schwebte Lavendula begleitet von einem leisen Rauschen durch die Baumkronen, liess sich von ihren Schwingen nach unten tragen und setzte sich würdevoll auf den dicksten der untersten Äste. Ein Hauch Lavendel hing in der Luft und Lavendula liess ihren stechenden Eulenblick ehrwürdig und ein bisschen hochmütig – aber gütig – über die versammelten Tiere gleiten. Die Mäuse machten sich noch kleiner als sie ohnehin schon waren und versteckten sich hinter den Bibern. Die Kaninchenschwänze zitterten. Doch Lavendula war nicht hier um zu fressen.

      „Wir haben uns hier versammelt“, sprach sie schliesslich mit


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