Silas. Rebecca Vonzun
flüsterte sie, „weil heute ein Serin geboren ist.“
Und sie weiss es nicht...
Ein Raunen ging durch die Versammlung der Waldtiere.
„Ein Serin?“, quietschte aufgeregt die Ratte. „Was in Dreiteufels Namen ist ein Serin??“
„Ein Serin….“, wiederholte andächtig der alte Biber und kratzte sich mühsam mit seiner Hinterpfote am linken Ohr. „Das bedeutet…“
Etliche jüngere Tiere blickten ein wenig ratlos die alte Eule an. Die älteren unter ihnen hingegen nickten wissend und staunend. Ehrfurcht war in ihren Augen zu lesen, aber auch Angst.
Lavendula räusperte sich, und erneut kehrte Ruhe ein. Ernst schweifte ihr Eulenblick über die Versammlung.
„Uns widerfährt gerade grosses Glück. Serins sind Weltretter. Ein Serin wird nur dann geboren, wenn irgendwo grosse Gefahr droht.“ Lavendula atmete tief ein. „Unsere Welt ist in Gefahr, Freunde. Ich spüre es schon lange. Auch wenn ich euch leider nicht sagen kann, wo oder was diese Gefahr ist. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was unsere Welt bedroht. Ich weiss es einfach nicht.“ Sie schloss die grossen gelben Augen. Auf einmal lag unaussprechliche Furcht in der Luft. Bestürzung, die kleinen und die grossen, die jungen und die alten Tiere starrten auf ihre Hüterin, wie gelähmt. Lavendula wusste es nicht. Lavendula wusste es nicht! Das war unmöglich… denn Lavendula wusste immer alles. Alles. Wie eiskalte Klauen umfasste eine Heidenangst die Herzen der Tiere. Beschämt und erschüttert über das Grauen in den Augen ihrer Freunde senkte Lavendula den Blick. Sie wusste es einfach nicht. Schliesslich atmete sie tief ein und schwellte die Brust. Würdevoll überblickte sie die Menge. Die Tiere glaubten an sie. Schenkten ihr grenzenloses Vertrauen. „Der kleine Waldserin muss hier ganz in der Nähe sein. Ich spüre es genau. Heissen wir ihn willkommen! Kümmern wir uns um ihn!“, sprach sie feierlich und reckte ihren Schnabel hoch in die Luft, um erneut einen lauten Eulenschrei auszustossen. Dies riss die Tiere aus ihrer Starre. Das Gepiepse, Gezwitscher, Geknister und Geraschel setzte urplötzlich wieder ein, diesmal aber noch um einiges lauter als zuvor. Jetzt galt es, den Serin zu finden!
Was die Tiere nicht wussten, war, dass sich der kleine Serin näher befand als sie alle ahnten. Denn niemand, nicht einmal die alte, weise Lavendula kannte das Geheimnis des Lebensbaums: seine grosse Höhle hinter dem Efeuvorhang und den Buschfarnen. So befand sich der Serin also mitten unter ihnen, nur ein paar Meter entfernt von der grossen Tierversammlung ohne dass es jemand wusste. Lavendula spürte zwar, dass er in der Nähe sein musste, aber wo genau er war, wusste sie nicht. Auf ihrem Ast thronend wies sie nun die Tiere an und leitete ihre Suche. Gross und klein schnüffelte, scharrte und suchte hinter jedem Blatt, unter jeder Wurzel. Die Vögel und Eichhörnchen durchkämmten das Blätterdach, die übrigen Tiere übernahmen das Dickicht am Waldboden. Da und dort durchbrach ein Ruf das emsige Treiben…
„Da… vielleicht…! …. Ah, nein….“
„Aber eventuell ….. dort…! … Ach, doch nichts…“
„Hier…! Hm, nein…“
… doch auch nach stundenlanger, eifriger Suche fand man nichts.
Währenddessen war der kleine Serin natürlich längst erwacht. Niemand, nicht einmal ein frisch geschlüpfter Serin, konnte schlafen, wenn rings um ihn herum solch ein Trubel veranstaltet wurde. Verwirrt und auch etwas verängstigt äugte der Serin – vorsichtig darauf bedacht, sich ja nicht zu zeigen – durch den Efeuvorhang. Was er sah, erschreckte ihn zutiefst. Grosse, schwarze Schnüffelnasen direkt vor seinem Gesicht. Scharfe Krallen, die die Erde aufwühlten und Staub aufwirbelten, der ihm ins Näschen stieg und ihn schon wieder… HAA….TSCHIIII! laut niesen liess. Zum Glück bemerkte dies zu diesem Zeitpunkt niemand, viel zu laut war es draussen vor der Höhle.
Schnell schloss das Kerlchen den Efeuvorhang und zog sich wieder in sein Federnest zurück.
***
Hoch oben im obersten Geäst des Lebensbaums, noch über den Blüten, Früchten, Vögeln und Schmetterlingen – dort, wo nur noch ganz feine Ästchen mit federleichten Blättchen wuchsen, war es eisig kalt. Die hellgrünen Knospen waren abgestorben und grau. Die Ästchen abgeknickt oder sonderbar verkrümmt, fast so, als hätten sie Schmerzen. Auf der Rinde wuchsen schwarze, stinkende Pilze und Schimmel überzog das Holz. Und statt wie sonst den blauen Himmel sah man über dem Blätterdach dunkle, finstere Wolken. Der Lebensbaum ächzte verzweifelt, aber unhörbar.
***
Silas
Silas starrte an seine Zimmerdecke. Mit einem lauten Seufzer musterte er nun bestimmt schon zum etwa dreissigsten Mal den im schwachen Licht der Strassenlaternen nur noch schwach erkennbaren birnenförmigen Fleck an der gemusterten Holzdecke, dort, wo früher wohl mal ein Ast aus dem Holz gewachsen sein musste. Wenn er die Augen zusammenkniff, hatte der Fleck ein bisschen die Form von einem Hasen... oder, wenn er den Kopf nach links drehte, von einer Schildkröte.
Das Leben war einfach nicht fair! Das war nun ein für alle Mal eindeutig klar. Eigentlich hatte er das ja schon vorher geahnt... oder eigentlich sogar gewusst. Doch nun... wieder seufzte er. Warum konnte er nicht einfach in einer normalen Familie leben... so wie Jan vielleicht oder Kevin? Obwohl... Jans grosser Bruder war letzten Montag ziemlich gemein zu Jan gewesen, hatte ihm einfach das Pausenbrot weggegessen, währenddem all seine Kumpels laut gelacht hatten. Und das in der grossen Pause, wo doch die ganze Schule rundherum gestanden war und alles haargenau mitbekommen hatte! Sogar die Mädchen aus der Fünften hatten da gestanden und gekichert, als Jason ihm das Pausenbrot mit einem höhnischen Grinsen und einem triumphierenden Blick in alle Richtungen aus den Händen genommen und sich in den Mund gesteckt hatte. Jan hatte ganz merkwürdige Augen bekommen… ein bisschen so, als ob er gleich losheulen würde. Und bei Kevin lief momentan zu Hause auch nicht alles so rund. Silas hatte Kevins Vater mit einer ganz jungen Frau in der Stadt gesehen, als er mit Mom einkaufen gewesen war. Er hatte sie so seltsam festgehalten, so wie die verliebten Leute im Fernsehen das immer taten. Die Frau hatte sogar ein bisschen so ausgesehen, als käme sie aus dem Fernsehen, ein bisschen so wie die Wetterfrau mit den hohen Schuhen. Silas hatte Kevin noch nicht zu fragen getraut, aber wenn er genau überlegte, hatte Kevin in den letzten Tagen schon ein bisschen traurig ausgeschaut. Und als er ihn vorgestern zum Playstation spielen einladen wollte, hatte er keine Lust gehabt... was sonst noch nie vorgekommen war! Silas ballte die Fäuste und nahm sich vor, Kevin morgen zu fragen. Vielleicht brauchte sein Freund jemanden, der ihm zuhörte!
Wenn Silas ehrlich war, war er froh, weder an Jans noch an Kevins Stelle zu sein. Ja, wenn er ganz ehrlich war – und das konnte er ja so alleine in seinem Zimmer gut sein – war er eigentlich ganz dankbar für seine Familie. Aber das war ja genau der Punkt! Schon wieder musste er seufzen. Wieso musste auch alles so unfair sein! Er hatte weder einen älteren, noch einen jüngeren Bruder – oder noch schlimmer... Schwester – die ihn nerven könnten. Und seine Mom und sein Dad kamen auch immer noch gut miteinander aus, auch wenn sie sich manchmal anschrien. Eigentlich wäre also alles gut… aber es war trotzdem so schrecklich ungerecht!
„Silas! Essen ist fertig... kannst du bitte den Tisch decken?“
Silas kniff seine Augen ganz fest zu und drückte sich sein Federkissen auf den Kopf, in der Hoffnung, so nichts mehr hören zu können. Oder vielleicht unsichtbar zu werden. So wie Powerman heute Nachmittag im Fernsehen.
Doch falsch gehofft.
„Silas Sam Winter!! Ich wäre wirklich froh, wenn du mir jetzt schnell helfen könntest! Bitte!“ Die Stimme von Mom hörte sich bereits viel weniger geduldig an als noch vor einer Minute. Und wenn sie ihn so nannte, war das nie ein gutes Zeichen. Silas drehte sich zur Wand und kniff die Augen