Silas. Rebecca Vonzun

Silas - Rebecca Vonzun


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aller Anstrengung nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten und so kullerten sie über seine Wangen und ein lautes Schluchzen entfuhr ihm. Mom breitete ihre Arme aus und, froh, dass ihn jetzt niemand von seinen Freunden beobachten konnte, stürzte er wie als kleiner Junge in ihren Schoss und drückte sein Gesicht in ihre blaue Seidenbluse. Lange sassen sie so da, Silas geschüttelt von trockenen Schluchzern und Mom, die ihm sanft über den Rücken strich. Niemand sagte ein Wort und als Silas nach langem Weinen endlich den Kopf hob und sich mit dem Handrücken über die tropfende Nase wischte, war Mom’s Seidenbluse triefend nass und hatte seltsame feuchte Flecken.

      „Nun erzähl!“, sagte Mom leise und klopfte auf den Stuhl neben sich. Silas schluchzte nochmals auf, wischte sich erneut über das Gesicht und dann erzählte er seiner Mom alles der Reihe nach. Dass alle mitgegangen waren. Dass Livia dabei gewesen war. Dass keiner seiner Freunde so dämliche Regeln hatte zu Hause. Dass alles so ungerecht war und niemand ihn verstand. Und – das Allerschlimmste – dass sich seine Freunde gegen ihn verbündet hatten und sich heute alle zusammen – ohne ihn – bei Cédric prächtig amüsierten. Schon wieder entwischte ihm ein kurzer Schluchzer. Nachdenklich betrachtete ihn Mom, während sie noch immer sanft über seinen Rücken strich.

      „Glaubst du wirklich, die machen sich heute alle zusammen einen freien Tag?“, fragte sie dann. „Findest du das nicht ein bisschen sonderbar?“ Silas zuckte mit den Schultern. Sonderbar oder nicht, jedenfalls war es ziemlich gemein.

      

      „…ist dies bereits der achte Fall in dieser Region und es wird nun abgeklärt, ob die Fastfoodkette ChickenMcKing der Verschulder des Skandals sein könnte.“, unterbrach sie der Radiosprecher. Mom drehte das Radio lauter.

       „Betroffene berichten ausnahmslos, unmittelbar oder zumindest höchstens einige Tage vor den ersten Anzeichen der Symptome dort konsumiert zu haben. Die Untersuchungen sind nun im Gange und wir berichten live, sobald sich etwas Neues ergibt.“

      Mom zwinkerte Silas zu.

      „Na siehst du, sei froh, hast du gestern nicht da gegessen, am Ende kannst du uns noch dankbar sein!“, scherzte sie und wischte ihm die letzte Träne weg. „Ich versteh dich doch so gut. Das Leben mit uns ist nicht immer einfach, wie?“ Wieder zwinkerte sie. Silas hob einen Mundwinkel. „Und was deine Freunde betrifft, finden wir schon noch raus, wo die heute Morgen gesteckt hatten. Bestimmt gibt es eine ganz harmlose Erklärung!“ Mit diesen Worten erhob sie sich und griff zum Telefon um Silas für den Nachmittag in der Schule zu entschuldigen. Silas‘ Laune hob sich ein wenig. Ja, Mom hatte definitiv ein schlechtes Gewissen! Aber sie war in Ordnung. Das musste er doch zugeben.

      ***

      Silas grübelte. Die ganze Sache liess ihm einfach keine Ruhe. Wieder einmal auf seinem Bett liegend und an die Holzdecke starrend, fragte er sich wieder und wieder, wo seine Freunde waren und was das alles zu bedeuten hatte. Er kniff die Augen zusammen. Hase. Drehte den Kopf nach links. Schildkröte. Hase, Schildkröte, Hase, Schildkröte, Hase…. Hier konnte er am besten nachdenken. Er konnte einfach nicht glauben, dass es eine harmlose Erklärung dafür gab, dass sie alle nicht aufgetaucht waren heute Morgen in der Schule. Er seufzte. Griff nach seinem Buch. Schlug es auf. Und legte es wieder weg. Entschied sich dann, King of Dragons einzulegen und zu versuchen, endlich den nächsten Level zu knacken. Was die anderen konnten, konnte er schon lange. Vielleicht stibitzte er sich später eine Packung Chips aus der Küche. Oder er fragte Mom. Heute würde sie ihm dies wahrscheinlich sogar erlauben. Silas schaltete den PC ein und loggte sich ein. Wie immer erschien auf der Startseite das Fenster mit den Tagesnews. Lebensmittelskandal stand da. Die Worte ChickenMcKing und DarkChicken stachen Silas ins Auge und zwangen ihn, die Schlagzeile genauer unter die Lupe zu nehmen. Langsam scrollte er sich durch den Text.

      

       LEBENSMITTELSKANDAL SCHOCKT DIE WELT – CHICKENMcKING AM PRANGER

      

       Wie gerade bekannt gegeben wurde, muss der vermutete Zusammengang des aktuellen Lebensmittelskandals mit der Fastfoodkette ‚ChickenMcKing‘ nun bestätigt werden. Traurige Gewissheit ist, dass sämtliche betroffenen Fälle im Vorfeld in einer der stadtweit verbreiteten Filialen konsumiert haben und kurz darauf die ersten Symptome eingetreten waren. Dies wurde von Angehörigen bezeugt. Auffallend ist zudem die Übereinstimmung im Menuplan der Betroffenen: Scheinbar hat jedes der inzwischen sechzehn Opfer unter anderem den neu auf dem Markt erschienenen sogenannten ‚DarkChicken‘ bestellt. Nur ein sonderbarer Zufall oder steckt da mehr dahinter?

      

       Was zunächst wie eine harmlose Grippe beginnt, endet dramatisch: Nach der Verlegung der Betroffenen in die Intensivstation und danach folgendem komatösem Zustand, ist das Befinden sämtlicher Opfer äusserst kritisch und ein tragisches Ende kann zum jetzigen Zeitpunkt weder ausgeschlossen noch bestätigt werden. Unter den Leidtragenden sind unter anderem fünf Jugendliche und acht Kinder.

      

       Atemnot, starker Durchfall, Erbrechen und ein stechender, migräneartiger Kopfschmerz sind die ersten Alarmzeichen. Wenn Sie kürzlich einen ‚DarkChicken‘ verzehrt haben und unter einem oder mehreren der oben genannten Symptomen leiden sollten, suchen Sie bitte unverzüglich einen Arzt auf! Über die weitere Entwicklung halten wir Sie auf dem Laufenden.

      

      Silas schluckte leer. Das tönte ja doch viel ernster als zunächst angenommen! Vielleicht war es doch besser gewesen, gestern nicht dort zu essen, zumal er doch noch mit dem Gedanken gespielt hatte, diesen verlockenden DarkChicken auszuprobieren. Koma… das klang gar nicht gut. Was das wortwörtlich war, wusste er nicht so genau, doch er wusste, dass man daran sterben konnte. Hatte ja auch so im Artikel gestanden. Und Lars‘ Oma war auch im Koma gewesen bevor sie gestorben war. Plötzlich durchfuhr es ihn siedend heiss. Schnell scrollte er nochmals nach oben. Acht Kinder stand da. Acht! Hastig zählte er an den Fingern ab… Jonas, Kevin, Jan, Cédric, Lars, Marc… und Svenja und Livia. Das machte… genau acht! Und sie hatten alle vom DarkChicken gesprochen, als sie gestern losgegangen waren! Himmel, könnte es wirklich sein….? Oder war das alles nur ein dummer Zufall?

      Horrornachricht

      Jetzt war es traurige Gewissheit. Nachdem Silas aufgeregt in die Küche gestürmt war und seiner Mom von dem schrecklichen Verdacht erzählt hatte, hatte diese, nachdem ihr schon ein beruhigendes „Aber…“ auf den Lippen gelegen hatte, auf einmal gestutzt und ihn nachdenklich angeschaut.

      „So abwegig ist das gar nicht, Silas! Obwohl… manchmal hinter solchen Geschichten nicht viel Wahres steckt…“, hatte sie versucht, das Ganze dann doch etwas abzumildern. Wahrscheinlich hatte sie Silas‘ wilden Blick und die weit aufgerissenen Augen ihres Sohnes bemerkt.

      „Dennoch…“, hatte sie dann gemurmelt und etwas besorgter gewirkt als es Silas lieb war. Und dann hatte sie auf einmal zum Hörer gegriffen und erneut die Nummer der Schule gewählt. Silas hatte gebannt neben ihr gestanden und seine Daumen verzweifelt umklammert, so dass seine Knöchel ganz weiss hervorgetreten waren. Er hatte gespannt gelauscht, wie Mom sich durchgefragt und sich, wohl nach mehreren ausweichenden Antworten, ziemlich energisch erkundigt hatte, was mit den Klassenkameraden ihres Sohnes los sei. Schliesslich mache sie sich Sorgen. Und da Silas heute auch so merkwürdige Kopfschmerzen gehabt habe… Dies musste schlussendlich gewirkt haben. Jedenfalls hatte am anderen Ende kurze Stille geherrscht und dann hatte Silas leises Papierrascheln gehört. Und schliesslich wieder die Stimme der Sekretärin, die Mom nun ziemlich detailliert Auskunft zu geben schien. Jedenfalls hatte sie mehrmals genickt und hatte Dinge gemurmelt wie „Aha“ oder „Um Himmels Willen“ oder „Mhm“. Dann hatte sie aufgelegt und sich langsam zu Silas umgedreht.

      „Setzen wir uns ins Wohnzimmer“,


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