Zuckerschnecken. Doris Nox

Zuckerschnecken - Doris Nox


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ohne vorher die alte, zerfetzte Plastiktüte aus dem Auto an mich genommen zu haben.

      Ich schaue mich um.

      Auf dem Marktplatz gibt es zahlreiche einladende Cafés und Restaurants. Aber ich habe weder Hunger noch Durst.

      Ich straffe meine Schultern und marschiere nach Norden.

      So schnell wie möglich schlage ich mich in eine Seitenstraße und erreiche ein großes Gebäude, vor dem zahlreiche junge Menschen stehen.

      Sie beachten mich nicht.

      Ein lauter Gong ertönt und wie ferngesteuerte Roboter strömen alle in das Gebäude.

      Ich bemühe mich, ihnen betont lässig und besonders unauffällig zu folgen. Ein lockerer Gang ist für mich noch immer eine große Herausforderung und es ist mehr ein Schleichen als ein Gehen. Ich bin froh, dass sich der Fahrstuhl ganz in der Nähe des Eingangs befindet. Ich fahre bis ganz nach oben und steuere die nächste Toilette an.

      Dort reiße ich mir die grässliche Mütze vom Kopf und ziehe meine Klamotten wieder an.

      Ich schaue zufrieden in den Spiegel.

      Dann höre ich Schritte auf dem Flur und husche so schnell ich kann wieder hinter eine Toilettentür.

      Ich bin mucksmäuschenstill und lausche angestrengt, damit mir kein verräterisches Geräusch entgeht.

      Doch niemand kommt herein.

      Niemand stöbert mich auf in meinem Versteck und ich traue mich wieder heraus aus meinem Versteck, zurück auf den Flur.

      Von einem Fenster aus kannte ich meinen verbeulten Kumpel sehen. Er ist umringt von einer Menschentraube. Auch die Polizei scheint sich sehr für das als gestohlen gemeldete Auto mit dem zerlegten Schaukelstuhl im Kofferraum zu interessieren.

      Die Spurensicherung wird nach Fingerabdrücken suchen.

      Ich grinse, denn sie wird nur Fingerabdrücke von Fred finden.

      Nun bin ich hoch motiviert, an meinem Laufstil zu arbeiten.

      Dafür ist dieser lange Flur einfach ideal.

      Immer schneller und sicherer gehe ich den langen Flur auf und ab.

      Bereits nach einem Kilometer und 118 Metern habe ich mein Lauftraining erfolgreich absolviert. Ich habe die höchste Stufe, das Level „TopModel“, erreicht und klopfe mir innerlich auf die Schulter.

      Da es nicht zielführend ist, hier zu bleiben, beschließe ich dieses merkwürdige Gebäude durch einen kleinen Nebenausgang zu verlassen.

      Bald erreiche ich den Bahnhof.

      Dezent stopfe ich meine zerrupfte Plastiktüte in einen überquellenden Müllcontainer.

      Schräg gegenüber entdecke ich ein Schaufenster, das mich neugierig macht und sorgfältig beäuge ich die ausgestellten Perücken. Die Sonne steht so, dass ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe sehe und mein Entschluss steht fest.

      Ich brauche neue Haare und zwar sofort!

      Dieses Puppenhaar passt nicht zu einer Mörderin auf der Flucht!

      Raspelkurze, rote Haare müssen es sein! Ich zögere kurz, weil mir die blaue Variante daneben beinahe noch besser gefällt.

      Kurzentschlossen betrete ich das Geschäft und ehe es sich die Verkäuferin versieht, habe ich die Perücke aus dem Schaufenster geangelt und mir übergestülpt.

      Die Dame bleibt gelassen.

      Das imponiert mir sehr.

      Sie flötet, dass dieser kesse Kurzhaarschnitt meine klassische Kopfform besonders schön zur Geltung bringt.

      Sie mag Recht haben.

      Mir geht es ums Prinzip, denn mein Gestrüpp auf dem Kopf habe ich mir nicht ausgesucht.

      Während ich elektronisch bezahle, gibt mir die Verkäuferin noch den Rat, meine Haare unter der Perücke zu verstecken. Ich nicke, denke aber nicht im Traum daran, ihren dämlichen Rat zu befolgen.

      Helena wird fluchen, wenn sie ihre Kreditkartenabrechnung sieht.

      Ach – es ist herrlich, sie auf die Palme zu bringen.

      In dem kleinen Park, der an den Bahnhof angrenzt, finde ich eine alte, bemooste Holzbank. Meine Energie ist aufgebraucht und ich setze mich auf das morsche Holz und warte.

      Ich weiß nicht, worauf ich warte und wieso ich hier bin.

      Irgendetwas in mir ist völlig durcheinander geraten.

      Die Lautsprecherdurchsagen vom Bahnhof schallen verzerrt herüber und vor dem Bahnhof herrscht emsiges Treiben. Es riecht hier süßlich und das laute Hupen erinnert mich an meine wilde Autofahrt, die leider in dieser grässlichen, schmutzigen Stadt endete. Ein Rotkehlchen ist auf die Sitzfläche der Bank geflattert und hüpft neugierig näher.

      Level 3

      Meine Hand zuckt.

      Sie möchte das Rotkehlchen platt hauen.

      Aber plötzlich löst sich das Chaos in mir auf und ich ziehe ein Fazit:

      Fred ist eliminiert.

      Damit habe ich meinen Auftrag erfolgreich erledigt.

      Bevor ich diesen Auftrag final abspeichere, sollte ich meine Aufzeichnungen darüber noch mal durchgehen.

      Ich finde die Datei sofort und überfliege sie grob:

      „Ich freue mich auf morgen.

      Fred hat zugesagt, mit mir ins Theater zu gehen.

      In letzter Sekunde habe ich noch zwei Karten für „Carmen“ bekommen.

      Sehr gute Plätze.

      Ganz kurzfristig und gar nicht so teuer.

      Fred sagte, er freue sich auf morgen.

      Nicht so sehr auf „Carmen“, sondern eigentlich nur auf mich.

      Er scheint wenigstens ehrlich zu sein.

      Keck bestellte ich mir hochhackige Schuhe, kesse Wäsche und ein kurvenreiches, enges Kleid.

      In Rot.

      Wir kennen uns noch nicht lange.

      Zuerst versuchte er, zu verheimlichen, dass er verheiratet ist.

      Es war süß, wie er versuchte, mir vorzumachen, er sei ungebunden und frei. Natürlich nicht für jede, sondern nur für mich.

      Seine langweilige Frau interessiert mich nicht.

      Ich scheine die perfekte Abwechslung zu sein und sein Wunsch, mich zu treffen, wächst von Tag zu Tag.

      Das Schicksal hat uns zueinander geführt und niemand wird uns jemals wieder trennen.

      Fred fiel mir damals sofort auf.

      Er stand mit seinem glänzenden, grauen Anzug in der Abendsonne und untersuchte den Inhalt des Bücherschrankes, den ich von meinem Fenster aus sehen kann. Ich beobachte oft, wie Menschen Bücher hineinstellen und kurze Zeit später andere Menschen interessiert Bücher begutachten, darin herumblättern und ihre Beute dann schnell einstecken.

      Freds türkisfarbene Krawatte flatterte sanft im Wind. Er schien es nicht eilig zu haben und wurde tatsächlich fündig. Er nahm jedoch keines der Bücher mit. Nach sorgfältiger Prüfung stellte er sie wieder, ganz behutsam, mit seinen sanften Händen zurück zwischen all die anderen zerfledderten Werke.

      Am übernächsten Abend schlich er wieder um den Bücherschrank.

      Er blickte erschrocken auf, als ich ihn ansprach.

      Ganz so, als fühle er sich ertappt.

      Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich sagte.

      Doch sein fröhliches Lachen an diesem


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