Parkinson. Elisa Rudolf

Parkinson - Elisa Rudolf


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viel zu wenig. Er konnte essen, was er wollte, er nahm einfach nicht zu. Es gibt einige Männer, denen steht graues Haupthaar sehr gut, Dieter war einer von ihnen. Er trug sie als Zopf zusammengebunden, das unterstrich seine markanten Gesichtszüge. Er war auch der ideale Anzugstyp. Bei einem Opernbesuch mit meinen Verwandten und Freunden meinte eine Freundin, wenn sie es nicht besser wüsste würde sie denken, er wäre der Dirigent.

      Klar, dass ich für ihn da war. Ich war ja der fürsorgliche Typ, der schlecht „nein“ sagen konnte und sich für andere aufopferte. Doch schon bald hatte ich das Gefühl, die Last der Welt auf meinen Schultern zu tragen. Ich bin nicht Jesus, der unsere Sünden auf sich genommen hat, um die Menschheit zu retten. Wir sehen ja, was dabei rausgekommen ist.

      Religion ist ein brisantes Thema. „Berlin ist die Hauptstadt der Heiden, hier könnte ich nicht leben“ äußerte sich unsere Tante Ambrosia, als sie einmal bei uns zu Besuch gewesen war. In jungen Jahren hatte sie mal einige Zeit in einem Kloster verbracht, kehrte dann aber den Klostermauern den Rücken, um dem Weltlichen zu dienen. Sie war ein lebenslustiger Mensch, lachte viel und gerne, und hatte stets einen Scherz auf den Lippen. Ihr ganzes Wesen passte überhaupt nicht in die Kategorie Ordensschwester. Wir Kinder haben sie buchstäblich vergöttert.

      Ich bin nicht grade eine „Vorzeig- Katholikin“, aber so ganz ungläubig bin ich auch nicht. Eine höhere Macht passt durchaus in mein Weltbild. Ich würde mich als spirituell bezeichnen, hm, das ist irgendwie auch so ein Modewort geworden. Was Diskussionen zu religiösen Themen angingen, da hielt ich mich gerne an meinen Lieblingsslogan „Leben und Leben lassen“, es hätte uns schon so manchen Ärger erspart, wenn alle so denken würden. Früher war ein Kirchenaustritt umsonst, heute kostet er 30 Euro. Vielleicht liegt es daran, dass immer mehr Leute austreten, und die Kirche langsam verarmt? Mein Vater erzählte immer gerne die kleine Anekdote, wo ich als dreijährige eine Münze in den Klingelkorb werfen durfte. „So, jetzt haben wir bezahlt, dann können wir ja gehen,“ verkündete ich. Mein Vater fand das lustig, meiner Mutter war es peinlich. Neulich bei meinen Verwandten hörte ich, dass in einem Gottesdienst in der Kollekte Geld für neue Messgewänder gesammelt wurde. Wie bitte? War es schon so weit gekommen, dass sich die Kirche ihre Klamotten nicht mehr leisten konnte? Sind die noch bei Trost? Da kaufe ich mir lieber selbst was Schönes, da habe ich mehr davon.

      Gesagt, getan. Ich verbrachte circa drei Stunden im Einkaufscenter und fühlte mich danach wie erschlagen. Und so richtig freuen konnte ich mich nicht über mein neues Outfit. Mit meiner Figur war ich ganz zufrieden und mit Kleidergröße 36 war ich gut bedient. Meine Haare hatte meine Friseurin zu einer Bob-Frisur geschnitten, die gab es in verschiedenen Varianten, schulterlang, kinnlang und kurz. Aktuell trug ich die kinnlange Version mit blonden Strähnchen. Dann gab es natürlich noch „Handicaps“, die mir nicht so gefallen wollten, zum Beispiel meine Nase, die war mir zu kurz, oder mein Mund, der war zu schmal.

      „Du spinnst ja,“ meinte Dieter. „Deine Nase und dein Mund sind völlig normal“. Ich verdrehte die Augen. Dieses Thema sollte man wohl besser mit einer Freundin besprechen. Aber eine Schönheitsoperation kam für mich nicht infrage, also musste ich damit leben. Und solange ich nicht wie Quasimodo herumlief, war alles okay.

      Für Dieter hatte ich ausnahmsweise mal nichts gekauft. Es war mir alles zu viel geworden mit den vielen Menschen, die um mich herumwuselten. Martha war gerade in der Nähe, sie kam auf einen Kaffee bei uns vorbei. Ich zeigte ihr meine neuesten ‚Errungenschaften‘. Sie bemerkte, dass ich ja nur graue und schwarze Sachen gekauft hatte. Ja, in meiner Welt wurde es zunehmend grauer. Ich musste etwas tun, mir ging es schon seit einigen Monaten nicht gut, was die Psyche anging.

      Ich rief bei meiner Hausärztin an und ließ mir einen Termin geben. Meine Ärztin nahm sich Zeit für mich. Sie war schon an die 60, mit viel Erfahrung. Sie diagnostizierte eine schwere Depression bei mir. Durch den ganzen Stress mit der Krankheit und Jobverlust, hatte sich mein Zustand rapide verschlechtert. Die Ärztin wollte mich in einer Reha Einrichtung unterbringen, aber der Antrag wurde abgelehnt. „Das ist ganz normal“, meinte Martha. „Die lehnen erst mal grundsätzlich ab“. Sie musste es wissen, denn sie war vom Fach. Wir legten Widerspruch ein und harrten der Dinge, die da kommen.

      Die Lage bei mir zu Hause spitzte sich während der Warterei dramatisch zu. Dieter verstand nicht, was mit mir los war, und ich wusste nicht, was ich machen sollte, damit es mir besser ging. In meinem Körper schlugen die Alarmglocken. Mein Magen spielte verrückt, ich hatte mit einer hartnäckigen Blasenentzündung zu kämpfen und wurde von Schwindelanfällen heimgesucht. Hinzu kam eine innere Unruhe, die es mir nicht erlaubte, zu entspannen. Ich wuselte durch die Wohnung, konnte keine fünf Minuten still sitzen und fühlte mich total ausgebrannt und kaputt.

      „Entspann Dich doch mal“, sagte Dieter. „Lehn Dich zurück und trink in Ruhe deinen Kaffee.“

      Aber das war es ja gerade, was ich NICHT konnte. Ich beneidete alle Leute um mich herum, denen es besser ging als mir. Als ich anfing, diffuse Ängste zu entwickeln und meine erste, richtige Panikattacke mein Eigen nennen durfte, flehte ich Dieter an, mich zu einem Notarzt oder in eine Klinik zu bringen. Es war ein Samstag, da war die Praxis meiner Ärztin natürlich geschlossen. Dieter nahm mich in die Arme und meinte, bei ihm sei ich doch besser aufgehoben. Vielleicht hatte er sogar Recht damit, zumindest, was einen Klinikaufenthalt anging. Aber in dem panischen Zustand, in dem ich mich befand, war ich nicht fähig, das zu beurteilen. Es kam mir vor, als würden Dieter und ich in einem ständigen Wettstreit stehen, wer von uns beiden der Kränkere war. „Dann warte doch wenigstens ab bis Montag“, meinte Dieter. Komisch, dass medizinische Notfälle vorzugsweise am Wochenende auftraten. Aber ich konnte trotzdem nicht warten, keine Sekunde hielt ich es länger in unserer Wohnung aus.

      Dabei waren wir erst vor einem Jahr umgezogen. Wir wohnten jetzt dort, wo andere Urlaub machten, im Bezirk Kladow, dem heimlichen „Nobelviertel“. Der Hafen war nur einen Steinwurf weit entfernt, und im Sommer herrschte reger Betrieb und Schiffsverkehr. Eine tolle Gegend.

      Mit unseren Vermietern Isa und Amir waren wir auf gleicher Wellenlänge. Sie wohnten direkt nebenan. Da hatten wir echt Glück gehabt. Normalweise war das ja so eine Sache, mit den Vermietern unter einem Dach oder direkt nebenan zu wohnen., aber hier passte alles. Isa sammelte Hunde, momentan waren es sechzehn an der Zahl, und sie stand da ganz cool drüber, wenn ihr jemand blöd kam. Ihre Hunde holte sie aus Teneriffa hierher und gab ihnen ein neues, besseres Zuhause.

      Isa war eine Frau mit Temperament, den größten Teil ihrer Zeit verbrachte sie mit den Hunden. Mit ihrer schlanken Figur und der langen, kastanienbraunen Haarmähne sah man ihr die Fünfzig überhaupt noch nicht an.

      Amir war eher der ruhige Vertreter, somit ergänzten sich die Beiden ganz gut. Während sie sich den Hunden widmete, sammelte er ausgediente Oldtimer, die ihr letztes Dasein in einer kalten, zugigen Halle im Berliner Umland fristeten.

      Die Kladower „Hautevolee“, oder „Haute Wolaute“, wie es der Berliner sagt, war schon ein Völkchen für sich. Sie besaßen Häuser, Autos und Boote in gehobener Ausstattung, hatten häufig Streitigkeiten mit ihren Nachbarn und waren Fremden gegenüber äußerst misstrauisch, Sie blieben lieber unter sich. Als Neuling hatte man es nicht leicht, wenn man Kontakte knüpfen wollte.

      Aber das stand jetzt nicht zur Debatte. Ich hatte den Boden unter den Füßen verloren. Ich fing an zu heulen, hatte keine Kraft mehr.

      Dieter wurde es wohl doch ein bisschen mulmig. Jedenfalls fand ich mich in unserem Auto auf dem Beifahrersitz wieder, eine gepackte Tasche auf den Knien, man weiß ja nie, wohin die Reise geht.

      Umbruch

      An die Fahrt zur Klinik kann ich mich kaum noch erinnern, ich sehe mich als nächstes in der Notaufnahme der Klinik Royale, einem renommierten Krankenhaus, wärmstens empfohlen von meiner Hausärztin. Ich glaube nicht, dass sie schon mal da war, da wäre ihr Urteil wohl anders ausgefallen.

      In der Notaufnahme wurden wir in das Wartezimmer verwiesen, es war picke-packe voll. „Mein Gott, da sitzen wir ja morgen früh noch hier“ sagte ich mit Panik in der Stimme. Dieter war auch nicht gerade begeistert. Im Endeffekt lungerten wir zehn Stunden dort rum, mittlerweile ging


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