Terapolis. Tom Dekker

Terapolis - Tom Dekker


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Da draußen gibt es zu viele Augen und Ohren.“, brummte er, als er das Tor hinter ihnen zugeschoben und sich den Staub von der Jacke geklopft hatte. Greg beobachtete ihn argwöhnisch, immer darauf bedacht, eine Armlänge Abstand zwischen ihnen beiden zu wahren. Was hatte der alte Nick mit ihm vor?

      Nick kramte umständlich in der Innentasche seines Wollmantels. „Ah, da haben wir es ja.“, sagte er endlich zufrieden, zog ein kleines Päckchen hervor und legte es auf einer Kiste ab. In der Dunkelheit konnte Greg nur die Umrisse erkennen. Nick wühlte noch einmal in den Taschen seines Mantels, dann erklangen Klick- und Schabgeräusche, und kurz darauf erhellte die kleine Flamme eines Taschenfeuerzeugs den Raum.

      „Los, mach schon auf!“, knurrte Nick und deutete mit dem Kinn auf das Päckchen. Greg beugte sich vor und zog gehorsam die Verschnürung ab. Dann legte er das Päckchen zurück auf die Holzkiste und öffnete es vorsichtig. Darin fand er ein Feuerzeug, ein Taschenmesser mit Griffschalen aus schwarzem Holz, eine Schweißerbrille und ein Stück Papier. Greg warf Nick einen fragenden Blick zu. Der Mund des alten Mannes verzog sich zu einem Schmunzeln. „Ich dachte mir, dass du vermutlich halb nackt auf Reisen gehen wolltest, also habe ich etwas Vorsorge getroffen. Ein Feuer in der Nacht hat schon so manchen Wanderer am Leben erhalten. Na, und was man mit einem Messer alles anstellen kann, muss ich einem Straßenjunge wie dir sicher nicht erklären.“ Mit einer herrischen Geste würgte er Gregs Protest ab, bevor dieser überhaupt einsetzen konnte. „Du wirst es brauchen können. Und wenn du aus der City heraus bist, solltest du unter gar keinen Umständen ohne Schutzbrille herumlaufen. Die Sonne dort draußen ist mörderisch, musst du wissen. Die Schutzhüllen, die man um die Cities gelegt hat, können nicht das ganze Land umfassen.“

      Greg schaute Nick verständnislos an. „Der Rauch!“, erklärte Nick mit einer fahrigen Handbewegung. „Er macht irgendetwas mit der Luft. Früher konnte man einfach so in der Sonne herumlaufen, aber seit wir ohne Ende Kohle und Diesel verbrennen und alles in die Atmosphäre blasen, dringt die Sonne unbarmherzig zu uns herab. Für die Cities haben sie Solarpatrocinien errichtet. Die halten die schlimmsten Strahlen ab. Aber wenn du draußen ohne Schutzbrille herumläufst, bist du nach zwei Tagen blind. Und ganz egal, wie heiß dir wird, lass die langen Hosen und die Jacke an. Deine Haut verbrennt schneller, als du dich wieder anziehen kannst.“, setzte er mit energischer Stimme hinzu. „Jetzt aber zum Wichtigsten.“ Nick deutete mit dem Zeigefinger auf das Papier.

      Greg nahm es vorsichtig hoch und versuchte, im Schein des Feuerzeugs zu erkennen, was darauf stand. „Ist das eine Art Passierschein?“, fragte er unsicher.

      „Eine Art Passierschein.“, wiederholte Nick mit sarkastischem Unterton. „Hör sich einer den Jungen an! Das, mein Junge, ist ein Passierschein, der dich von hier bis zur Terapolis und überall sonst hinbringen wird. So einen Passierschein erhalten nur Handelsvertreter. Er gilt für alle Grenzen und sogar für die Außenbezirke der Terapolis.“, dozierte Nick mit erhobenem Zeigefinger. „Ab heute bist du Handelsreisender im Auftrag der Fingrey Dieselmotoren-Fabrik.“

      Greg starrte ihn ungläubig an. „Aber, das ist doch Wahnsinn. Ich bin doch kein Handelsreisender. Das kauft mir doch keiner ab!“

      Nun war es an Nick, verständnislos zu blicken. „Wieso denn nicht? Du kennst dich doch mit Dieselmotoren aus. Sogar ziemlich gut, wenn ich es richtig verstanden habe, oder?“

      „Nun ja. Ich komme ganz gut zurecht.“, druckste Greg herum. Langsam wurde ihm die Sache unheimlich. Wieviel wusste Nick eigentlich von ihm? Und wo hatte er so mal eben einen solchen Passierschein besorgen können? „Meinst du, es ist nicht etwas verwegen, gerade im Auftrag von Fingreys Firma unterwegs zu sein? Man wird mir Fragen stellen!“

      „Und du wirst sie nicht beantworten.“, sagte Nick mit festem Blick. „Du bist schon seit einiger Zeit unterwegs und hast keine Ahnung, was in der Firma direkt vor sich geht. Deine Aufgabe ist es, Dieselmotoren zu verkaufen, und das kannst du richtig gut.“

      Greg dachte darüber nach. Nicks Erklärung klang in seinen Ohren vernünftig, doch ein schaler Beigeschmack und das unbestimmte Gefühl, dass es keinesfalls so einfach werden würde, wie Nick es ihm ausmalte, konnte sie nicht verdrängen.

      „Ach, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen.“, fügte Nick mit einer gespielten Geste des Erschreckens hinzu und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle, an der der Name eingetragen war. „Offiziell heißt du Theodor Gregorich Knox.“

      „Aber...“, setzte Greg zu einer weiteren Frage an.

      „Na, unter deinem alten Namen kannst du ja wohl kaum reisen, oder?“, unterbrach ihn Nick mit einem Zwinkern. „Aber da ihr Jungs ja immer Flausen im Kopf habt, habe ich es so gedreht, dass du deinen Spitznamen sorglos weiter benutzen kannst, Greg Gregorich.“ Nun strahlte er über beide Ohren, wie ein kleiner Junge, der voller Stolz seinen ersten selbst geschnitzten Holzsoldaten präsentiert.

      „Das...ist sehr nett.“ Eine bessere Antwort fiel Greg nicht ein. „Und wie komme ich jetzt in die Terapolis?“, stellte er die Frage, die ihn seit dem Augenblick, an dem die Hochzeitskutsche seinem Leben eine so entscheidende Wendung gegeben hatte, umtrieb.

      „Auch dafür habe ich schon eine Lösung.“, sagte Nick mit selbstgefälligem Ton in der Stimme. „Oder besser, einen Experten, der uns weiterhelfen kann. Komm!“, sagte er und zeigte mit einer einladenden Geste auf das Tor des Lagerschuppens.

      Mit einer Geschmeidigkeit, die Greg einem Mann seines Alters niemals zugetraut hätte, huschte Nick über die Schienen des inzwischen in völliger Dunkelheit liegenden Bahnhofsgeländes. Greg musste sich sputen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Immer wieder stolperte er bei dem vergeblichen Versuch, gleichzeitig zu sehen, wo seine Füße hintraten und wohin sich Nick wandte, über Schienen oder Schwellen. Zielstrebig lief der alte Mann auf ein paar dunkle Schatten zu, die vermutlich Lagerschuppen waren. Er schien sich hier auszukennen, wie in seiner Westentasche. Und nicht nur hier. Einmal mehr wunderte sich Greg über diesen alten Mann, der in seinem zerschlissenen Wollmantel und den abgetragenen Tuchhosen so verloren und harmlos wirkte, sich aber in der ganzen Stadt bestens zurechtzufinden schien und über eine Ausdauer und Orientierungsfähigkeit verfügte, die einem wesentlich jüngeren Mann zur Ehre gereicht hätten. Und dann dieses Drahtgestell in seinem Gesicht! Nicht, dass Greg noch nie eine Prothese gesehen hätte. Es gab unzählige Leute in der City, die ein Holzbein oder eine einfache Armschiene aus Aluminium trugen. Aber eine so fein ziselierte Arbeit, die sich fast organisch an das umgebende Gewebe anpasste, war sehr teuer und äußerst selten. Selbst die Reichen, die sich eine Prothese zulegen mussten, machten meist nicht so ein Aufhebens um das Aussehen. Funktionalität stand im Vordergrund. Das wusste Greg von Josh, der sich nichts sehnlichster wünschte, als sein Holzbein durch eines dieser beweglichen Metallbeine zu ersetzen, die jede Bewegung mitgingen und angeblich so an den Körper angepasst wurden, dass es einem vorkam, als hätte man zwei gesunde Beine. Josh meinte sogar, mit einer richtig gut gearbeiteten Prothese könne man weiter springen und schneller rennen als mit zwei gesunden Beinen. Ob Nick mit seinem künstlichen Auge, das immer so starr zwischen den Metalldrähten lag, auch besser sehen konnte, als er? Greg lief ein Schauer über den Rücken. Er spürte einen heftigen Stoß gegen den großen Zeh des rechten Fußes. Bevor er seine Gedanken wieder auf die nächtliche Realität richten konnte, verlor er bereits das Gleichgewicht und spürte, wie sein Körper nach vorn fiel. Er konnte gerade noch die Arme nach oben reißen, um den Sturz abzufangen. Seine Hand verfing sich in einem Stück Stoff und klammerte sich daran fest. Durch seine Schultern ging ein heftiger Ruck, doch gelang es ihm, den Aufprall wenige Zentimeter vor dem Boden zu stoppen. Wie aus weiter Ferne hörte er das ratzende Geräusch, dass entsteht, wenn Stoff reißt. Dann plumpste er die letzten Fingerbreit nach unten und landete unsanft im Kiesbett.

      Erschrocken öffnete Greg die Hand, die immer noch den Stoff umklammert hielt und rappelte sich mühsam hoch. Die Knie taten ihm weh, aber sonst schien er unverletzt zu sein. Er hörte, wie Nick vor ihm seinen Mantel abklopfte.

      „Tut mir leid wegen des Mantels.“, schluckte Greg.

      „Halb so schlimm.“, brummte Nick. „Er war ohnehin hinüber. Komm jetzt lieber weiter und träum nicht so viel!“, knurrte der alte Mann im Befehlston.

      Woher


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