Terapolis. Tom Dekker

Terapolis - Tom Dekker


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einmal unverletzt über den Bahnhof der City laufen konnte, wie sollte er dann eine Flucht in eine Stadt überleben, von der er noch nicht einmal wusste, wo sie überhaupt lag?

      Nachdem sie einige weitere Gleise überquert hatten, blieb Nick abrupt vor einem der Lagerhäuser, auf die sie zugesteuert waren, stehen, so dass Greg keine Möglichkeit mehr hatte, selbst zum Stehen zu kommen und ihm stattdessen direkt in den Rücken lief. Nick klopfte in einem komplizierten Rhythmus an eine Tür, die kurz darauf geöffnet wurde. Der alte Bettler packte Greg am Kragen und stieß ihn in das Gebäude, ohne einen Ton zu sagen. Greg stolperte ein paar Schritte vorwärts und hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, dann tauchte plötzlich Kerzenlicht den Raum in ein orangefarben flackerndes Licht.

      Wie Greg bereits vermutet hatte, befanden sie sich in einem Lagerhaus. Überall waren Kisten, Ballen und Säcke gestapelt. Der Lichtkegel der Kerze tauchte nur einen kleinen Teil des Raums in ein fahles Licht. Der Großteil des Lagers blieb in Schatten gehüllt. Schatten, in denen Greg hier und da kleine Bewegungen ausmachen konnte. Offenbar verbargen sich hier mehr Leute als die drei verlotterten Gestalten, die um die Kerze herum saßen.

      „Ah, Nick.“, rief einer der Männer. Soweit Greg das in dem kargen Lichtschein erkennen konnte, trug er abgerissene Kleider und einen Hut mit mächtiger Krempe und zwei Federn auf dem Kopf. „So spät noch unterwegs?.“

      „Notfall.“, bestätigte Nick, ohne die Anwesenden zu begrüßen. „Der Junge hier muss schnell aus der Stadt.“ Dabei deutete er mit dem Daumen auf Greg, der sich Fehl am Platze fühlte und die neugierigen Blicke von bestimmt acht Augenpaaren auf sich spürte.

      „Soso. Muss er das?“, fragte der Mann mit dem großen Hut schelmisch. „Was hat er denn ausgefressen?“

      Hinter Greg erklang ein leises gehässiges Kichern.

      „Also, ich...“ Greg fühlte sich aus irgendeinem Grund verpflichtet, eine Erklärung abzugeben.

      „Erzähl es uns bloß nicht!“, unterbrach ihn der Hutmann mit gebieterischer Stimme. „Alles, was wir wissen, bringt uns bloß in Schwierigkeiten.“, erklärte er dem verwirrt dreinblickenden Jungen. „Jeder hier hat bestimmt genug Dreck am Stecken, um für Jahrzehnte in den Kohlegruben schuften zu müssen.“, fügte der Mann hinzu. Wieder erklang das hämische Kichern, jetzt aus mehreren Kehlen. „Aber ich weiß nicht, was die anderen getan haben, und sie wissen nichts von mir. Ich kenne noch nicht einmal ihre Namen und glaub mir, Junge, das ist auch besser so.“ Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Aber wenn Nick sagt, du musst schnell weg von hier, dann vertrau ich ihm, dass es damit seine Richtigkeit hat.“ Er nickte Nick kurz zu. „Also, wo soll es hingehen?“

      „Der Junge war noch nie außerhalb der City.“, sagte Nick. Greg fiel auf, dass er damit die eigentliche Frage nicht beantwortete, aber vielleicht hatte Nick dafür ja einen Grund.

      „So, er muss also weg, weiß aber nicht, wohin, und hat auch keine Ahnung, wie es da draußen so zugeht?“, fasste ihr Gegenüber Gregs prekäre Lage zusammen.

      Aus den Schatten im Hintergrund erklang ein Pfeifen, dass ein wohlwollender Beobachter durchaus als Anerkennung hätte interpretieren können.

      „Genau.“, bestätigte Nick. „Habt ihr eine Karte für ihn?“ Bei diesen Worten kramte er ein kleines Säckchen hervor, dass er einem kleingewachsenen Mann, der ebenfalls neben der Kerze saß, zuwarf. Er hatte einen krummen Rücken, trug eine abgewetzte Lederjacke und ein Kopftuch nach Art der Piraten, von denen Greg als Kind nicht genug Geschichten hatte hören können, um den Kopf gebunden. Darunter lugten lange lockige Haare hervor. Der kleine Mann nestelte den Beutel auf und steckte seine Nase hinein. „Guter Stoff.“, meckerte er und nickte mehrmals zufrieden mit dem Kopf.

      „Guter Stoff, gute Karte!“, sagte der Mann mit dem Hut und schnippte mit den Fingern. Aus dem Hintergrund erschien nach einem kurzen aufgeregten Tuscheln eine Frau in einem weiten bunten Wollkleid. Sie reichte dem Hutträger einen Fetzen mehrfach gefalteten Papiers und zog sich schnell wieder in die Schatten zurück. „Hier, Nick. Eine der besten Karten, die wir haben.“, sagte er in gönnerhaftem Ton.

      Nick winkte Greg zu sich heran. Auch er vermied es also, Namen zu nennen. Greg trat vorsichtig näher und schaute ihm über die Schulter. „Sieh genau her!“, schärfte ihm Nick ein. „Die großen roten Punkte sind Cities. Wir sind hier!“ Er deutete auf einen Punkt, neben dem das Kürzel 95B457 stand. „Du musst die Karte so halten, dass du die Zahlen und Buchstaben lesen kannst, dann ist Norden immer oben.“, erklärte er. Greg war plötzlich froh, dass er im Heim damals, vor seiner Flucht, gezwungen worden war, lesen und schreiben zu lernen. Wer hätte jemals gedacht, dass es für ihn einmal überlebensnotwendig werden konnte, die verschnörkelten Zeichen richtig deuten zu können. „Das hier,“, Nick deutete auf einen dicken blauen Punkt in der Mitte der Karte, „ist die Terapolis. An der orientieren sich alle Entfernungsangaben. Soweit alles klar?“

      Greg nickte. „Was stellen die Striche dar?“, fragte er, nachdem er einen weiteren ausführlichen Blick auf die Karte geworfen hatte.

      „Die schwarzen sind Eisenbahnlinien, die roten Straßen und Wege, die blauen Flüsse. Alles ganz logisch aufgebaut.“, erläuterte der Mann mit dem Hut selbstgefällig. „Wie gesagt: Guter Stoff, gute Karte!“, er hieb mit seiner Hand auf die Kiste und die Männer an seiner Seite brüllten vor Lachen. Auch aus den Schatten schlossen sich einige Lacher an.

      „Außerdem sind einige Kolonien eingezeichnet, das sind die kleinen schwarzen Punkte.“, erklärte Nick unbeirrt weiter. „Muss er noch etwas wissen?“, fragte er in die Dunkelheit hinein.

      Wieder war es der Mann mit dem Hut, der das Wort an sich riss. „Das erste Mal unterwegs?“, fragte er nun wieder mit völligem Ernst in der Stimme. „Gut, pass auf! Am schnellsten reist du mit dem Zug. Dieselzüge verkehren zwischen den Cities und verbinden sie mit der Terapolis. Dort willst du aber nicht hin, glaub mir! Zu den Kolonien verkehren Dampfzüge. Meistens sind es Gütertransporte, weniger stark bewacht als die Dieselzüge, dafür aber schmutziger zu bereisen. Bei Dampfloks fährst du lieber vorn im Zug, bei Dieselloks besser hinten. Pferdekutschen und Ochsenkarren kannst du meistens trauen. Sie nehmen gern einen einsamen Wanderer ein paar Meilen weit mit. Wenn du aber Dieselwagen hörst, verlässt du lieber die Straße. Vor allem, wenn du gesucht wirst.“ Bei diesen Worten bedachte er Greg mit einem durchdringenden Blick. „Achte auf die Sonne, die ist mörderisch, und sieh zu, dass du immer genug Wasser und Essen hast! Alles andere lernst du unterwegs.“

      Das plötzlich einsetzende zustimmendes Gemurmel rings herum zeigte Greg, dass die Anwesenden der Meinung waren, diese Informationen würden völlig ausreichen, in der Wildnis zu überleben. Er hatte seine Zweifel, ob es wirklich so einfach sein würde, wagte aber nicht, die Worte des Mannes in Frage zu stellen.

      „Wenn es schnell gehen soll, rate ich dir, einen Zug zu nehmen. In Kürze fahren mehrere Nachtzüge für die vornehmen Reisenden ab. Wenn du einen davon nimmst, hast du morgen früh schon ein gutes Stück zurückgelegt. Nur für den Fall, dass dich jemand suchen sollte.“, zwinkerte der Hutmann Greg zu. Das Kichern in seinem Rücken machte Greg allmählich nervös.

      „Aber, wie soll ich in den Zug hineinkommen? Ich kann mir doch keine Fahrkarte kaufen und der Schaffner würde doch bestimmt stutzig werden, wenn ich in diesem Aufzug einsteige.“ Er zeigte an seiner verdreckten Arbeitskleidung hinunter.

      „Fahrkarte? Einsteigen?“, prustete der kleine Mann, dem Nick das Beutelchen zugeworfen hatte. Ein weiterer Heiterkeitsanfall breitete sich in dem Lagerhaus aus. „Du bist wirklich lustig, Junge!“, keuchte er.

      „Du fährst nicht in dem Zug.“, erklärte der Mann mit dem breitkrempigen Hut. „Du legst dich auf die Radlager. Mit den Händen hältst du dich an den Laschen unterhalb des Unterbodens fest, die Füße verkeilst du in der Aufhängung. Wenn man ein bisschen geübt ist, kann man so recht bequem reisen. Es gibt nur zwei Dinge, auf die du achten musst.“

      Er machte eine kleine Kunstpause, um Greg deutlich zu machen, wie wichtig die folgenden Informationen waren. „Erstens.“ Dabei hob er den Zeigefinger der rechten Hand. „Nicht einschlafen!“

      „Klar.“,


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