Terapolis. Tom Dekker
sich nicht dreht.“
„Clever.“, meinte Greg interessiert. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie die Anlage der City organisiert war, aber jetzt erkannte er plötzlich, dass man dort offenbar einem ähnlichen Prinzip gefolgt war, denn auch zu Hause lagen die großen Fabrikhallen im Osten der City. „Und nachts muss man bei euch keine Angst haben, auf die Straße zu gehen?“ Diese Vorstellung übte eine magische Faszination auf ihn aus.
„Naja. Du solltest schon eine Fackel mitnehmen, wenn du nicht in irgendetwas Unangenehmes treten willst.“, riet ihm Stan schmunzelnd.
„Aber ausgeraubt oder zusammengeschlagen wird hier niemand.“, nahm ihm Mav den Wind aus den Segeln. Er legte Greg einen Arm um die Schultern. „Na komm! Lass uns runtergehen! Wir erklären dir alles, wenn wir da sind. Du scheinst nicht viel über das Leben in einer Kolonie zu wissen.“
„So wie du über die Cities.“, konnte sich Greg einen Konter nicht verkneifen.
„Da hast du recht.“, stimmte Mav nachdenklich zu.
„Los, los! Die Fabriken werden gleich Feierabend machen. Dann gibt es heißes Wasser. Ich brauche dringend eine Dusche.“, drängte Stan nun zur Eile.
In der Tat konnte man vom Hügel aus sehen, wie immer mehr Menschen auf die Straßen traten und sich vor allem aus den beiden Fabriken größere Gruppen in Richtung des zentralen Platzes auf den Weg machten. Mav nahm Gregs fragenden Blick war. Sanft schob er ihn mit seiner Hand nach vorn. „Später.“, versprach er. „Lass uns erstmal unten ankommen.“
IX
„Pater Elia, Pater Elia! Guck mal, was wir mitgebracht haben!“ Nici hopste aufgeregt vor ihnen über den großen Platz auf einen riesigen, hageren Mann zu, der in einer schwarzen Kutte vor einem eigenartigen Gebäude mit einem hohen Turm stand. Ein grauer Bart und nahezu weiße Haare umrahmten sein schwarzes Gesicht wie eine dicke Wollmütze mit Ohrenklappen, so dass Greg unwillkürlich schmunzeln musste. Der Schmerz, der dabei seinen gesamten Körper ergriff, vertrieb das Lächeln aber sogleich wieder aus seinem Gesicht.
„Soso, was habt Ihr denn mitgebracht?“, fragte der bärtige Mann mit sonorer Stimme und betrachtete mit seinen braunen Augen aufmerksam die ankommenden Jugendlichen.
„Das ist Greg!“, berichtete Nici mit so viel Pathos in der Stimme, dass alle Umstehenden merken mussten, welch wichtige Entdeckung sie gemacht hatten. Als die gewünschte Reaktion ausblieb, fügte sie hinzu: „Wir haben ihn auf den Gleisen gefunden. Er war ganz schön zugerichtet, aber jetzt kann er schon wieder laufen.“
„Ja, das sehe ich.“, erwiderte Pater Elia und tätschelte ihr den Kopf. „Und aus welchem Grund war er auf den Schienen unterwegs?“, fragte er interessiert nach.
„Er war nicht unterwegs.“, beeilte sich Nici zu berichten. „Er hat zwischen den Gleisen gelegen.“
Die Worte des Mädchens lösten unter den Umstehenden ein aufgeregtes Getuschel aus.
„Er wurde losgeeist.“, unterbrach Mara den Redeschwall ihrer Schwester. „Hat Glück gehabt, dass wir ihn da rausgeholt haben. Der nächste Zug hätte ihn bestimmt zermatscht, so dass wir nur noch ein Häufchen blutgetränkte Stofffetzen gefunden hätten.“
Bei dem Gedanken daran, was alles hätte passieren können, wurde Greg ganz übel. Seine Beine drohten nachzugeben und es gelang ihm nur mit Mavs Unterstützung, aufrecht stehen zu bleiben.
„Ja, aber zum Glück haben mein Instinkt und unser beherztes Eingreifen ihn vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt.“ Auch Stan versuchte nun, die Aufmerksamkeit auf seine bedeutende Rolle bei Gregs Rettung zu lenken.
„Dein Instinkt?“, fragte Nici fassungslos.
„Aber ja!“ Stan nickte begeistert. „Ich hatte doch vorgeschlagen, dass wir zu der alten Höhle gehen sollten. Und ich hatte vorhergesagt, dass etwas Außergewöhnliches passieren würde.“
„Ähm, du hast gesagt, dass wir mal wieder dorthin gehen sollten.“, gab ihm Mara Recht. „Aber von einer Vorhersage weiß ich nichts.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Stan streitlustig an.
Bevor die Auseinandersetzung eskalieren konnte, ergriff Pater Elia die Initiative. „Und woher kommt Greg, wenn man fragen darf?“ Dabei musterte er Greg mit einem durchdringenden Blick.
„Aus der City!“, platzte es aus Stan heraus. Dabei konnte er ein Kichern nicht unterdrücken.
„Soso. Aus der City.“, wiederholte Pater Elia. „Na, dann kommt mal mit!“ Er setzte sich langsam in Bewegung und lief über den Platz auf ein gegenüberliegendes Gebäude zu, dass wie das Haus mit dem Turm, vor dem die Jugendlichen ihn getroffen hatten, deutlich größer war als all die Reihenhäuser, an denen sie bisher vorbeigekommen waren.
Greg fühlte sich zwischen all den fremden Gesichtern, die ihn neugierig musterten, verloren. Zum ersten Mal seit seinem überstürzten Aufbruch aus der City kam er so weit zur Ruhe, dass er sich der Tragweite seiner Flucht bewusst werden konnte. Er hatte alles hinter sich gelassen, was ihm das Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. All seine Freunde waren in der City geblieben, genau wie seine wenigen Habseligkeiten. Eine Arbeit, mit der er sich versorgen konnte, hatte er nicht mehr. Die Kleider auf der nackten Haut waren buchstäblich das Einzige, was er neben seinem Leben hatte retten können. Und nun stand er hier zwischen all diesen Menschen, die ihn anstarrten, als wäre er einer der neuen mechanischen Apparate aus einer der Erfinderwerkstätten der großen Fabriken. Er spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Tränen drängten hinter seinen Augen nach vorn, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Noch nicht einmal im Waisenhaus hatte er sich jemals so allein gefühlt wie jetzt.
Mav spürte, dass Greg etwas bedrückte. Behutsam legte er ihm den Arm um die Schulter und stützte ihn, während sie Pater Elia, der bereits mehr als die Hälfte des Platzes überquert hatte, folgten. Greg war dankbar für die Hilfe. Der Schmerz in seinem Auge war unerträglich und auch die anderen Blessuren, die er sich bei dem Sturz von dem Waggon zugezogen hatte, taten höllisch weh.
„Los, komm! Ich bin sicher, dass sie auch etwas zu essen für uns haben.“, versuchte Mav es mit einem aufmunternden Spruch.
Die Aussicht auf Essen war wahrlich verlockend, dennoch folgte Greg Mavs Aufforderung nur widerwillig. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Was hatte er mit all diesen Menschen zu schaffen? Warum musste er diesem Mann in seiner albernen Kutte folgen? Wo war er überhaupt? Er musste doch schnellstmöglich die Terapolis erreichen! Ob es Josh, Peanut, Philt und den anderen gut ging? Hoffentlich bekamen sie keine Probleme seinetwegen.
Greg spürte, wie sich viele der Menschen auf dem Platz ihrer kleinen Prozession anschlossen. Vor ihm liefen Nici, Mara und Stan, die versuchten, mit den weit ausladenden Schritten des Paters mitzuhalten. Es hatte Greg bereits viel Kraft gekostet, den Weg von den Bahngleisen bis zur Kolonie zurückzulegen. Jetzt hatte er nicht mehr die nötigen Reserven, um den Abstand nicht noch größer werden zu lassen. Er verließ sich ganz darauf, dass Mav schon wissen würde, wohin der hagere Mann mit dem Vollbart sie führte.
Es war ihm unheimlich, von diesen fremden Menschen verfolgt zu werden. Sie sahen alle so anders aus, verwegen, aber auch bedrohlich. Mit seinen Tuchhosen, der Wolljacke, den ausgetretenen Schuhen und der Schiebermütze, wie sie fast alle Arbeiter in der City trugen, kam er sich hier seltsam fehl am Platze vor. Die Menschen um ihn herum waren zum größten Teil in Leder gekleidet, trugen feste Schnürstiefel und die seltsamsten Kopfbedeckungen, von Zylindern über Kopftücher bis hin zu mit allerlei Zahnrädern und anderen Metallteilen geschmückten Strohhüten. Hier und da lugte ein Holzfällerhemd aus schwerem Stoff unter einer Jacke oder einem Mantel hervor. Viele hatten Nietenarmbänder oder -halsbänder umgelegt, was der Menge ein besonders bedrohliches Aussehen verlieh. Außerdem bemerkte Greg, dass mehrere Leute Arm- oder Beinprothesen trugen, die ähnlich wie Maras technisch auf einem sehr niedrigen Niveau rangierten. Die meisten hatten außerdem Sonnen- oder Schweißerbrillen auf ihren Hüten stecken, kaum jemand trug sie auf den Augen.
Greg stieß Mav vorsichtig mit dem Ellenbogen an: „Keine Brillen?“,